Erfolgschancengleichheit und Überhangmandate

Zwei bemerkenswerte Zitate

Sowohl zur Frage der Erfolgschancengleichheit als auch zu den Überhangmandaten nimmt Prof. Ralph Backhaus in ungewohnter Weise Stellung. In seinem Aufsatz: „Die Überhangmandate vor dem Bun­desverfassungsgericht“, FestSchr. F. Friedrich Bohl, Hrsg. Gilbert H. Gornig und Philipp Stompfe, S. 259 ff; zugänglich auch in: Marburg Law Review (ML) 1/2015, 18 ff (20 und 22) führt Backhaus aus:

1.  Marburg Law Review 2015, aaO, Seite 20:

„Zunächst wird in der Judikatur des Zweiten Senats der Begriff der Erfolgschancengleichheit eingeführt. (…) Jeder Wähler müsse – ex ante betrachtet – die gleiche rechtliche Möglichkeit haben, mit seiner Stimme auf das Wahlergebnis Einfluss zu nehmen. (…) insoweit seien dar­um die Entscheidungen des Wahlgesetzgebers nur am Maßstab der Erfolgschancengleichheit zu messen.“

 2.  Marburg Law Review 2015, aaO, Seite 22:

„Überhangmandate sind (…) keine Direktmandate sondern Listenmandate. (…) mit der Zutei­lung der Sitze an die in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerber ist die Mehrheitswahl been­det (…). Überhangmandate entstehen vielmehr erst im Rahmen der Sitzzuteilung nach § 6 Abs 2 BWahlG (…). Darum muss die Zahl der 299 (…) Listenmandate erhöht werden („Unter­schiedszahl“ i.S.v. § 6 Abs. 5, Satz 2 BWahlG); die dabei entstehenden zusätzlichen Mandate können nur aus den Landeslisten der Parteien besetzt werden. Überhangmandate sind darum als Listenmandate dem verhältniswahlrechtlichen Teil der Wahl zuzuordnen.“

Kommentar

1. Die Forderung nach einer Erfolgswert-Gleichheit der Stimmen findet in der höchstrichterli­chen Rechtsprechung keine Stütze. (Vgl. BVerfG v. 10.4.1997,  BVerfGE 95, 335 (353).) Statt dessen spricht das Gericht von Erfolgschancen-Gleichheit. Die Verhältniswahl ist ohne Sperrklausel nicht funktions­fähig. Und mit Sperrklausel ist es unmöglich, dass alle Parteien im Verhältnis der er­zielten Stimmen an der Verteilung der Listenplätze teilnehmen. Die von der Sperrklausel erfassten „Splitterparteien“ nehmen an der Verteilung der Listenplätze überhaupt nicht teil. Der Erfolgswert der Stimmen liegt hier bei Null. Die von den „Splitterparteien“ erlangten Sitze werden auf die privilegierten „Parlamentsparteien“ umgeschichtet. Ihr Anteil an den Sitzen ist daher regelmäßig größer als ihr Anteil an den Stimmen. Es gibt also auch bei der Verhältniswahl mit Sperrklausel eine Schieflage, die allgemein als „bias“ bezeichnet wird.

2. Im Fall von Überhangmandaten erzielen die großen Landesparteien mit den Zweitstimmen weni­ger Listenplätze als Direktmandate mit den Erststimmen. Die Sitze aus der Landesliste blei­ben also hinter den Mandaten aus der Direktwahl des Landes zurück. Für diesen Fall stellt § 6 Abs 4, Satz 2 BWahlG fest: „In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben der Partei (…)“. Daraus folgt, dass die Direktmandate-ohne-die-dazugehörenden-Listenplätze geduldet werden, nicht aber die abgespaltenen Listenplätze-ohne-die-dazu-gehörenden-Di­rektmandate. Diese lösen sich ja nicht in Luft auf, sondern wurden von einer anderen Partei errungen, der es nicht gelang, auch das dazu gehörende Direktmandat zu erobern.

Überhangmandate sind keine unzulässigen Direktmandate, sondern irreguläre Listenplätze. Die Debatte über die Überhangmandate erhält damit eine grundlegend andere Richtung.

 

 

 

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