Ausgleichsmandate in Thüringen

Mit der Umittelbarkeit der Wahl unvereinbar

Wer mit zwei Stimmen wählt, holt sich den Teufel ins Haus. Und wer das nicht glaubt, der findet in der Landtagswahl von Thüringen ein lehrreiches Beispiel. Im Landtag von Erfurt gibt es 88 Sitze, in Thüringen aber nur 44 Wahlkreise. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass 44 Landtags­abgeordnete nicht über die Wahlkreise gewählt worden sein können. Von den 44 Wahlkreisen konnten die Kandidaten der CDU 34 für sich gewinnen. Auf die Linken entfielen 9, auf die „Volkspartei“ SPD nur ein Direktmandat. Die Grünen und die AfD gin­gen in allen 44 Wahlkreise als Verlierer vom Platz und erreichten überhaupt kein Direktmandat. Schon hier bricht die wunderschöne Theorie zusammen, die als „personalisierte“ Verhältnis­wahl be­zeichnet wird.

Niemand kann 88 Sitze durch eine vorgeschobene Direktwahl „per­sonali­sie­ren“, wenn es nur 44 Wahlkreise gibt. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und warum soll man um die Erststimmen kämpfen, wenn man genauso gut über die Liste in den Landtag einziehen kann? Es ist ja nicht zu übersehen, dass die Grünen und die AfD gar keinen Wahlkreis für sich gewonnen  haben und bei diesen beiden Parteien überhaupt keine Listenplätze durch die vorgeschobene Direkt­wahl „personalisiert“ wurden. Das duale Wahlsystem ist außerdem schon deshalb keine Ideallösung, weil man beide Stimmen auch gegeneinander richten und zwei konkurrierende Parteien wählen kann.

Außerdem kam Thüringen, was kommen musste. Die CDU erlangte 33 Listenplätze und siegte in 34 Wahlkreisen. Es entstand ein so genanntes „Über­hangmandat“. Und jetzt wird es noch kom­plizierter: Denn ein Überschussmandat ist ja kein konkretes Mandat, und schon gar nicht eines, das einem der Wahlkreissieger in Wahr­heit gar nicht zusteht und deshalb ausgeglichen werden muss. Vielmehr hat der Wahl­leiter allen 44 Wahlkreissiegern mitgeteilt, dass sie ihren Wahlkreis ordnungsgemäß gewon­nen haben und deshalb zu Recht in den Landtag einziehen. Das ist unstreitig.

Der Ausgleich ist größer als der „Überhang“

Trotzdem beharrt das Wahlrecht des Landes darauf, dass die vermeintlichen „Überhangmandate“ nach der Wahl, also wenn die Wahllokale schon geschlossen sind, „ausgeglichen“ werden. Deshalb wurde in Thüringen der Überschuss an Direktmandataen, der bei der CDU anfiel, bei den Listenplätzen einer anderen Partei egalisiert, sonderbarer Weise sogar durch zwei Ausgleichsmandate. Der Aus­gleich ist also doppelt so groß wie der Überhang. In den Landtag ziehen deshalb nicht 88, sondern aus 91 Mandatsträger ein. Das hat der Wahlleiter in seinem endgültigen amtlichen Wahlergebnis so festgestellt.

Aber wieso 91? Findet man denn in ganz Thüringen nie­mand mehr, der das zu hinterfragen wagt? Es gibt 88 Plätze im Landtag, 2 Ausgleichsmandate  und 44 Wahlkreise. Ein Wahlkreissieger, dem sein Mandat nicht zusteht, den gibt es nicht.   Wird nach der Wahl über den Kopf der Wähler hinweg das Wahlergebnis trotzdem „ausgeglichen“, hat das mit einer unmittelbaren Wahl, wie sie das Grundgesetz verlangt, nichts mehr zu tun. Niemand ist befugt, das Wahlergebnis nachträglich zu verbessern oder „auszugleichen“. Denn die Wähler haben das letzte und alles entscheidende Wort. Wenn etwas auszugleichen ist, müssen die Wähler erneut zusammentreten und auch über den Ausgleich abstimmen. Das ist aber nicht geschehen.

Lässt man die Ausgleichsmandate weg und zählt man die Direktmandate mit den (reinen) Listenplätze der Parteien zusammen, dann kommt die CDU auf 34 Direktmandate und die AfD (ohne Ausgleich) auf 10 Listenplätze. Die Linke erreicht (ohne Ausgleich) 27, die SPD 12 und die Grünen 6  entweder in den Wahlkreisen oder über die Listen gewählte Abgeordnete. Und das ergibt nicht 88, son­dern 89 Mandate, eines mehr als der Landtag Plätze hat. Bei der CDU ist das vermeintliche „Überhang­“ nicht entstanden. Denn überzählige Wahlkreise gibt es nicht.

Man kann sich also nicht daran vorbeimogeln, man muss den unzulässigen „Überhang“ bei den anderen Parteien suchen. Zwar gibt es bei der CDU ein rechtmäßiges Direktmandat ohne Listenplatz, aber bei einer anderen Partei gigt es einen zulässigen Listenplatz ohne Direktmandat. Und dabei handelt es sich um den Listenplatz, der bei der CDU fehlt. Doch genau bei diesem Listenplatz fehlt das dazugehörende Dirketmandat, das die CDU errungen hat. – Und damit sind wir endgültig in Teufels Küche geraten.

Bei der Bundestagswahl treibt das duale Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme sogar Blüten, die noch sonderbarer daherkommen. Im Bundestag gibt es 598 Sitze, in den 16 Bundesländern zusammengenommen aber nur 299 Wahlkreise. Durch die vorgeschobene Direktwahl kann daher nur die eine Hälfte aller Plätze im Parlament mit Personen besetzt werden, die vorab in Wahl­kreisen gewählt wurden. Die andere Hälfte kommt alleine über die Listenplätze zum Zuge. Die „personalisierte“ Verhältniswahl bleibt also in Thürigen wie im Bund von vorne herein ein Torso, brüchiges Stückwerk, nichts Halbes und nichts Ganzes.

Über den Ausgleich muss abgestimmt werden

Auch bei der Bundestagswahl 2013 entstanden 4 so genannte „Überhänge“ in vier Bundesländern, alle bei einer Landespartei der CDU. Nach neuem Wahlrecht wurden sie erstmals auch im Bund ausgeglichen. Es entstanden aber nicht 4 Ausgleichsmandate, sondern 29 davon. Der Ausgleich übersteigt den „Überhang“ um mehr als das Sieben­fache. Und zur völligen Überraschung aller erhielt die CDU, die ja als die alleinige Verursacherin der „Über­hänge“ angesehen wird, mit 13 von 29 Ausgleichsmandaten sogar den „Löwenanteil“ an der nach­ge­scho­benen Aufstockung der Mandate. Und für sie gibt es keine Zweitstsimmen gibt, weil über den Ausgleich gar nicht abgestimmt wurde.

Das alles hat mit Rechtslogik nichts zu tun und kann vor allem nichts daran ändern, dass niemand be­fugt ist, das Wahlergebnis nachträg­lich auszugleichen. Ein nachgeschobener Mandatsaus­gleich außerhalb jeder Abstimmung  kann vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben – nirgends, weder im Land noch im Bund.

 

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