Volkssouveränität

Ausgleichsmandate sind grob verfassungswidrig

Ausgleichsmandate sind grob verfassungswidrig. Der Deutsche Bundestag hat am 14. Dezember 2012 in 1. Lesung das 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz beraten. Mit Ausnahme der Linken sind sich alle Fraktionen darüber einig: Sämtliche Überhangmandate sollen durch Ausgleichsmandate neutralisiert werden.  (Vollausgleich) Doch das kann nicht gelingen: Volksvertreter werden vom Volk gewählt. Bei Ausgleichsmandaten ist das nicht der Fall. Ihre Träger werden erst nach der Wahl obrigkeitlich in das Mandat eingesetzt. Und das verstößt gegen die Grundlagen der Demokratie.

Für Ausgleichsmandate findet man in den Wahlurnen überhaupt keine Stimmzettel, mit denen die Wähler selbst und unmittelbar über den Mandatsausgleich entschieden hätten. Man kann sie dort nicht finden, weil die Überhangmandate erst nach der Wahl erkennbar werden und der Ausgleich deshalb in der Wahl überhaupt nicht möglich ist. Die Wähler sind ja keine Hellseher. Wer nicht vom Volk selbst und unmittelbar gewählt worden ist, kann kein Volksvertreter sein. Mit den Ausgleichsmandaten wird die Demokratie auf dem Kopf gestellt. Denn den Ausgleich erhalten nicht die Wahlsieger, sondern die Wahlverlierer. Mit Volksherrschaft, die in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt werde, hat das nichts zu tun.

Volksvertreter mit Ausgleichsmandat werden nicht in allgemeiner, nicht in unmittelbarer, nicht in freier, nicht in gleicher, auch nicht in geheimer Wahl gewählt, sie werden überhaupt nicht vom Wahlvolk gewählt. In Art. 38 Grundgesetz und in § 1 Bundes-Wahlgesetz heißt es ausdrücklich: „Die Abgeordneten werden (…) gewählt“. Auch das Verfassungsgericht erteilt dem abwegigen Konstrukt eines nicht gewählten Abgeordneten eine klare Absage. In seinem Urteil zur Mandatsnachfolge in Überhangländern v. 26.2.1998, (vgl. BVerfG, Entscheidungen, Bd. 97, S. 317 ff (323)  stellt der Zweite Senat des Gerichts in Karlsruhe fest: „Im demokratisch verfassten Staat des Grundgesetzes können die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen.“

In diesem Zusammenhang weist das Verfassungsgericht auf die früheren Entscheidungen hin, und zwar auf BVerfGE 44, 124 (138, 142); auf 47, 253 (271 f.); und auf 89, 155 (171 f.). Der erkennende Senat fährt danach fort: „Durch Wahl kann ein Abgeordnetensitz nur aufgrund einer – wie auch immer ermittelten – demokratischen Mehrheit  erworben werden. (…)  Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt aber stets, dass die Abgeordneten gewählt werden; eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Hier nimmt das Gericht Bezug auf das berühmt gewordene Grundsatzurteil v. 10.4.1997 (BVerfGE 95, 335 (349).

Noch deutlicher werden die Richter an anderer Stelle (aaO, Bd. 97, S. 326): Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verlange, dass für den Wähler die Wirkungen seiner Stimmabgabe erkennbar seien. Auch hier ein Hinweis auf die Grundsatzentscheidung v. 10.4.1997 (BVerfGE 95, 335 (350)). Wenn nach dem Wahlrecht eine Koppelung stattfinde, indem mit der Wahl einer einzelnen Person die Mitwahl weiterer Persönlichkeiten zwangsläufig verbunden sei, so das Gericht, dann müsse der Wähler dies wenigstens bei seiner Stimmabgabe kennen können (vgl. dazu BVerfGE 3, 45 (50)). „Jede Stimme muss bestimmten oder bestimmbaren Wahlbewerbern zugerechnet werden; dies muss dem Wähler vor der Wahl hinreichend erkennbar sein (vgl. dazu BVerfGE 7, 63 (68, 71).“

Das Fazit ist klar und eindeutig: Der Wähler kann weder vor noch in der Wahl erkennen, welche Wirkungen seine Stimmabgabe auf die Ausgleichsmandate hat. Er weiß nicht und kann auch nicht wissen, wen er bei der Abgabe der Erststimme zum Ausgleich für einen möglicherweise entstandenen Mandatsüberhang mitgewählt hat. Die Träger der Ausgleichsmandate sind für den Wähler bei der Stimmabgabe nicht erkennbar. Sie können deshalb von den Wählern nicht in der Wahl selbst und unmittelbar mitgewählt worden sein. Die direkte Verbindung zwischen Wahlhandlung und den Folgewirkungen der Wahlentscheidung ist nicht herstellbar. Ausgleichsmandate verstoßen daher gegen den Grundsatz der unmittelbaren Wahl.

Es kommt aber noch etwas hinzu: Die Erststimmen-Wahl ist überhaupt nur für die großen Parteien relevant. Die kleineren Parteien erreichen in den Wahlkreisen nur sehr selten den Sieg. Deshalb ist die Erststimme für die FDP ebenso wie für die Grünen nahezu bedeutungslos. Sie kann diese Stimmen an die großen Parteien verleihen oder verschenken und damit bei den Großparteien sogar Überhänge entstehen lassen. Wenn sie ausgeglichen werden, können FDP und Grüne mit ihrer Wahltaktik des Stimmensplittings also für sich Ausgleichsmandate „herausschinden“.

Eine rechtliche Bewertung muss auf den sog. „inversen Erfolgswert“ der Ausgleichsmandate abstellen. Das Gericht in Karlsruhe hat in seiner jüngsten Entscheidung v. 25.7.2012 gesagt, dass es zwischen Stimmen und Mandaten niemals zu einer negativen Korrelation kommen darf.  Stimmen und Mandate müssen sich stets proportional zu einander verhalten: Je mehr Stimmen, um so mehr Mandate und umgekehrt. Auch beim Mandatsausgleich kommt diese Entscheidung überraschend zum Zuge.

Teile der FDP-Wähler verschenken ihre für sie bedeutungslosen Erststimmen vor allem an die CDU, Teile der Wähler von den Grünen vor allem an die SPD. Bei der CDU bzw. CSU, aber auch bei SPD kam es bisher zu Mandatsüberhängen, je nachdem wer aus der Wahl als stärkste Kraft hervorgegangen ist. Die Verliererparteien profitieren davon mit Ausgleichsmandaten, obwohl oder sogar weil die Erststimmen hinter den Zweitstimmen zurückblieben. Ohne Stimmensplitting hätten sie mit mehr Stimmen weniger Mandate erreicht. Und genau das wollte das Verfassungsgericht ohne Wenn und Aber verhindern. – Zum negativen Stimmengewicht beim Mandatsausgleich ist das letzte Wort aus Karlsruhe also noch lange nicht gefallen.

Wenn sich die Bürger nach Art. 41 GG iVm dem WahlprüfG durch ein Wahleinspruch gegen die Bundestagswahl 2013 und das neue Wahlgesetz zur Wehr setzen wollen, dann haben sie „gute Karten“. Außerdem ist der Weg nach Karlsruhe nach einem erfolglosen Wahleinspruch beim Deutschen Bundestag erleichtert worden. Denn die 100 Stützunterschriften, die für eine Klage in Karlsruhe bisher notwendig waren, sind entfallen.

 

Dieser Beitrag wurde unter Wahlrecht veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.