Bürgerschaftswahl in Hamburg

Einführung der Polygamie im Wahlrecht?

Der klassische Grundsatz: one man one vote“, pro Kopf eine Stimme, spielte in der Bürgerschaftswahl von Hamburg keine Rolle. Am Sonntag, den 23.2.2020, haben die Bürger der Hansestadt einen neuen Senat gewählt. Die Auszählung aller Stimmen dauerte zwei Tage und hat bei der FDP zu Unstimmig­keiten geführt.

Im Wahlkreis Langenhorn kam es zu einer Vertauschung der Wahlkreis-Stimmen bei der FDP und den Grünen. Daher schien kurz nach der Wahl der unverkürzte Einzug der FDP-Fraktion in die Bür­gerschaft als gesichert. Dem war aber nicht so. Es musste nachgebessert werden. Zählfehler kommen vor, fallen aber selten ins Gewicht. Bei knappen Ergebnissen, wie bei der FDP, ist das anders. Sie mussten korrigiert werden. Das war in Hamburg der Fall. Anders als in Thüringen zog die FDP am Ende nur mit einem Direktmandat die Bürgerschaft ein. Alle mit den Landesstimmen errungenen Mandate fielen unter den Tisch, weil die FDP die Sperrklausel bei den Landesstimmen nicht über­winden konnte.

Die Wahlen zum Hamburger Senat sind außerordentlich kompliziert und zum Teil auch sehr unlo­gisch: Grundsätzlich gibt es zwei Direktwahlen. Damit nicht genug, haben die Wähler insgesamt 10 sog. Erststimmen. Mit fünf Wahlkreisstimmen können sie in 17 Mehr-Personen-Wahlkreisen insge­samt 71 Direktkandidaten wählen. Mit den verbleibenden fünf Landesstimmen wird über weitere 50 Mitglieder des Senats abgestimmt, und zwar ebenfalls mit offenen Landeslisten.

Diese Doppelwahlen mit den Erststimmen sind fakultativ: Man kann also alle 121 Abgeordneten direkt wählen, muss aber nicht. Vielmehr kann man die Wahlkreisstimmen, aber auch die Landes­stimmen den Fraktionen zukommen lassen. Der Hauptunterschied zwischen Wahlkreis- und Landes­stimmen liegt also in der Größe der Wahlgebiete. Im Normalfall gibt es demnach 121 Mitglieder des Senats, die auf zwei grundverschiedenen Wegen in das Parlament einziehen. Diese sog. „Grabenwahl“ ist mit dem Prinzip der gleichen Wahl, wie es in Art 28 GG niedergelegt ist, unvereinbar.

Doppelte Direktwahl

Die 17 Wahlkreise sind außerdem unterschiedlich groß. In den großen Wahlkreisen können fünf Mit­glieder der Bürgerschaft gewählt werden, in den kleineren aber nur drei. Bei der Bundestagswahl darf die Größe der Wahlkreise nicht um mehr als um 25 Prozent voneinander abweichen (§ 3 BWahlG). Diese Grenze wird bei der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft deutlich überschritten. Das verletzt die Chancengleichheit der Wähler, und zwar in mandatsrelevanter Weise. Die Wahlkreisstimmen haben nicht den gleichen Erfolgswert: Ein Teil der Wähler kann bis zu fünf Bewerber auswählen, ein anderer Teil aber nur drei.

Ausschlaggebend für die Sitzverteilung sind die mit den Landesstimmen erreichten Quoten der Frak­tionen. Die Wähler bestimmen bei der Wahl aber die Personen, die in die Bürgerschaft einziehen, und nicht die Anteile der Fraktionen an der Gesamtzahl der Mandate. Ein solches indirekte Wahl wäre mit Art. 28 Grundgesetz unvereinbar. Wer direkt gewählt wurde, zieht in die Bürgerschaft ein. Nun hat die FDP in Hamburg ein sog. „Überhangmandat“ erzielt, weil sie über die Wahlkreisstimmen ein Mandat erworben hat, bei den Landesstimmen aber an der Sperrklausel gescheitert ist. Die Gesamtzahl der Mitglieder der Bürgerschaft erhöht sich dadurch um einen Sitz – und zwar bei den Landesstimmen!

Hinzu kommt ein sog. „Pattvermeidungsmandat“. Die Zahl der Mitglieder wird durch das Direkt­mandat der FDP zu einer geraden Zahl. Statt 121 gibt es 122 Mitglieder des Senats. Um ein mögliches Patt bei den Abstimmungen in der Bürgerschaft zu vermeiden, ordnet der Wahlgesetzgeber an, die Zahl der Mitglieder in der Bürgerschaft nachträglich um ein Mandat zu erhöhen, allerdings ohne dass die Wähler darüber abgestimmt haben, wer von welcher Partei dieses Mandat erhalten soll. Es gibt daran keinen Zweifel: Dem nachgeschobenen „Pattvermeidungsmandat“ fehlt die demokratische Le­gitimation durch unmittelbare Abstimmung: Mandate werden ausgezählt, niemals aber nachträglich einfach aufgestockt.

             Hamburger Bürgerschaftswahl 2020

Partei Mandate/ Wahlkreise Mandate/ Landesliste Summe
SPD 28 26 54
Grüne 20 13 33
CDU 15 0 15
Linke 7 6 13
AfD 0 7 7
FDP 1 0 1
Summe Ist 71 52 123
Summe Soll 71 50 121

Quelle: Landeswahlleiter für Hamburg;

Erststimmen = Wahlkreisstimmen; Zweitstimmen = Landesstimmen.

CDU und FDP wurde im Endergebnis mit den Wahlkreisstimmen gewählt. Das geht aus der voranste­henden Tabelle hervor. Bei den verbleibenden Fraktionen geben die Landesstimmen den Ausschlag. Das Mandat aus dem Sperrklausel-Zugewinn fällt an die SPD und ist in den 26 Sitzen, die sie über die Landesliste erlangt hat, enthalten. Das demokratisch nicht legitimierte „Pattvermeidungsmandat“ er­hielt Olga Fritsche von den Linken, ebenfalls über die Landeslisten. Warum das so sein muss, ist nicht ersichtlich.

Sehr auffällig ist die extrem hohen Differenz zwischen Wahlkreis- und Landesstimmen, und zwar bei der SPD in Höhe von über 190.000 Stimmen und bei der CDU von über 150.000 Stimmen: das sog. Stimmensplitting. Diese Wähler gaben den Kandidaten ihrer Partei zwar die Wahlkreisstimmen, nicht aber die Landesstimmen. Die Wähler haben zweimal fünf Stimmen und können diese nicht nur bei einem Bewerber kumulieren, sondern dürfen auch das Gegenteil davon tun, nämlich nach Belieben über alle Fraktionen verteilen: eine völlige Überfrachtung des Wahlverfahren. Den Grundsatz „one man one vote“ verlässt man nicht ungestraft. Die Entscheidung der Wähler verliert durch das Mehr­stimmen-Wahlrecht seine Eindeutigkeit und Bestimmtheit. – Daher drängt sich ein Vergleich mit der Einführung der Polygamie im Wahlrecht auf.

Die meisten Kandidaten sind den Wählern unbekannt

Das Hamburger Wahlverfahren trägt die Züge einer Kommunalwahl, die mit der Bundestagswahl „verschmolzen“ wurde. In Hamburg geht es um eine doppelte Direktwahl mit zwei grundverschieden Wahlgebieten, und zwar mit 17 Wahlkreisen, die es bei Kommunalwahlen sonst nicht gibt. Hinzu kommen die Landesstimmen. In München gibt es 80 Stadträte. Sie werden in der ganzen Stadt ge­wählt. Wahlkreise gibt es nicht. Die Wähler haben 80 Stimmen. Die Wahlzettel haben die Größe einer aufgeschlagenen Tageszeitung. Vor allem kennen die Wähler nur einen Bruchteil aller 80 Bewerber. Weil eine solche Abstimmung keinen Sinn macht, geben in München die meisten Wähler ihre 80 Stimmen geschlossen an eine Fraktion und die von ihnen aufgestellte Liste ab. Die herrschende Praxis ist also die indirekte Wahl. Art 28 GG schließt die mittelbare Wahl jedoch aus. – Doch die „normative Kraft des Faktischen“ ist viel stärker als das Grundgesetz.

Anders als bei der Kommunalwahl in München kommt in Hamburg eine Wahl aus den Landesstimmen hinzu. Mit den jeweils fünf Wahlkreis-Stimmen und den fünf Landesstimmen kann – wie gesagt – kumuliert und panaschiert werden. Eine Anrechnung der Erst- auf die Zweitstimmen findet nicht statt. Trotzdem ist es zu einem sog. “Überhangmandat“ und einem nachgeschobenen „Pattvermeidungssitz“ gekommen. Statt 121 hat die Hamburger Bürgerschaft 123 Mitglieder. Bei dem nachgeschobenen Mandat zur Pattvermeidung fehlt die demokratische Legitimation durch eine unmittelbare Wahl. Wer das Wahlergebnis nachträglich „verbessert“, der verfälscht es auch.

Sperrklauseln sind der Direktwahl fremd

Weil der Senat im Normalfall 121 Sitze hat, kann man nicht mehr mit Stimmzetteln wählen, sondern braucht dazu Stimmbücher. Man bezeichnet das ganze Konstrukt allge­mein als „stark personalisierte“ Verhältniswahl, d.h. eine verdoppelte Erststimmenwahl. Zweimal wählen macht keinen Sinn: Einmal wählen genügt.

Wie bekannt, steckt der Teufel nicht in den Grundsätzen, sondern in den Details. Denn die Bürger­schaftswahl ist ein eine sog. „Grabenwahl“. Die Wahlkreisstimmen sind von den Landesstimmen wie durch einen tiefen Graben von einander getrennt. Obwohl die Abstimmung mit den Wahlkreis-Stim­men und mit den Landesstimmen beide grundsätzlich als Direktwahl ausgestaltet sind und obwohl es keine Anrechnung der Erst- auf die Zweitstimmen gibt, kennt das Wahlverfahren bei den Landesstim­men trotzdem eine Sperrklausel. In Direktwahlen wird jedoch mit einfacher Mehrheit entschieden. Sperrklauseln sind der Direktwahl fremd.

Die FDP ist mit den Landesstimmen an der Fünfprozent-Hürde gescheitert und hat nur ein Direktman­dat in den Wahlkreisen erlangt. Daher ist sie nur mit einem Mandat im Senat nicht vertreten. Die Zweitstimmen fallen dann den verbleibenden Parlamentsparteien zu. Dadurch wird der Wählerwille in sein Gegenteil verkehrt. Nun hat das Verfassungsgericht dies immer anerkannt, solange der Sperrklau­sel-Zugewinn bei den Mandaten der Parlamentsparteien nicht „außer Kontrolle“ gerät. Die Sperr­klausel ist aus Sicht der höchstrichterlichen Rechtsprechung „nur“ ein „Schönheitsfehler“, mehr nicht. Tatsächlich ist die Verhältniswahl mit Sperrklausel in hohem Maße ungerecht. Sie führt dazu, dass ganze Parteien aus der demokratischen Willensbildung ausgeschlossen werden.

Kritische Schlussbemerkung

Die Hamburger Bürgerschaftswahl ist ein Sammelsurium. Es bietet fast alles, was im Wahlrecht von Bund, Land und Gemein­den vorrätig ist. Dieser undurchsichtige „Mischmasch“ kombiniert auch die Schwächen der grund­verschiedenen Verfahrenselemente. In der Praxis fassen viele Wähler ihre Stimmen ohnehin zusam­men und überlassen die konkrete Personenauswahl den Parteien. Durch das Stimmensplitting verliert die Wahlentscheidung ihre Bestimmtheit. Die These: Je mehr Stimmen, umso gerechter wird die Wahl, ist unhaltbar. Das gilt auch für die Größe der Landeslisten. Das Hauptproblem der Landeslisten: Die Wähler kennen die meisten der gelisteten Kandidaten gar nicht, sollen daraus aber eine konkrete Auswahl treffen. Die unterschiedliche Größe der 17 Wahlkreise verletzt außerdem die Chancengleich­heit der Wähler. Dem nachgeschobenen „Pattvermeidungsmandat“, das 2020 in Hamburg entstanden ist, fehlt die demokratische Legitimation. Wer die Wahl nachträglich verbessert, der verfälscht sie auch.

Kommt es zu einer Koalition aus SPD und Grünen, dann hat dieses Bündnis mit zusammen 87 von 123 Mandaten eine verfassungsändernde Mehrheit. Soll das völlig überfrachtete Hamburger Wahl­recht „entrümpelt“ werden … – SPD und Grüne könnten das wohl bewerkstelligen.

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