MANDATSANMASSUNG

Wähler wählen – Parteimitglieder entscheiden?

Zuständig für die Wahl des Bundeskanzlers sind die vom Volk gewählten Abgeordneten. Würde der Bundespräsident seines Amtes walten und den Volksvertretern einen Vorschlag unterbreiten, wäre die Kanzlerwahl im Handumdrehen erledigt. Denn sie findet nicht nach langer Debatte auf irgendeinem Parteitag, sondern ohne Aussprache im Bundestag statt. Der von Justizminister Heiko Maas geleitet SPD-Parteitag in Bonn, war also ein grobe Mandatsanmaßung.

Koalitionen kann man nicht erzwingen. Auch der Bundespräsident kann das nicht. Versucht er dem Parlament eine sog. große Koalition aufzudrängen, dann hat dieses erzwungene Bündnis – wenn es überhaupt zustande kommt – jedenfalls kein langes Leben. Die SPD hat in das „Sondierungspapier“ ja schon den „dolus eventualis“ aufnehmen lassen, dass sie sich das Recht vorbehält, zur Halbzeit aus dem Regierungsbündnis auszusteigen. Doch das war gar nicht notwendig, denn Koalitionsverträge sind unverbindlich wie Spielschulden. Man kann sie nicht einklagen. Eine Koalition kann man jeden Tag verlassen. Dafür braucht man keine Vertragsklauseln und keine Einwilligung des Koalitionspart­ners.

Die guten alten Zeiten sind vorbei, als es noch vier oder sogar nur drei Fraktionen im Bundestag gab. In das Berliner Parlament sind nach den Bundestagswahlen vom 24.9.2017 sechs Fraktionen eingezo­gen. Nimmt man die Wahlumfragen zur Hand, die von der Forschungsgruppe Wahlen am 20./21.1. 2017 veröffentlicht wurden, dann zeigt sich sofort, dass sich daran nichts geändert hat: Es reicht immer noch für eine sog. Jamaika-Koalition aus drei Fraktionen (Union, Grüne und FDP) und für eine sog. große Koalition aus zwei Fraktionen (Union und SPD). Denn mit der AfD will niemand ein Re­gierungsbündnis eingehen. Das will auch die AfD nicht. Und wenn niemand eine Koalition eingehen will, dann kommt sie nicht zustande. – Das ist der Pferdefuß der Verhältniswahl.

Neuwahlen bingen nichts Neues

Wer wüsste es nicht: Umfragen sind ungewiss. Und bei der jüngsten Bundestagswahl lagen sie voll daneben. Beides trifft zu. Soviel kann man dennoch festhalten: Die politische Konstellation wird sich nur ändern, wenn es gleichsam einen „Erdrutsch“ in der Wählerschaft gibt. Und davon sind wir mei­lenweit entfernt. Deshalb liegt es auf der Hand, dass Neuwahlen, zwar so genannt werden, aber nichts Neues bringen. Die Bewegungen in der Wählerschaft, die man erwarten darf, sind dazu nicht groß genug. Das schätzt auch der Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, so ein. Zu Recht spricht er sich gegen Neuwahlen aus. Denn sie würden an der verfahrenen Lage nichts ändern.

Ein kurzer Blick nach Spanien lohnt die Mühe. Die Spanier wollten es 2016/17 nicht glauben, dass die Verhältniswahl ein Koalitionen förderndes Wahlsystem ist. Es muss versagen, wenn die Fraktionen in den Parlamenten keine Koalitionen eingehen wollen. Die spanischen Wähler haben am 20. Dezember 2016 und am 26. Juni 2017 zweimal abgestimmt, von einem dritten Urnengang im Herbst 2017 jedoch Abstand genommen. Ihren Vorsitzenden, Pedro Sanchez, haben die Sozialisten der PSOE „in die Wüste geschickt“, weil er keine Koalition bilden, aber auch eine Minderheitsregierung blockieren wollte. Inzwischen ist Mariano Rajoy unter Mitwirkung der PSOE zum Ministerpräsidenten gewählt worden, ohne dass es zu einer Koalition mit den Sozialisten kam.

Auch in Deutschland kann die SPD sehr wohl einer großen Koalition fernbleiben, ohne dass es zu Neuwahlen kommen muss. Das zeigt ein Blick in das Grundgesetz. In Art. 63 GG heißt es: „Der Bun­deskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.“ Gesetzt den Fall, Frank-Walter Steinmeier schlägt Angela Merkel dem Bundestag vor und sie wird von den beiden Fraktionen CDU/CSU und SPD gewählt, dann ist sie vom Bundespräsidenten zu er­nennen. Die SPD kann also in der Opposition gehen, und trotzdem entsteht eine Minderheitsregierung, die nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach Art. 67 GG gestürzt werden kann.

Der Bundeskanzler bestimmt die Richt­linien der Politik

Minderheitsregierungen sind unbequem, das trifft zu. Und sie erinnern ja auch an das Ende der Wei­marer Republik. Doch die Weimarer Reichsverfassung kannte kein konstruktives Misstrauensvotum. Deshalb kam es in den elf Jahren vom Februar 1919 und März 1930 zu 16 Regierungen. Es gibt aber noch eine andere Grundrechtsgarantie. In Art 65 GG heißt es: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richt­linien der Politik“. Er kann vom Parlament also nur insoweit an der Machausübung gehindert werden, als es das Grundgesetz erlaubt. Bei der Gesetzgebung ist das der Fall. Rechtsverordnungen, zu denen die Regierung auf der Grundlage bestehender Gesetze ermächtigt ist, sind davon z.B. nicht betroffen.

Gegen den Willen der SPD kann der Bundespräsident den Bundestag also nicht auflösen und auch keine Neuwahlen ausschreiben. Der Preis ist allerdings, dass die SPD-Fraktion zusammen mit der CDU/CSU-Fraktion Angela Merkel zur Kanzlerin wählt. Art. 63 Abs. 2 GG stellt es klar: „Gewählt ist, wer die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestags auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsident zu ernennen.“ Die drohenden Neuwahlen kann die SPD-Fraktion auf diesem Wege abwenden. Und wenn sie nach der Kanzlerwahl nicht mitregieren und gar keine Koalition ein­gehen will, dann braucht sie auch keinen Koalitionsvertrag, keine Parteitage und keine Mitgliederbe­fragungen.

Bei Licht besehen ist es die Führungsschwäche von Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, die zu dem Verhandlungsmarathon geführt hat. Hätte er angekündigt, dass er der konstituierenden Versamm­lung des Bundestages einen Vorschlag zur Kanzlerwahl unterbreiten werde, wäre der ganze Spuk auf einen Schlag verschwunden. „Der Bundestag tritt spätestens am 30. Tage nach der Wahl zusammen.“ (Vgl. Art. 39 Abs. 2 GG) Die Entscheidung wäre von den allein zuständigen Volksvertretern also spätestens am 24. Oktober 2017 getroffen worden, und zwar ohne Rückdelegation der Verantwortung auf Parteitage, ohne Mitgliederbefragungen, und – falls die SPD bei der Kanzlerwahl mitmacht – auch ohne Neuwahlen.

An Aufträge und Weisungen nicht gebunden

Die Abgeordneten „sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ So steht es in Art 38 Abs. 1 GG. Das wird allgemein als freies Mandat bezeichnet. Das Gegenteil, das sog. imperative Mandat ist dem Grundgesetz fremd. Die ganze Posse der Kanzlerwahl, die vor allem den Europäern, aber auch dem Rest der Welt vorgespielt wird, fußt ja auf dem Versuch, das freie Mandat wie einen Kürbis von innen her auszuhöhlen. Der Bundes­präsident hätte es in der Hand, diesem grausamen Spiel ein Ende zu setzen.

Es kann nicht sein, dass die Wähler wählen, und die Delegierten der Parteitage oder sogar die gesamte Parteimitgliedschaft entscheiden. An die Stelle der Volkssouveränität tritt die Parteiensouveränität. „Wenn die Wähler nicht das letzte Wort haben, dann haben sie auch nicht das entscheidende Wort.“ (Vgl. Schmidt-Bleibtreu, u.a., Grundgesetz, 2008, § 38, Rdnr. 14.)

 

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