„Negatives“ Stimmengewicht bei der Wahl 2013

Hokuspokus im Wahllokal: Weniger Stimmen, mehr Mandate

Der frisch gewählte Präsident des Deutschen Bundestags, Norbert Lammert, hat schon in seiner ersten Rede v. 22.10.2013 „das Handtuch geworfen“ und eine erneute Debatte über das Wahlrecht angemahnt. Einen Tag später legte er in seiner Pressekonferenz nach. Das erst im Februar 2013 geänderte Wahlrecht des Bundes müsse man sich „noch einmal angucken“.

Und das ist der ganz normale Wahnsinn bei den Wahlen zum 18. Deutschen Bundestag: Der Mandatsdifferenz zwischen den Direktmandaten und den Listenplätzen in Höhe von jeweils einem Sitz in den Bundesländern Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Saarland steht ein Mandatsausgleich von sage und schreibe insgesamt 29 Plätzen gegenüber!

Zuerst wird ja der sog. „Üeberhang“ von je einem Mandat im den vier Ländern ausgeglichen. Danach wird der Länderproporz, der sich durch den Mandatsausgleich verschoben hat, unter den 16 Bundesländern wieder hergestellt. Der gesamte Ausgleich überragt den sog. „Üeberhang“ also um mehr als das Siebenfache! Bei der Wahl 2009 gab es 24 „Üeberhänge“. Der Bundestag wäre im Wiederholungsfall auf 671 Abgeordnete emorgeschnellt. Für die Ausgleichsprofiteure ein politisches Geschenk, über das sie sich kaum beklagen würden.

Zweifel und Fragen

Doch wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die CDU mit der „Goldmedaille“ aus dem Rennen geht. Obwohl sie mit 4 sog. „Üeberhängen“ die alleinige Verursacherin für den gesamten Mandatsausgleich ist, erhält sie die meisten, nämlich 13 der insgesamt 29 Aufstockungsmandate.  Die SPD kommt nur auf 10; die Linke immerhin auf 4; und die Grünen nur noch auf 2 der Extrasitze im Parlament. Warum die Linken einen doppelt so hohen Nachschlag erhalten, obwohl sie nur 8,8 % der Zweitstimmen erreicht haben, und ihnen die Grünen mit 8,6 % viel zu dicht auf den Fersen waren, um sich mit dem halben Nachschlag abfinden zu müssen, nun, das wird der Bundeswahlleiter schon wissen.

Der Freistaat Bayern ist unstreitig der zweitgrößte Flächenstaat des Bundes. Trotzdem geht die CSU beim Länderausgleich leer aus und erhält überhaupt kein Ausgleichsman- dat. Wieso denn das, so fragt man sich in dieser einzigartigen Partei Europas, die im Land nicht nur alle 45 Wahlkreise gewann, sondern auch mit der absoluten Mehrheit der Zweitstimmen gewählt wurde. In München reibt man sich verdutzt die Augen: Den Sieg in allen Wahlkreisen und die absolute Mehrheit für die Liste, sogar im zweitgrößten Flächenstaat, noch mehr kann doch niemand verlangen? Oder hat sich der Bundeswahlleiter verrechnet?

Die FDP konnte mit 4,8 % der Zweitstimmen die Fünf-Prozent-Hürde nicht überwinden. Es fehlten nur 0,2 %. Deshalb sollten sich die Liberalen schon die Frage stellen, ob ihnen nicht auch eines oder vielleicht zwei der 29 Ausgleichsmandate zusteht, und sie deshalb vielleicht doch noch Einlass in das Hohe Haus fordern können. Denn es ist nur schwer nachzuvollziehen, dass die fünf im Bundestag vertretenen Parteien den nach der Wahl gebackenen Sonderkuchen der Aufstockungsmandate unter sich allein aufteilen dürfen, ohne auch der FDP und den anderen „Stiefkindern“ der unbarmherzigen Verhältniswahl ein kleines Stückchen davon abzugeben. Die Fünf-Prozent-Klausel erinnert an George Orwells „The Animals Farm“: Alle Tiere sind gleich, doch die großen Tiere sind noch gleicher.

Die alten Zaubertricks neu aufgeführt

Wie auch immer steht für die „Üeberhangparteien“ eines fest: Je weniger Stimmen im Land, um so größer ist der Anteil am Mandatsausgleich im Bund. Klingt verrückt, ist aber so. Denn hier geht es um die sog. „negative Stimmengewicht“. Die Aufführung dieses Zaubertricks, dass man mit weniger Stimmen mehr Mandate herausschinden kann, haben die Verfassungsrichter in Karlsruhe zuerst mit Urteil v. 3.7.2008 und danach mit Urteil v. 25.7.2012 schon zweimal ohne Wenn und Aber verworfen. Und das werden sie mit höchster Wahrscheinlichkeit auch ein drittes Mal tun.

Trotzdem wurde der gleiche „Hokuspokus“ bei der Bundestagswahl 2013 erneut aufge-führt. Es ist ja nicht zu übersehen, dass sich die CDU als Verursacherin von 4 „Üeber-hängen“ mit insgesamt 13 Ausgleichsmandaten den Löwenanteil an der Mandatsauf- stockung sichern konnte. Die alleinige „Üeberhangpartei“ CDU in den vier „Üeberhang-ländern“: Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Saarland, erhält im Bund den größten Anteil an den insgesamt 29 Ausgleichsmandaten. Und die CDU kann sogar dabei nachhelfen, dass diese so überaus segensreichen „Üeberhänge“ entstehen bzw. weiter vermehrt werden. Genau das haben einzelne Wahlkreisbewerber der CDU in NRW aktiv betrieben und  der FDP einen sog. Zweitstimmen-Deal angeboten.

Wie funktioniert dieser Deal? Entsteht in einem Land ein sog. „Üeberhang“ – weil eine Partei im Land   w e n i g e r   Listenplätze erlangt als sie Direktmandate erzielen konnte (Mandatsdifferenz) – dann kommt dort die Landesliste gar nicht mehr zum Zuge. Denn sämtliche Abgeordneten sind ja schon mit der Erststimme in das Parlament gewählt worden. Für die „Üeberhangpartei“ CDU werden deshalb die Zweitstimmen in den „Üeberhangländern“ vollkommen überflüssig. Die CDU-Landesverbände würden in Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Saarland selbst dann genau so viele Mandate erzielen, wenn sie dort keine einzige Zweitstimme erhalten hätten. Wären sämtliche – für die CDU-Landespartei entbehrlichen – Zweitstimmen an die FDP „verschenkt“ worden, wäre die Liberalen in den Bundestag eingezogen.

Und das ist der springende Punkt: Die „Üeberhangpartei“ kann im „Üeberhangland“ die Zweitstimmen geschlossen „verleihen“ oder verschenken ohne ein Mandat  zu verlieren. Je weniger Zweitstimmen, um so größer wird der „Üeberhang“, genauer gesagt die Mandatsdifferenz. Und je größer der „Üeberhang“ im Land, um so größer der Länderausgleich im Bund, von dem die CDU am meisten profitiert. Dieser „Hokuspokus“, dass man mit weniger Stimmen mehr Mandate herausschinden kann, wird allgemein als „negatives“ Stimmengewicht“ bezeichnet. In dieser Frage versteht das Verfassungsge- richt keinen Spaß. Verurteilen kann es diese bizarre Manipulationsmöglichkeit natürlich nur auf Verlangen. Denn: Wo kein Kläger, da kein Richter!

Das Stimmensplitting ist schuld

Doch wie kann es überhaupt dazu kommen, dass man mit weniger Stimmen im Land mehr Mandate im Bund herausschinden kann? Nun, das Stimmenplitting ist schuld. Weil beide Systeme, sowohl die Wahl von Personen in Wahlkreisen als auch die Wahl von Parteien mit ihren Landeslisten nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile haben, hat sich der Wahlgesetzgeber zur Mischung aus beidem, d.h. zur „Sytempanscherei“ entschlossen.

Die Deutschen wählen demnach nicht nach dem klassischen Prinzip: „one man one vote“ – pro Kopf eine Stimme. Sie folgen vielmehr dem dubiosen Grundsatz: „one man two votes“ – pro Kopf zwei Stimmen, nämlich Erst- und Zweitstimme. Mit den Erststimmen soll eine Person in einem Wahlkreis gewählt werden, mit der Zweitstimme eine Partei mit ihrer Liste in einem Land („personalisierte“ Verhältniswahl). Und wenn man zwei Stimmen hat, kann man beide aufsplitten und so gegeneinander richten. Man kann also mit der einen Stimme eine Person auswählen, mit der anderen Stimme aber eine andere, eine Konkurrenzpartei ankreuzen. Ein solches Wahlsystem hat von vorne herein „einen Sprung in der Schüssel“.

Bei der „personalisierten“ Verhältniswahl wurde schon immer unterstellt, dass beide Stimmen der gleichen Partei zukommen. Und die meisten Wähler tun, was in Paragraph 1 BWahlG verankert ist. Dort ist von einer „mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ die Rede. Das schließt die unverbundene Stimmabgabe aus. Trotzdem gehört das Stimmensplitting  – besser bekannt als die sog. „Leihstimmen“ – zum gewohnten Erscheinungsbild jeder Wahl. Denn Papier ist geduldig. Und oft genug ist die Gewohnheit stärker als der Wortlaut im Gesetz.

Karlsruhe hat den „Üeberhang“ akzeptiert, aber eingedämmt

Eines muss klar sein: Ohne Stimmensplitting gäbe es die „negative Stimmenmacht“ nicht. Dem „Hokuspokus“, dass man mit weniger Stimmen mehr Mandate herausschinden kann, wäre  mit einem Schlag der Garaus gemacht, wenn man so wählen würde, wie das in Paragraph 1 BWahlG vorgeschrieben ist, nämlich dass beide Stimmen der gleichen Partei zukommen.

Die Denksportaufgabe ist aber noch nicht gelöst. Üeberhangmandate? Was soll denn das? Es gibt 299 Wahlkreise, keinen mehr und keinen weniger. Und die Wähler haben genau 299 Wahlkreisbewerber ausgewählt, keinen mehr und keinen weniger. Wo soll da der „Üeberhang“ sein? Es ist schlicht und einfach nicht wahr, dass die Wähler zu viele Direktmandate vergeben hätten. Und man kann doch niemand dafür „totschießen“, wenn die Listenplätze weniger zahlreich sind als die Direktmandat.

Genau deshalb haben die Verfassungsrichter die Mandatsdifferenz aus der Erst- und Zweitstimmen-Wahl im Grundsatz als verfassungskonform akzeptiert. Die Differenz dürfe aber nicht zu groß werden (vgl. BVerfG v. 10.4.1997). Später haben sie präzisiert, 15 der sog. „Üeberhänge“ seien noch zulässig, mehr aber nicht. (vgl. BVerfG v. 25.7.2012). Bei der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22.9.2013 hat es ganze vier zulässige „Üeberhänge“ gegeben. Wozu also 29 Aufstockungsmandate?

„Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ Schlag nach bei Shakespeare. Dort steht es drin.

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