Mehrheits- oder Verhältniswahl

Die Personenwahl ist ein Verfassungsgebot

Das Parlament hat in der Geschichte der Demokratie einen starken Bedeutungswandel erfah­ren. Die griechischen Demokratien waren Stadtstaaten. Es gab Athener und Spartaner, die olympischen Spiele, eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Interessen, aber keinen grie­chischen Staat. Heute haben wir zwar ein europäisches Parlament, aber kein europäisches Volk, keine europäische Sprache und wie die Griechen auch keinen europäischen Staat. Die römische Republik, die das ursprüngliche Königtum ablöste,  nahm ihren Ausgang ebenfalls in der Kommunalpolitik der Stadt Rom, die sich erst später, schrittweise zu einer Weltstadt entwickelte. Das Wahlgebiet war damals noch überschaubar, das passive Wahlrecht oligarchisch, die zur Wahl stehenden Führungspersön­lichkeiten allgemein bekannt.

In Großbritannien wählten die Bürger ihre Volksvertreter in ihren heimischen Wahlkreisen aus und schickten sie in das Hous of Commons – das Haus des gemeinen Mannes – um den König zu überwachen und ihm bestimmte Rechte abzutrotzen. Das Unterhaus war in seinen Anfängen keineswegs ein Wahlorgan für die Konstituierung der Exekutive, verdrängte im Lauf der Geschichte aber das Königtum aus seine angestammten Rolle des Machthabers, um sie zunehmend in die Hand des „Premiers“ zu verlegen.

Republik mit einer Königin an der Spitze

Am Ende der Entwiclung stand das eigenwillige Staatsgebilde einer Republik mit einer Königin an der Spitze. Das Volks wählte die Volksvertreter weiterhin nach dem Heimatprinzip, und diese wählten den Mann bzw. die Frau an der Spitze des Staates, der seine Regierungserklärung von der Königin verlesen lässt. Im Lauf der Zeit sind also die Volksvertreter auch zu Wahlmännern und Wahlfrauen geworden. Diese Aufwertung des Mandats wertete auch die Rolle der Parteien auf, die es natürlich immer gab und auch immer geben wird. Doch der Staat ist kein Parteienstaat, und vor allem sind Wahlen keine Parteienwahl. Der Staat ist die Heimat des Volkes. Träger der Staatsgewalt ist das Volk. Es tut seinen Willen durch die Wahl der Volksvertreter kund. Wahlen sind also Volkswahlen.

Der Kern der repräsentativen Demokratie ist die Stufenwahl des Machthabers. Die Briten halten es noch heute für naheliegend und zweckmäßig, auf der ersten Stufe mit einfacher Mehrheit und auf der zweiten Stufe dann mit absoluter Mehrheit zu entscheiden. Würde man umgekehrt vorgehen, müsste man damit rechnen, dass in vielen Wahlkreisen die absolute Mehrheit ver­fehlt wird und schon auf der Eingangsstufe weitere Wahlgänge notwendig werden, um zu einer Entscheidung zu kommen. Denn je höher das Quorum um so schwieriger die gemeinschaftliche Willensbildung.

Nach der klassischen Direktwahl mit einfacher Mehrheit – kurz „Mehrheitswahl“ – fällt daher die Entscheidung erfahrungsgemäß schon auf der Grundstufe der Wahl. Die Wahlen sind in aller Regel Volksentscheidungen. Es gibt aber auch Ab­weichungen, vor allem, wenn das Wahlvolk keine geschlossene Einheit bildet, sondern aus religiösen oder regionalen Blöcken besteht ist, die sich als Dritte Kraft etablieren: Christen oder Muslime, Basken, Schotten, oder Bayern etc. Das sog. romanische Wahlrecht mit abso­luter Mehrheit auf der Grundstufe und anschließender Stichwahl ist kein Patentrezept. Denn die Stichwahl ist in ihrem Kern eine rabiate Einschränkung des passiven Wahlrechts, die dazu missbraucht werden kann und immer wieder auch missbraucht wird, die stärkste politische Kraft gemeinschaftlich von der politischen Macht fern zu halten. (Koalition der Wahlverlierer)

Obwohl das sog. K.O.-System bei Fußballmeisterschaften üblich ist, trifft es bei politischen Entscheidungen auf wenig Gegenliebe. Deshalb herrscht auf dem europäischen Kontinent ein anderes Wahlvesrfahren vor, die sog. Verhältniswahl. Dabei rückt die Parteienwahl an die Stelle der Personenwahl. Die Wähler bestimmen durch Abstimmung lediglich die Quoten, mit denen die Parteien in das Parlament einziehen. Alle Parteien sind gleich und ziehen im Verhältnis der erlangten Stimmen in das Parlament ein. Doch ohne drastische Eingriffe in die Relationen zwischen den Parteien, also ohne wirksame Sperrklausel funktioniert das nicht.

Die Personenwahl ist ein Verfassungsgebot

Dadurch, dass die Wähler auf dem Stimmzettel keine Person, sondern ein Partei kennzeichnen, werden sie entmündigt. Die Abgeordneten sind keine unmittelbar gewählten Volksvertreter mehr, sondern mittelbar gewählte Parteienvertreter. Und einige der gewählten Volksvertreter werden wegen der Sperrklausel erst gar nicht in das Parlament hereingelassen. Außerdem ist die – deshalb fälschlich – so genannte Verhältniswahl kein Koalitionen vermeidendes, sondern ein Koalitionen förderndes Wahlsystem. Die Wähler geben ihre Stimme ab, und was bei den Koalitionsverhandlungen herauskommt, liegt nicht mehr ihn ihrer Hand. Auch haben die kleinen Koalitionspartner – wenn es überhaupt zu einer Koalition kommt – eine undemokratisch wirkende Sperrminorität unter ihrem Schild, die zur Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner oder sogar zum völligen politischen Stillstand führt.

Trotz allem gilt die Verhälntniswahl – sogar mit Sperrklausel – gegenüber der sog. „Mehrheitswahl“ ohne Sperrklausel auf dem europäischen Kontinent als das bei Weitem gerechtere Wahlverfahren. Das trifft nicht zu, doch wenn man das alles so haben will, darf man nicht etwas völlig anderes in die Verfassungen schreiben. Dann muss man schon zur Parteienwahl stehen und im Grundgesetz den Satz niederlegen: „Die Parteien werden (…) gewählt.“ Das ist aber nicht cder Wortlaut. Dort heißt es vielmehr: „Die Abgeordneten werden (…) gewählt“. – Die Personenwahl ist ein Verfassungsgebot!

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