Niemand stellt hier die Verfassungsfrage

In 20 Legislaturperioden gab es 25 Wahlrechtsänderungen oder Änderungsversuche. In der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages hat Wolfgang Schäuble in seiner Funktion als ältester Parlamentarier und Tagungspräsident am 26.10.2021 erneut eine Reform des Wahlrechts verlangt. Bärbel Bas, die als Nachfolgerin Schäubles zur Bundestagspräsidenten gewählt wurde, hat dies bekräftigt. Der neue Bundestag hat 736 Mitglieder, regulär aber nur 598 Sitze. Doch niemand stellt hier die Verfassungsfrage.

Die zahlreichen früheren Empfehlungen von Schäuble und die jüngste von Bas lösten im Plenum keinerlei Gemütsbewegungen aus. Die Verfassungsfrage, dass es im Bundestag mehr Mitglieder gibt als Sitze vorhanden sind, wird schulterzuckend als „Schönheitsfehler“ hingenommen. Und man hat sich daran gewöhnt. So einfach ist es aber nicht: Bei der letzte Reform des Wahlrechts, war man überzeugt, das Parlament sei viel zu groß, schon weil damals 709 Mitglieder in das Hohe Haus eingezogen waren, 46 mit Überhang- und 65 mit Ausgleichsmandat. Heute sind es 34 Überhänge und 104 Ausgleichsmandate.

1.) Das ist nicht nur ein neuer Rekord. Das ist auch ein unlösbares Rätsel. Zwischen Überhang und Ausgleich gibt es keine erkennbaren Zusammenhang. Man erwartet, dass der Überhang im Verhältnis von 1 zu 1 ausgeglichen wird. Tatsächlich war der Ausgleich, der im Bund überhaupt erst 2013 eingeführt wurde, in allen Fällen größer als der Überhang.

2.) Rätselhaft bleibt auch, dass der auszugleichenden Überhang die Zahl der Direktmandate unberührt lässt. Es gibt insgesamt 299 Wahlkreise. Durch die Überhänge nimmt ihre Summe weder zu noch ab. Wer im Wahlkreis den Sieg errungen hat, der hat ihn zurecht erlangt. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn eine Partei mit ihrer Landesliste weniger oder gar keine Sitzplätze erlangt hat als sie mit den Erststimmen im Land Direktmandate erzielen konnte. Diese Zusammenhänge werden allgemein als „höhere Mathematik“ empfunden, die sich dem gewöhnlich anzutreffenden Wähler nicht erschließt.

3.) Soviel ist jedenfalls klar, „Ausgleichssitze sind Zusatzsitze“ – Überhangmandate nicht! Denn der Überhang ist überhaupt kein konkretes Mandat, sondern ein Abstand, und zwar zwischen den Direktmandaten und den Listenplätzen einer Landespartei. Überhänge entstehen also nicht auf Bundes-, sondern allein und ausschließlich auf Landesebene. Bundesüberhänge gibt es nicht, schon gar nicht bei Regionalparteien wie der CSU. Und noch etwas kommt hinzu: Weil Überhänge gar keine unzulässigen Direktmandate sind, können sie zur Gesamtzahl der 598 Sitze in Bundestag nicht noch einmal mit hinzugerechnet und dann auch noch ausgeglichen werden.

Es gibt gar keine Wahlkreissieger, denen ihr wohlerworbenes Direktmandat in Wahrheit gar nicht zusteht, wie landauf landab fälschlich unterstellt wird. Und damit entfällt die Rechtsgrundlage für den Ausgleich. Das wahre Übel sind also die Ausgleichsmandate. Und es ist schon erschütternd, wie leichtfertig sich die Wähler damit abfinden. – In Großbritannien wäre es absolut undenkbar, dass nach der Wahl auch nur ein einziges Ausgleichsmandat vergeben würde. Das würde der Volkssouverän dort niemals, zu keiner Zeit, auch nicht vorübergehend akzeptieren.

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