GRABENWAHL UND GRUNDGESETZ

Bigamie im Wahlrecht?

Deutschland hat der einzige Parlament weltweit, in dem es geduldet wird, dass es dort zu viele Abgeordnete gibt. Dem will eine Gruppe von Abgeordneten der CDU endlich Einhalt gebieten und schlägt vor, zur sog. „Grabenwahl“ überzugehen. Kurz davor hatten FDP, Linke und Grüne einen ausformulierten Gesetzesentwurf Reform des Wahlrechts in den Bundestag eingebracht. Freilich haben die meisten Bundestagsfraktionen am 22. Wahlgesetz des Bundes mitgewirkt. Sie können nicht darüber hinwegtäuschen, nun eine „Reform von der Reform“ zu verlangen. Den von ihnen lautstark kritisierten Gesetzgebungspfusch haben sie selbst mit auf den Weg gebracht und setzen dem leider immer noch kein Ende.

Das Wahlrecht ist kein „Selbstbedienungsladen“, in dem sich jeder heraussuchen kann, wie er es denn gerne hätte. Maßstab für seine verfassungsrechtliche Tauglichkeit ist das Grundgesetz. Es ist dazu da, beim Wort genommen zu werden. Und in Art. 38 GG heißt es nicht etwa: Die Parteien werden gewählt. Dort heißt es vielmehr: „Die Abgeordneten (…) werden (…) gewählt.“ In seinem We­senskern ist die Wahl zu den Volksvertretungen eine Personen-Auswahlentscheidung. Gleichwohl beherrscht seit 1949 – jedenfalls in weiten Teilen – die Parteienwahl das Wahlgeschehen. Und das ist der Geburtsfehler, mit dem das duale Wahlsystem aus Erst- und Zweitstimme von Anfang an in der Wiege lag.

Das Wahlrecht gleicht einer „ewigen Baustelle“. Im Bund gab es 19 Legislaturperioden, aber 22 Wahlgesetze. Es gibt also mehr Wahlgesetze als Wahlperioden. Deshalb gleicht das Wahlrecht des Bundes einem Wackelpudding mehr als einem Gesetz. Zuletzt haben 24 Abgeordnete der CDU für Aufsehen gesorgt. In einem Brief an den Fraktionsvorsitzenden, Ralph Brinkhaus, MdB, haben sie vorgeschlagen, zur sog. „Grabenwahl“ zu wechseln. Danach sollen 299 Abgeordnete allein mit der Erststimme gewählt werden. Über den verbleibenden Rest von 299 weiteren Abgeordneten würde allein mit der Zweitstimme abgestimmt, und zwar ohne dass es zu einer Anrechnung der Personen- auf die Parteienwahl kommt.

Sind beide Stimmen wie durch einen tiefen Graben von einander getrennt, kann es nicht mehr zu Überhang- bzw. Ausgleichsmandaten kommen. Zu Recht hoben die CDU-Abgeordneten in ihrem Brief an Brinkhaus hervor, durch die „Grabenwahl“ werde die reguläre Größe des Bundestages von 598 Abgeordneten auf jeden Fall eingehalten. Das trifft in der Tat zu, wird aber mit unübersehbaren Nachteilen erkauft. Es gibt kein Recht darauf, wenigstens mit der Zweitstimme gewählt zu werden, wenn es mit der Erststimme nicht klappt. Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Doch wozu braucht man zwei Wahlen? Eine Stimme genügt, um damit eine unzweideutige Entscheidung über die personelle Besetzung des Bundestages herbeizuführen. Und wer nicht gewählt wurde, muss sich damit abfinden.

 Zwei Stimmen sind zwei Wahlen

Der frühere Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz hat sich sehr kritisch zur Grabenwahl ein­gelassen. In einer Festschrift für seinen Richterkollegen Winfried Hassemer (2010, S 111 ff) hat er einen Beitrag veröffentlicht, der den Titel trägt: „Bigamie im Wahlrecht? Zweifel an dem Graben­system“. Mahrenholz führt darin aus, das Verfassungsgericht habe das Grabensystem niemals einer grundlegenden Bewertung unterzogen, obwohl selbst nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung Anlass genug dazu bestanden hätte. Die Ausführungen von Mahrenholz haben Gewicht, auch wenn sie nicht zur herrschenden Meinung zählen.

Noch schwerer wiegt die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts von Schleswig-Holstein (LVerfG v. 30.8.2010, Az. 3/09 und 3/10; Nord-ÖR 19/2010, S. 389 und 410 ff). Das Landeswahlge­setz fußt wie das Bundeswahlrecht auf dem Verfahren der sog.„personalisierten“ Verhältniswahl. Die Verfassungsrichter in Kiel stellten dazu fest: „Als verbundenes und einheitliches Wahlsystem schließt es eine die Grundsätze der Mehrheits- und der Verhältniswahl nebeneinander stellendes Graben­system aus.“ Ausschlaggebend ist der Wortlaut der Verfassung. Er lautet: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden (…) in gleicher Wahl (…) gewählt.“ Genau das ist bei der sogenannten „Grabenwahl“ nicht der Fall. Der Weg in das Parlament ist für alle Abgeordneten gleich. Hier gibt es keine Kompromisse. Wenn man auf zwei grundverschiedenen Wegen in den Bundestag gelangen kann, handelt es sich nicht um eine gleiche Wahl. Folglich kann eine dualistische „Grabenwahl“ vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben!

Die Kritik der FDP ließ nicht lange auf sich warten. Ihr Wortführer, Alexander Graf Lambsdorff, MdB, blieb dabei aber merkwürdig blass und unklar. Er bemängelte lediglich, der Vorstoß aus den Reihen der CDU, dem offenbar auch einige Abgeordneten der SPD zugestimmt haben, sei „zynisch“ und „egoistisch“. In einer ebenso ungehörigen wie deplatzierten Wortwahl griff Graf Lambsdorff Konrad Adenauer an: Er habe sich schon zu seiner Zeit vergeblich für die Grabenwahl stark gemacht. „Aus der Gruft“ brauche man keine Ratschläge. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende, Christian Lindner, MdB, doppelte ebenso kraftlos und unsachlich nach: „Die Union will die Reform des Wahl­rechts nutzen um sich einseitig Vorteile zu verschaffen.“ – Nirgendwo trifft man auf ein verfassungs­rechtlich stichhaltiges Argument.

Wer im Glashaus sitzt…

… soll nicht mit Steinen werfen. Denn die FDP hat zusammen mit den Linken und den Grünen selbst einen Vorschlag zur Reform des Wahlrechts in den Bundestag eingebracht, der hochproblematisch ist. An drei Stellen wollen FDP, Linke und Grüne den Hobel ansetzen und das Wahlrecht novellieren. Erstens: Die Zahl von derzeit 299 Wahlkreisen soll auf 250 herabgesetzt werden. Zweitens: Im Bundestag sollen nicht mehr als 630 Mitglieder Sitz und Stimme haben. Schließlich werden – drittens – die Landeskontingente für die Mandate der einzelnen Bundesländern abgeschafft.

Mit der Herabsetzung der Wahlkreise von 299 auf 250 kann man verfassungsrechtlich keinen Boden gutmachen. Zwar kann die maximale Zahl der Überhänge von 299 auf 250 zurückgeführt werden. Hinzu kämen aber mindestens 250 Ausgleichsmandate, zusammen 500 Sitze mehr als normal. Doch daran will die FDP natürlich möglichst wenig ändern. Denn sie profitiert davon, und zwar massiv. Schon 2017 ging die FDP mit 15 Ausgleichsmandaten aus dem Rennen. Bei den Grünen und die Linken wurden jeweils 10 Zusatzsitze nachgeschoben. Eine Kappungsgrenze bei 630 Parlamentariern hätte 2013 schon bedeutet, dass ein „außerparlamentarischer“ Abgeordneter zwar gewählt worden wäre, aber dem Bundestag fernbleiben muss. – Ein völliges Unding.

Die von der FDP vorgeschlagene Abschaffung der Landeskontingente bei den Mandaten ist gleichfalls ein Irrweg. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein (…) Bundesstaat.“ So steht es in Art. 20 Abs. 1 GG. Im Verhältnis zur gesamten Wohnbevölkerung der föderativ aufgebauten Republik wählt Bremen 5 Abgeordnete, im Saarland sind es 7; Bayern stellt 93 und NRW 128 Mitglieder des Bundestages usw. Das Wahlrecht ist keine politische „Spielwiese“. Würde man die Landeskontingente bei den Mandaten aufheben, wäre die verfassungsrechtlich garantierte Bundesstaatlichkeit am Ende.

2017 kam es noch schlimmer. Wegen der Kappungsgrenze bei 630 Abgeordneten wären 32 nicht ausgleichbare Überhänge entstanden, was nach dem Urteil des BVerfG v 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) auf keinen Fall zulässig ist. Ein Schildbürgerstreich der besonderen Art. FDP-Chef Christian Lindner drohte, man wolle den Gesetzesentwurf auch gegen den Willen der CDU/CSU-Fraktion zur Abstimmung stellen. Ein „Wink mit dem Zaunpfahl“, die Koalition mit der SPD könnte zerbrechen und die Sozialdemokraten als neu hinzutretende Oppositionspartei für den vorliegenden Reformvorschlag stimmen. Doch daraus wurde nichts. Am 17.11.2019 hat der Bundestag den Oppositions-Entwurf von FDP, Linken und Grünen in erster Lesung abgelehnt.

Ein absurder Kuhhandel

Das Thema wäre damit erledigt, wenn nicht Wolfgang Schäuble von der hohen Warte des Bundestags­präsidenten aus ebenfalls eine deutliche Verringerung der Wahlkreise von 299 auf 270 verlangt hätte. Auch Thomas Oppermann, Stellvertreter des Bundestagspräsidenten, will die Zahl der Wahlkreise stufenweisen zunächst um 20 Direktmandate verringern. In jüngerer Zeit trat auch der CDU-Politiker, Peter Altmaier, mit dem Ansinnen hervor, die Zahl der Abgeordneten des Bundestages bei jeder Le­gislaturperiode um 40 Mandate zu verkleinern. Näheres dazu war auch von ihm nicht zu erfahren. Durch diesen Bieter-Wettbewerb verkommt die Reform des Wahlrechts zum Kuhhandel. Die Vorga­ben der Verfassung werden mit Füßen getreten. Von den fünf Grundsätze der allgemeinen, der unmit­telbaren, der freien, gleichen und geheimen Wahl, hört man von den Mitgliedern des Bundestages, die sich zu Wort melden, überhaupt nichts.

Fasst man alles zusammen, ist der Bundestag heillos zerstritten. Er bietet keinerlei Gewähr, sich mehr­heitlich auf ein verfassungskonformes Abgeordneten-Wahlrecht zu verständigen. Sollte es wider Er­warten doch dazu kommen, muss man damit rechnen, dass die unterlegenen Fraktionen sich dagegen im Wege einer Normenkontrolle oder einer Organklage vor dem Verfassungsgericht zu Wehr setzen. So wird es wohl kommen. – Qui vivra verra!

Dieser Beitrag wurde unter Wahlrecht veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.