Landtagwahl in Niedersachsen

Risiken und Nebenwirkungen im dualen Wahlsystem

Fast immer legt das duale Wahlsystem die Regierung in die Hand von Koalitionen. Bei der Verhältniswahl stellt sich deshalb nicht die Frage, welche Partei, sondern welche Koalition gewinnt. Weil Koalitionen erst nach der Wahl entstehen, sind sie der unmittelbaren Entscheidung des Wählers entzogen. Das ist der große „Pferdefuß“ der Verhältniswahl, den man auch bei der Landtagswahl in Niedersachsen vom 20.1.2013 nicht übersehen konnte: Obwohl sie die stärkste politische Kraft im Lande war, ging die CDU – wie zuvor schon in Schleswig-Holstein – in die Opposition. Denn sie hatte keinen Koalitionspartner mehr.

Eine bürgerliche Koalition ist eigentlich nur in Reichweite, wenn die CDU mehr als 40 und die FDP mehr als 7 Prozent der Zweitstimmen „holt“. Bei der Landtagswahl am 20.1.2013 in Niedersachsen war das nicht in Sicht. Gleichwohl brachte das Wahlergebnis eine gewaltige Überraschung: Die FDP schnitt unerwartet gut mit 9,9 Prozent der Zweitstimmen ab. Im Gegenzug stürzte die CDU unerwartet auf 36,0 Proeznt ab. An eine Koalition im Landtag von Hannover war nicht zu denken. Die „Probeabstimmung“ in Niedersachsen wurde allgemein als Test für die Bundestagswahl im Herbst 2013 verstanden. Und die Leihstimmen-Rechnung ging dabei nicht auf. Die CDU wollte sich daher bei der nachfolgenden Bundestagswahl auf keine Experimente mehr einlassen. Und genau deshalb kam, was kommen musste: In der Bundestagswahl hatten die Liberalen die Zeche zu zahlen. Und diesmal scheiterten die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde.

Doch die Strategie der Union war von einer atemberaubenden Naivität. Ein Listenplatz mehr bei der FDP und es hätte in Niedersachsen für eine Koalition mit der CDU „gereicht“. Im Bund hätten schon zwei weitere Listenplätze bei der FDP genügt, um die Fünf-Prozent-Hürde zu „nehmen“ und dann „in voller Fraktionsstärke“ eine Koalition mit der Union zu bilden. Obwohl das mit relativ wenigen „Leihstimmen“ leicht zu erreichen war, ist es in beiden Fällen ganz anders gekommen. Und es gibt dafür nur eine Erklärung: Die maßgebenden Politiker und Politikerinnen haben es unterlassen, zu den Nebenwirkungen und Risiken des dualen Wahlsystems ihren Arzt und oder Apotheker zu befragen.

1. Ohne Koalition keine Regierung

Wenn man der Sache auf den Grund gehen will, muss man sie gründlich analysieren. Nach dem amtlichen Endergebnis für die 2008 vorangegangene Landtagswahl in Niedersachsen war die CDU auf 42,5 Prozent, die FDP auf 8,2 Prozent der Zweitstimmen gekommen. (1) Damit war 2008 die „kritische Menge“ für ein bürgerliche Koalition erreicht. Die SPD erlangte 2008 nur 30,3 Prozent, die Grünen 8,0 Prozent der Zweitstimmen. Die Linke kam auf 7,1 Prozent. So konnte auch eine Dreier- oder „Ampel-Koalition“ 2008 nicht zustande kommen, mit der man gegen den Willen der stärksten politischen Kraft im Lande hätte „durchregieren“ können.

Bei der so genannten „Sonntagsfrage“, die allein auf die Zweitstimmen abzielt, gab es im Dezember 2012 vier verschiedene Wahlprognosen. (2) Für die Bildung einer Koalition nach der Landtagswahl in Niedersachsen vom 20.1.2013 prophezeiten sie nichts Gutes:
– Die CDU pendelte bei den Zweitstimmen um die 40-Prozent-Marke.
– Die SPD erreichte bei den Zweitstimmen etwa 33 Prozent.
– Die Grünen schwankten bei den Zweitstimmen zwischen 12 und 15 Prozent.
– Die FDP konnte zuletzt im September 2012 die 5-Prozent-Hürde nehmen, danach nicht mehr.
– Die Linke und die Piraten lagen etwa auf der Höhe der FDP.

Wie so oft war deshalb auch bei der Landtagswahl in Niedersachsen am 20.1.2013 zu vermuten, dass die stärkste politische Kraft in die Opposition gehen muss. Und so ist es ja auch gekommen: Die SPD konnte der CDU 14 Wahlkreise abnehmen. Mit 54 von insgesamt 87 Direktmandaten, bleib die CDU aber mit weiten Abstand immer noch Siegerin bei den Erststimmen. Die SPD konnte insgesamt nur 33 Wahlkreise „holen“. Bei den Zweitstimmen fiel das Ergebnis für die CDU nicht ganz so günstig aus. Doch blieb die Union mit einem Anteil von 36,0 Prozent noch immer die stärkste Partei. Die SPD folgte mit 32,6 Proeznt. Es fehlte bei der FDP aber ein Sitz zur Bildung der erwünschten Koalition mit der CDU. Die CDU konnte mit den Zweitstimmen kein Listenplatz hinzugewinnen, weil es bei den Erststimmen schon ein Überhangmandat gab, also zwei Listenplätze notwenig waren, um mit den Zweitstimmen das Ergebnis der Erststimmen zu übertreffen. – Und diese Denksportaufgabe können die meisten ohnehin nicht lösen.

Obwohl also die CDU 2013 die Erst- und die Zweitstimmen-Siegerin in Niedersachsen wurde, ging sie in die Opposition. Das erinnert an die Bundestagswahl von 1976, als die beiden Unionsparteien CDU und CSU zusammen mit 48,6 Prozent der Zweitstimmen (sic!) von der Regierung ausgeschlossen wurden. Gleichwohl beharren – selbst Vertreter der Union! – sogar in der Plenarsitzung zur 1. Lesung für 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz im Deutschen Bundestag auf der Bewertung, das duale Wahlsystem einer mit-der-Personenwahl-verbundenen-Verhältniswahl habe sich „bewährt“. (3) Offenbar war der erlittene Schaden noch nicht groß genug, um daraus klug zu werden. Wie auch immer behielt das duale Wahlsystem auch in der Union seine politische Akzeptanz.

Tatsächlich hat sich die Doppelwahl aus Erst- und Zweitstimme eben gerade nicht bewährt. Sie führt zu absurden Konsequenzen: Überhangmandate, Stimmensplitting, „negatives“ Stimmengewicht, leer stehende Wahlkreise, Leihstimmen, Mandatsausgleich und siegreiche „Verlierer-Koalitionen“ etc. Auch krankt das fatale Kombi-System aus Direktwahl in Stimmkreisen und Listenwahl in wesentlich größeren Wahlgebieten daran, dass viele Wähler die Auswirkung der doppelten Abstimmung nicht hinreichend durchschauen. So soll z.B. der Mandatsausgleich die Wirkung der Überhangmandate nachträglich einebnen. Trotzdem haben in Niedersachsen immer noch zahlreiche Wähler vom Stimmensplitting Gebrauch gemacht. Selbst das Verfassungsgericht sieht zu Recht Anlass, insgesamt mehr „Normenklarheit“ und „Verständlichkeit“ zu fordern. (4)

2. „Ein Kreuzchen ist genug“

In Hannover musste sich die CDU darauf einstellen, in der FDP auch dann keinen Koalitionspartner mehr zu finden, wenn die Liberalen die 5-Prozent-Hürde durch eine entsprechende „Leihstimmen-Kampagne“ überwinden würden. Tatsächlich wurde die Koalition mit der FDP verfehlt – wenn auch nur knapp. Genau deshalb wirkten sich die „Leihstimmen“ für die FDP voll zu Ungunsten der CDU aus. „Leihstimmen“ sind zweischneidig. Denn wer seine Stimme „verleiht“, bekommt sie nicht zurück, wenn die erwünschte Koalition nicht zustande kommt. Dagegen steht aber, dass man der FDP mit einem kräftigen Schuss an „Leihstimmen“ das ihr fehlende Mandat hatte „zuspielen“ können, um mit ihr eine Koalition zu bilden. „Auf die richtige Dosis kommt es an“, heißt es bei Paracelsisus.

Weil die CDU zu naiv war, um die Gunst der Stunde für sich zu nutzen, erlitt sie in Niedersachsen eine erdrutschartige Niederlage wie zuvor in NRW: Sie hatte der FDP in den Landtag geholfen und ist selbst durch eine um so drastischere Wahlschlappe dafür „abgestraft“ worden. (5) Ohne „Leihstimmen“ wäre diese Niederlage  nicht so dramatisch ausgefallen. Mit „Leihstimmen“ kann man sich also ins eigene Fleisch schneiden. Dagegen steht aber, dass gerade in Niedersachsen die vergleichsweise geringe Menge an Leihstimmen für ein zusätzliches Mandate bei der FDP der Koalition den gemeinsamen Sieg gebracht hätte. Gewiss ist die komplexen Strategie: „getrennt marschieren und vereint schlagen“ nicht leicht zu durchschauen. Wenn man aber an den gemeinsamen Sieg denkt, kann ein Stimmenverzicht bei einer Partei  für die andere in der gemeinsamen Koalition das entscheidene Mandat bringen, was man im Kern als „negative“ Stimmenmacht verstehen darf.

Nach den vier Dezember-Prognosen 2012 für Niedersachsen war befürchten, dass Rot-Grün das Rennen machen würde. Und der Wechsel gehört zur Demokratie. Freilich konnten SPD und Grüne gemeisam die stärkste politische Kraft im Lande durch eine sog. „Koalition der Wahlverlierer“ aushebeln. In der Opposition gibt es keine Koalition. CDU und FDP konnten oder wollten nicht gemeinsam schlagen und zogen getrennt von einander in Landtag von Hannover ein. Und das musste nachdenklich machen. Jedenfalls meldeten sich erste Stimmen zu Wort, die es auf den Punkt brachten: „Ein Kreuzchen ist genug.“ (6)

3. Für die kleinen Parteien spielt die Erststimme keine Rolle

Auch in Nordrhein-Westfalen war die FDP die treibende Kraft für die Einführung des dualen Wahlsystems mit Erst- und Zweitstimme. Ebenfalls auf Betreiben der FDP wurde die Doppelwahl 1990 in Niedersachsen eingeführt. Davor wurde dort so gewählt wie 1949 im Bund und noch heute in Baden-Württemberg. Der Stimmzettel wurde nur einmal gekennzeichnet, um sowohl den örtlichen Wahlkreis-Bewerber und zugleich auch dessen Partei auszuwählen. Dieses Wahlverfahren schließt zwar das Stimmensplitting aus, nicht aber die Überhangmandate! Schon bei der ersten Bundestagswahl 1949 gab es zwei Mandatsüberhänge und Baden-Württemberg sind sie nicht die Ausnahme, sondern die Regel. (7)

Der Landtag in Hannover besteht heute aus 135 Sitzen. Es gibt aber nur 87 Wahlkreise. In 54 Wahlkreisen konnte – wie gesagt – die CDU 2013 den Sieg davon tragen. Immer noch ein traumhaftes Wahlergebnis bei den Erststimmen, das aber für den Wahlsieg nicht relevant wurde. Die SPD stellte dagegen nur 33 Fällen den Gewinner in den Wahlkreisen. Die beiden kleineren Parteien erlangen 2013 in Niedersachsen überhaupt keine Direktmandate.  Das war so schon 2008  der Fall gewesen. Von einer „personalisierten“ Verhältniswahl kann also auch in Niedersachsen bei den kleinen Parteien überhaupt keine Rede sein. Trotzdem zogen sowohl die Grünen als auch die Liberalen, ohne auch nur ein einziges Direktmandat zu erzielen, lustig in den Landtag ein. Und weil das so ist, muss man die Frage stellen: Wozu braucht man dann überhaupt die Erststimmen?

Unter den 54 direkt gewählten Abgeordneten der CDU entstand 2013 ein so genannter „Überhang“, weil sie als Partei mit den Zweitstimmen nur 53 Listenplätze erlangen konnte. Und 2008 hatte es sogar 8 so genannte „Überhänge“ gegeben. Damals hatte die CDU 68 Direktmandate erlangt, mit den Zweitstimmen aber nur 60 Listenplätze erzielen können. „Überhänge“ werden in Niedersachsen ausgeglichen wie folgt: Ihre Zahl wird verdoppelt und zur Regelzahl der 135 Sitzen hinzugezählt. Die so aufgestockte Zahl der Sitze im Landtag wird unter Anrechnung der Direktmandate dann auf die Parteien im Verhältnis ihrer Stimmenanteile bei der Listenwahl nach dem Höchstzahl-Verfahren von d‘ Hondt aufgeteilt. (8)

Hätte die CDU die Alleinregierung 1986 besser genutzt, um zum System der Direktwahl in Wahlkreisen mit nur einer Stimme überzuwechseln, dann wäre sie auch 2013 aus der Landtagswahl als strahlender Sieger hervorgegangen. Es lässt sich nicht übersehen: Die niedersächsische CDU hat 1986 den Kairos – die Gunst der Stunde – verpasst und musste 2013 dafür ein hohes Bußgeld bezahlen!

4. Entwerten Ausgleichsmandate das Stimmensplitting?

Eine „personalisierte“ Verhältniswahl – bei der die Wähler mit der Erststimmen einen Wahlkreis-Kandidaten und mit den Zweitstimmen die Landesliste einer Partei wählen – findet auch in Niedersachsen nicht statt. Denn die kleinen Parteien erreichen überhaupt keine Direktmandate. Es gibt für sie gar keine Liste, die durch eine vorgeschaltete Direktwahl „personalisiert“ worden wäre. Dafür reicht von vorne herein schon die Zahl der verfügbaren Wahlkreise nicht aus: Die 135 Sitze im Landtag können durch die Erststimmen-Wahl schon deshalb nicht vollständig „personalisiert“ werden, weil es ja nur 87 Wahlkreise gibt. Die Theorie der „personalisierten“ Verhältniswahl hat sowohl im Bund als auch in den Ländern, zuletzt am 20.1.2013 auch in Niedersachsen Schiffbruch erlitten. (9) Weder im rechts- noch im politikwissenschaftlichen Schrifttum und schon gar nicht in der Politik ist es erkannt worden: Die Theorie der „personalisierten“ Verhältniswahl lässt sich nicht halten und muss aufgegeben werden. (10)

Das Stimmensplitting – das ja mit der „personalisierten“ Verhältniswahl absolut unvereinbar ist! – war schon 2008 in Niedersachsen nicht zu übersehen: Bei insgesamt 3,5 Mio. gültigen Stimmen gaben damals 56.000 Wähler der CDU ihre Erst- nicht aber ihre Zweitstimme. Bei der Wahl v. 20.1.2013 sprang das Stimmensplitting stark an: 231.610 Wähler der CDU gaben ihr die Erststimme, verweigerten ihr aber die Zweitstimme. Bei der SPD waren es 2008 noch 47.000 Splittingwähler. Auch hier sprang 2013 die gespaltene Stimmabgabe stark in die Höhe: 176.633 Erststimmen- Wähler der SPD gaben ihr nicht die Zweitstimme.

Splitting-Bilanz 2013

Erst-
stimmen
Direkt-
Mandate
Zweit-
stimmen
Listen-
plätze
Differenz
CDU 1.519.343 54 1.287.730 53 231.610
SPD 1.342.171 33 1.165.538 48 176.633
Grüne 373.336 0 489.572 20 116.236
FDP 118.556 0 354.971 14 236.415
Summe 3.569.014 87 3.575.261 135

Quelle: www.Landeswahlleiter.Niedersachsen.de

Die höchste Marke erreichte das umgekehrte Stimmensplitting bei der FDP: Schon 2008 hatten knapp 88.000 Wähler der FDP ihre Zweitstimme zukommen lassen, sie aber nicht mit der Erststimme gewählt. Und 2013 kam es dann noch toller: 236.415 Zweitstimmen-Wähler der FDP gaben ihr nicht die Erststimme. Also haben zwei Drittel der FDP-Zweitstimmen-Wähler so abgestimmt! Verglichen mit der FDP war bei den Grünen 2008 der Überhang an Zweitstimmen nicht einmal halb so groß: 35.000 Wähler gaben den Grünen damals ihre Zweitstimme, aber nicht ihre Erststimme.

Ein drastischer Anstieg ist 2013 auch hier zu verzeichnen: 116.236 Zweitstimmen-Wähler der Grünen gaben ihnen 2013 nicht die Erststimme. Insgesamt gab es 2013 in Niedersachsen geradezu ein Gewitter, in dem es Splitting-Stimmen hagelte. Und was die „ausgebuffte“ Wahltaktik des Stimmenverzichts-auf- Gegenseitigkeit zur Maximierung der Mandate bei zwei Koalitionsparteien betrifft, waren die Wähler der Grünen mit Abstand am naivsten.

Das Ergebnis der Splittingbilanz verblüfft noch aus anderem Grund. Weil die Mandatsüberhänge in Niedersachsen ausgeglichen werden, würde das Stimmensplitting jedenfalls in der Theorie seiner Wirkung berauben werden. Trotzdem haben die Wähler beide Stimmen in drastisch steigendem Umfang gesplittet. Und mit der Lupe besehen macht das sogar Sinn: Weil die kleinen Parteien sowieso keine Direktmandate erreichen, ist die Erststimme für sie bedeutungslos. Sie profitieren aber von den Ausgleichsmandaten, die vom Wahlgesetzgeber dazu bestimmt worden sind, der „Überhangpartei“ einen eigentlich wohlerworbenen Vorteil bei der Erststimmen-Wahl zu entwinden, ja sogar ihr den Wahlsieg zu entreißen. Denn bei den Landtagswahlen ist es allein durch den Mandatsausgleich sowohl in Baden-Württemberg als auch in Niedersachsen auch zu einem Machtwechsel gekommen.

Aus dieser Perspektive überrascht es, dass keineswegs alle Wähler der FDP ihre Stimmen splitten, also die für sie obsoleten Erststimmen geschlossen dem gewünschten Koalitionspartner zukommen lassen. Und in Kombination mit einer bis an die Grenzen gehenden Leihstimmen-Kampagne auf der Seite der CDU hätte eine Annäherung an das Totalsplitting bei bei FDP und Union der Koalition den sicheren Wahlsieg gebracht. (11) Für eine „Überhangpartei“ werden umgekehrt ja die Zweitstimmen bedeutungslos, weil bei ihr die Liste gar nicht zum Zuge kommt. Genau diesen Stimmenverzicht auf Gegenseitigkeit wollte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit seinem Urteil zum „negativen“ Stimmengewicht v. 3.7.2008 ohne Wenn und Aber verhindern. (12) Eine Verabredung, die auf ein Totalsplitting abzielt, würde daher mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einen Nachspiel vor dem Verfassungsgericht des Landes führen, selbst wenn es in abgeschwächter Dosierung allgemein akzeptiert wird.

5. Das „negative“ Stimmengewicht bleibt ein ungelöstes Problem

Die Erststimmen-Wahl ist nur für CDU und SPD mandatsrelevant: Außer den beiden Großparteien erreichte keine der kleineren Parteien in einem einzigen der 87 Wahlkreise auch nur die relative Mehrheit, 2008 nicht und 2013 nicht. Wie gesagt ist die Erststimme für die FDP ebenso wie für die Grünen vollkommen bedeutungslos: Sie können diese Stimmen deshalb an die großen Parteien „verleihen“ oder verschenken und damit – wie gezeigt – sogar Überhänge entstehen lassen, die dann ausgeglichen werden, so dass FDP und Grüne aus der Fernwirkung dieser bizarren Wahltaktik des Erststimmen-Verzichts sogar Ausgleichsmandate „herausschinden“ können. Das konnte umgekehrt durch einen Zweitstimmen-Verzicht bei den großen Parteien weiter auf die Spitze getrieben werden, was jedenfalls anfangsweise in Niedersachsen tatsächlich auch geschah.

Eine rechtliche Bewertung muss auf den „inversen Erfolgswert“ abstellen. Das Verfassungsgericht in Karlsruhe hat entschieden, dass es zwischen Stimmen und Mandaten niemals zu einer negativen Korrelation kommen dürfe. (13) Stimmen und Mandate für eine Partei müssten sich stets proportional zu einander verhalten: Je mehr Stimmen, um so mehr Mandate und umgekehrt. Bei der Landtagswahl in Niedersachsen war das anders. Es gab deshalb schon 2008 ein ernstzunehmendes verfassungsrechtliches Problem, aber keine Verfassungsklage. 2008 erhielt die SPD 5 die FDP 2 Ausgleichsmandate, jeweils eines ging die Grünen und die Linke. Mit weniger Erststimmen erlangten sie damals mehr Listenplätze. Warum sollten sie sich beklagen?

Gleichwohl stellte sich die Frage nach dem „negativen“ Stimmengewicht, hier allerdings bei den Erststimmen. Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Das Verfassungsgericht hat schon mit Urteil v. 3.7.2008 jedes „negative“ Stimmengewicht uneingeschränkt verworfen und das mit Urteil v. 25.7.2012 bestätigt. (14) Beim Mandatsausgleich kommt diese Entscheidung erneut voll zum Zuge. Teile der FDP-Wähler verschenken ihre für die Liberalen bedeutungslosen Erststimmen vor allem an die CDU, kleinere Teile der Wähler von den Grünen vor allem an die SPD. Doch dieser Stimmenverzicht zahlt sich bei den zusätzlich erlangten Ausgleichsmandaten wieder aus.

Bei der CDU war es 2008 zu 8 Überhängen gekommen. Die FDP profitierte davon mit 2 Ausgleichsmandaten, obwohl oder sogar weil sie um 88.000 Erststimmen hinter den Zweitstimmen am deutlichsten zurückblieb. Wären diese 88.000 Erststimmen 2008 bei der FDP verblieben, hätte sie vermutich nur eines oder gar kein Ausgleichsmandat erhalten. Und genau diesen Effekt wollte das Verfassungsgericht ohne Wenn und Aber unterbinden. Dieses Spiel wiederholte sich in Niedersachsen am 20.1.2013 erneut. Es kam aber nur zu einem einzigen Ausgleichsmandat. Und das fiel der SPD zu. Um auch die FDP zu erreichen, war das Volumen des Überhangs und des Ausgleich zu klein. – Pech für die FDP! Doch ein Unglück kommt selten allein. Wie gesagt fiel das einzige Ausgleichsmandat 2013 der SPD in den Schoß und führte diesmal sogar zu einen Machtwechsel im Landtag von Hannover. Pech für beide, für die CDU und die FDP!

6. Ausgleichsmandate sind grob verfassungswidrig

Da sich die Verhältnisse im Bundesrat verändern haben, nachdem in Niedersachsen Rot-Grün die Regierung übernommen hat, hätte es nahegelegen, dass die politisch betroffenen Parteien nach Ansatzpunkten zu einer Verfassungsklage suchen. Bei der Wahl 2008 hätte die SPD die Wahl vielleicht zu Fall bringen können. Sie hat es aber nicht versucht. Nun steht die CDU vor der Frage: Was tun? Gegen die Ausgleichsmandate als solche kann man immer und überall mit Rechtsmitteln angehen. Sie kommen ohne Zutun der Wähler zustande. Um Ausgleichsmandate zu erlangen, brauchen die Parteien, die davon profitieren, überhaupt keine zusätzlichen Zweitstimmen der Wähler. Und das kann vor keiner demokratischen  Staatsverfassung Bestand haben!

Die Träger von Ausgleichsmandaten werden erst nach der Wahl – also außerhalb der Abstimmung – obrigkeitlich in das Mandat eingesetzt. Doch Volksvertreter werden vom Volk und nur vom Volk gewählt. Darauf fußt die Demokratie. Abgeordnete mit Ausgleichsmandat werden jedoch weder in allgemeiner, noch in unmittelbarer, weder in geheimer, noch in gleicher, und schon gar nicht in freier Wahl gewählt. Denn sie werden überhaupt nicht vom Wahlvolk gewählt. Ausgleichsmandate sind bei allen Wahlen, sei es im Bund, sei es im Land grob verfassungswidrig – also auch in Niedersachsen. (15) Man kann deshalb die Landtagswahl vom 20.1.2013 zu Fall bringen, wenn es einen Kläger gäbe.

Und in Niedersachsen ist passiert, was vorher schon in Baden-Württemberg passierte: Die CDU erlangte dort 9 Überhangmandate, die ausgeglichen wurden. Der Ausgleich führte dazu, dass SPD und Grüne im Stuttgarter Landtag die Mehrheit der Mandate erlangten, die sie ohne den Ausgleich nicht erlangt hätten. Ob eine CDU-Landtagsfraktion im im Wege einer Organklage vor dem Verfassungsgericht des Landes dagegen angehen wird, um die jüngste Landtagswahl zu Fall zu bringen, kann man schwer voraussagen. In Baden-Württemberg könnte die CDU das nach wie vor tun, tut es aber nicht.

Das liegt wohl am milden Klima des Landes. In Baden-Württemberg wächst Wein. Und der berühmte „Trollinger“ ist der CDU im „Ländle“ lieber als der Kampf vor den Schranken des baden-württembergischen Verfassungsgerichts. In Niedersachsen wächst keine Wein. Eigentlich ein Grund weniger, den Rechtsweg zu meiden. Gewiss, die Abgeordneten aus dem Norden sind einerseits nüchterner als die Kollegen aus dem Süden, andererseits sind sie wiederum viel zu nüchtern, um in den Kampf zu ziehen.

7. Zwei Stimmen sind zwei Wahlen,  man braucht aber nur eine

Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Man braucht aber nur eine. Wer trotzdem mit zwei Stimmen wählt, holt sich den Teufel ins Haus, weil man beide Stimmen auch gegen einander richten und mit der einen die Regierung, mit der anderen die Opposition wählen kann. (16)  Das ist „töricht und dumm“, um ein berühmtes Kanzlerwort von Helmut Kohl zu zitieren.

Man stelle sich einmal vor, in Großbritannien – dem Hort der Demokratie – würde ein Wahlleiter oder eine Wahlleiterin auch nur auf die Idee kommen, einer in der Wahl unterlegenen Partei aus Mitlied über die Niederlage nachträglich auch nur ein einziges Ausgleichsmandat zu schenken. Da wäre im ganzen Land die Hölle los. (17) Auch kann man keinem Briten klar machen, dass man zwei Stimmen braucht, eine um für Labour und eine andere, um für die Konservativen zu stimmen. In den Augen von David Cameron, Premierminister ihrer Majestät der Königin, ist das „very unbritish“.

Doch Deutsche sind anders Briten. Sie wählen mit zwei Stimmen, statt mit einer. Sie kombinieren dabei auch zwei mit einander unvereinbare Wahlsysteme, nämlich die Personenwahl und die Parteienwahl. Daraus entsteht ein nicht emulsionsfähiger Erst- und Zweitstimmen-Mischmasch. Weil beide Systeme nicht deckungsgleich sind, kommt es zu Mandatsdifferenzen – meist zu „Überhängen“. Diese gleichen die Deutschen sofort nach der Wahl wieder aus, indem sie über den Kopf der Wählern hinweg Abgeordnete mit Ausgleichsmandat ins Parlament mogeln, die gar nicht vom Volk gewählt worden sind.

Diesen Unfug könnte man sich sparen, wenn man von vorne herein nur mit einer Stimme wählen würde. „Ein Kreuzchen ist genug!“ Doch warum soll man etwas einfach machen, wenn es auch kompliziert geht?

ANMERKUNGEN

* Zum Schrifttum hat der wissenschaftlichen Dienst beim Deutschen Bundestag eine Literaturauswahl 2007 – 2011  mit 45 Fundstellen, zusammengetragen und im Internet  der Allgemeinheit zugängig gemacht unter: http://www.bundestag.de/dokumente/bibliothek/akt_lit/littipps/parlament/littipp_wahlrechtsreform.pdf. Darin ist der Autor mit drei Beiträgen vertreten. Weitere Hinweise zu seinen inzwischen mehr als 12 Veröffentlichungen gehen aus seiner Internet-Seite hervor unter: www.manfredhettlage.de.

(1) Vgl. Landtagswahl v. 27.1.2008: Endgültiges Endergebnis und Vergleichszahlen im Bundesland Niedersachsen v. 11.2.2008.

(2) Vgl. die Umfragen der INFO GMBH v. 22.12.2012; der Forschungsgruppe Wahlen v. 6.12.2012; von Infratest dimap v. 6.12.2012; und GMS v. 4.12.2012 (www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/niedersachsen.htm).

(3) So der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Michael Grosse-Brömer, MdB, 1. Lesung zum 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz, Plenardebatte v. 14.12.2012.

(4) Vgl. BVerfG 3.7.2008, BVerfGE 121, 266.

(5) Rund 500.000 Wähler gaben der CDU in NRW die Erst- nicht aber die Zweitstimme, obwohl die Überhänge ausgeglichen werden. Vgl. dazu Die Landes-Wahlleiterin, Landtagswahl 2012, Endgültige Ergebnisse in NRW (Heft 3), S. 9 (zugängig auch im Internet unter: www.mik.nrw.de/wahlen); ferner die Berichterstattung in der Tagespresse v. 15.5.2012.

(6) So Funk, Das Parlament Ausg. 51/52 (Gastkommentar) S. 2; ähnlich auch Decker, Berliner Republik, 20.2.2013: „Schafft das Zweistimmensystem ab!“ http://www.b-republik.de/aktuelle-ausgabe/schafft-das- zweistimmensystem-ab.

(7) Vgl. dazu Hettlage, „Wie wählen wir 2013? Veröffentlichte und unveröffentlichte Beiträge zur Reform des Wahlrechts in Bund und Land“, 2/2012 (www.lit-verlag.de/isbn/3.643-11585-0), S. 78.

(8) Vgl. Zicht, www.wahlrecht.de/niedersachsen (zuletzt aktualisiert am 10.3.2008). Bei der Verteilung der Mandate im Landtag von Hannover entfielen 2008 auf die CDU 67 Sitze: 60 Listenplätze und 7 Überhänge. Es verblieb ihr ein achtes Überhangmandat, das nicht mehr ausgeglichen wurde. Dieses unausgeglichene Überhangmandat durfte die CDU nach dem Landeswahl-Gesetz behalten.

(9) So erstmals Hettlage, ZRP 2011, S. 1 ff (2).

(10) Vgl. den gemeinsamen Gesetzentwurf CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen. 22. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Bundestags-Drucksache 17/11819.

(11) Ähnlich Rossmann, SüddZ v. 23.1.2013: „Mehr Leihstimmen hätten die CDU gerettet“. – Das duale Wahlsystem ist eine mit-der-Personenwahl-verbundene-Verhältniswahl. Durch das Stimmensplitting werden aber beide Stimmen unverbunden abgegeben. Leihstimmen sind daher systemwidrig, wenn nicht sogar un- gesetzlich. Mit dem Prinzip der „personalisierten“ Verhältniswahl ist die gespaltene Abstimmung absolut unverbeinbar. Das verkennt Rossmann.

(12) Vgl. BVerfG v. 3.7.2010 BVerfGE 21,266; zuvor schon BVerfGE 7, 64 mit dem Satz: „Gewiss eröffnet das Institut der Überhangmandate Manipulationsmöglichkeiten. Deren Verfassungsmäßigkeit müsste aber im Falle eines  Missbrauchs angezweifelt werden.“ (75).

(13) Vgl. die Pressemitteilung des BVerfG zur Entscheidung v. 25.7.2012 mit der eher verwirrenden als erhellenden Formulierung: „Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag darf die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Wählerstimmen im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert (negatives Stimmengewicht).“ Auch schafft der Erklärungsversuch in: Das Parlament v. 17. 12.2012, S. 5 keine Klarheit. Was „inverse“ Erfolgswert der Stimmen bzw. „negatives“ Stimmengewicht wirklich ist, bleibt weiter im Nebel.

(14) Vgl. BVerfG v. 25.7.2012 (Az.: 2 BvF 3/11; 2 BvR 2670/1; 2 BvE 9/1), NVwZ 2012, 1167; und zuvor BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266.

(15) Vgl. dazu Hettlage, Publicus – Der Online-Spiegel für das öffentliche Recht, Ausg. 2011.2: „Abgeordnete werden gewählt / Für Ausgleichsmandate gibt es keine Stimmzettel“; ders. „Wie wählen wir 2013?“ aaO, (Fn 7), S. 115 ff; zuletzt ders.: „Ausgleichsmandate sind grob verfassungswidrig“, Internet-Beitrag zugänglich unter: www.manfredhettlage.de. Anderer Ansicht Grzeszick, Ausschussdrucksache 17 (4) 634 E (Innenausschuss Deutscher Bundestag).

(16) Vgl. dazu Hettlage, ZRP 2011, S. 1: „Das Abgeordneten-Wahlrecht des Bundes ist nicht länger zu halten“; ders., DÖV 24/2012, S. 920 ff: „In Karlsruhe sehen wir uns wieder / Das neue Wahlrecht des Bundes kann vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben“; ders. FAZ/FAS  2.12.2012: „Der Gesetzgeber auf dün- nem Eis“.

(17) Vgl. „Wie wählen wir 2013?“ aaO, (Fn 7), S. 125.

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