Grabensystem und Verfassungsfrage

 Der Weg in das Parlament ist für alle gleich

Die Verfassungswidrigkeit steht der Wahl vom 24.9.2017 ins Gesicht geschrieben. Denn der Bundestag hat im Normalfall 598 Mitglieder. Sie gelangen jedoch auf zwei grundverschiedenen Wegen in das Parlament, und das ist mit dem Grundsatz der Wahl unter gleichen Bedingungen, wie er in Art. 38 GG niedergelegt ist, unvereinbar. Über die Erststimmen werden 299 Abgeordnete in Wahlkreisen gewählt, der Rest kommt über die Zweitstimme auf den Landeslisten der Parteien zu einem Sitz in der Volksvertretung. Dieses Verfahren nennt man „Grabensystem“, weil beide Wege in das hohe Haus wie durch einen tiefen Graben von einander getrennt sind.

Der frühere Verfassungsrichter, Ernst Gottfried Mahrenholz, hat be­klagt, das Gericht in Karlsruhe habe das Grabensystem niemals einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen, obwohl es nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung erheblichen Zweifel ausgesetzt sei. Sein Beitrag zu dem Thema ist in der Festschrift für seinen Richterkollegen, Winfried Hassemer, (2010, S. 111 ff), erschienen, und zwar unter der Überschrift: „Bigamie im Wahlrecht? Zweifel am Grabensystem“. Diese Festschrift kam zwei Jahre nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts zum „negativen“ Stimmen­gewicht v. 3.7.2008 (BVerfGE 121, 266) heraus. Es hätte also schon 2008 Gelegenheit gegeben, das Grabensystem auf den Prüfstand zu stellen.

Die Zweitstimme alleine ist nicht verfassungskonform

Es gab aber noch eine zweite Gelegenheit, das System der Grabenwahl höchstrichterlich zu überprüfen, nämlich die Grundsatzentscheidung zur Deckelung der sog. Überhangmandate vom 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316). Verpasst wurde aber auch diese Gelegenheit. Deshalb gilt nach wie das duale Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme, das im gesamten Schrifttum als „personalisierte Verhältniswahl“ bezeichnet wird. Diese Formel klingt hochwissenschaftlich. Tatsächlich wird aber die Personalisierung der Verhältniswahl dadurch eingeengt, dass es regulär 598 Plätze im Parlament gibt, aber nur 299 Wahlkreise zur Verfügung stehen. Die vorhandenen Wahlkreise reichen nicht aus, um auch den auf der anderen Seite des Grabens verbleibenden Rest von mindesten 299 Listenplätzen durch eine gleichzeitige Direktwahl zu personifizieren. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Weil das duale Wahlsystem mit zwei Stimmen zugleich auch aus zwei von einander vollkomen getrennten Teilen besteht, kommt es zu  einer gewaltigen Personalisierungslücke von mindesten 299 Abgeordneten, die nicht unmittelbar gewählt werden, wie es das Grundgesetz verlangt, sondern mittelbar über die Landes­listen der Parteien in das Parlament gelangen. Das verstößt gegen den Grundsatz der gleichen Wahl und lässt schon das in Art. 38 GG verbürgte Prinzip der unmittelbaren Wahl nicht zu. Das Gericht in Karlsruhe hat bereits in seiner Nachrücker-Entscheidung v. 26.2.1998 (BVerfGE 97, 3127) festgehalten: „Die bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Die Zweitstimme ist demnach – für sich alleine ge­nommen – nicht verfassungskonform und muss durch die Erst­stimme personell ergänzt und verfassungsrechtlich legitimiert werden. Der Graben muss also beseitigt, die Zahl der Wahlkreise durch Halbierung verdoppelt werden, um ohne Ausnahme alle 598 Listenplätze durch eine simultane Erststimmen-Wahl in 598 Wahlkreisen zu erreichen und zu personifizieren.

Mindestanforderungen nicht erfüllt

Die Doppelwahl mit zwei Stimmen, die gleichzeititg auch eine Grabenwahl ist, mit Überhang- und Ausgleichsmandaten, mit „negativem“ Stimmengewicht, etc., ist so kompliziert, dass die gewöhnlich anzutreffenden Wähler das Verfahren nicht mehr hinreichend durchschauen. Infratest dimap hat mit einer repräsentativen Umfrage vom April 2013 ans Licht gebracht, dass ungefähr jeder zweite  befragte Wähler die Erst- und die Zweitstimme nicht zutreffend auseinanderhalten kann. Autor der im Internet zugänglichen Studie ist Heiko Gothe („Wählen ohne Wissen“, April 2013).

Selbst der frühere Bundestagspräsident, Norbert Lammert, MdB, hat gegenüber der Presse eingeräumt, „nicht einmal eine Handvoll Abgeordneter ist in der Lage, die Sitzverteilung unfall­frei zu erklären“. (Welt am Sonntag, 2.8.2015.) Das geltende Wahl­recht habe „die Mindestanforderungen an Transparenz“ nicht erfüllt. (Vgl. Cicero 3/2015.) Das allein genügt, um das geltende Wahlrecht zu Fall zu bringen.

Schon in seiner Entscheidung zum „negativen“ Stimmengewicht vom 3. Juli 2008 (BVerfGE 121, 266) hat das Verfassungsgericht in Karlsruhe verlangt, „das für den Wähler nicht mehr nachzuvoll­ziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue und normenklare Grundlage zu stellen“. Diese höchstrichterliche Anordnung muss der Wahlge­setzgeber befolgen, hat es aber nicht getan und ist damit seit neun Jahren im Verzug.

Unter einem unguten Stern

Die Einleitung der Wahlprüfung ist in ein Art. 41 GG verbürgtes Grund­recht. Nach § 2 Abs. 2 WahlPrüfG hat jeder Wahlberechtigte und auch jede Gruppe von Wahlberechtigten das Recht, gegen die Gültigkeit der Wahl Einspruch einzulegen. Er hat in Schriftform zu erfolgen, ist an den Deutschen Bundestag zu richten und muss eine überzeugende Begründung enthalten. Außerdem muss der Einspruch innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab dem Wahltermin beim Deutschen Bun­destag eingehen. Weil die Wahlprüfung der Wahl ein Grundrecht ist hat der Bundeswahlleiter eine Anleitung ins Internet gestellt, wie man das zu machen hat. (https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2017/informationen-waehler/wahlpruefung.html )

Wahl vom 24.9.2017 zum 19. Deutschen Bundestag steht also unter einem Unglück bringenden Stern, sollten sich genügend Wähler mit dem Ziel zusammentun, gemeinsam das geltende Wahlgesetz auf dem Rechtsweg zu Fall zu bringen. Der Einspruch gegen die Wahl muss jedoch vor dem 24. November 2017 beim Deutschen Bundestag (Platz der Republik 1,  11011 Berlin) eingehen.

 

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