Verfassungswidriges Wahlrecht?

Der Deutsche Bundestag wird erneut ein verfassungswidriges Wahlrecht „liefern“

Das Gericht in Karlsruhe hat das 19. Wahlrechts-Änderungsgesetz verworfen, und das war schon das zweite Urteil in der gleichen Sache. (1) „Das zweite ‚Wehe‘ ist vorüber. Siehe das dritte ‚Wehe‘ kommt schnell“, heißt es in der Geheimen Offenbarung des Johannes (13, 14). Es kommt schnell,  wenn …- ja wenn die Abgeordneten des Deutschen Bundestages es noch einmal darauf anlegen, ein verfassungswidriges Wahlgesetz zu beschließen.

Und genau das haben die Fraktionen getan, die sich Mitte Oktober 2012 auf die Grundzüge eines neuen Wahlrechts geeinigt haben: An der Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme, also an der Ursache für die Mandatsüberhänge soll weiter festgehalten werden. Nicht einmal das absurde Stimmensplitting wird beseitigt. (1a) Man kann also auch künftig mit der einen Stimme die Regierung und mit der anderen die Opposition wählen.

1. Die „personalisierte“ Verhältniswahl eine Fata Morgana?

Die Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme ist das Markenzeichen des deutschen Wahlrechts für den Bund, aber auch zahlreiche Länder. Mit der Erststimme soll durch Wahl in den 299 Wahlkreisen des Bundes über die Person der Volksvertreter abgestimmt und mit der Zweitstimme über die Listen der politischen Parteien in 16 Bundesländern entschieden werden, aus denen sich die Mannschaftsstärke im Parlament ergibt. Dieses hochkomplizierte Wahlverfahren wird allgemein als „personalisierte“ Verhältniswahl bezeichnet. (2)

Nun gibt es 598 Sitze im Parlament, aber nur 299 Wahlkreise, verteilt auf 16 Bundesländer. Bei der Hälfte der Abgeordneten kommt deshalb apriori eine „Personalisierung“ der Verhältniswahl nicht in Frage, weil jeder zweite Abgeordneten sowieso nur über der Zweitstimme in den Bundestag gelangen kann. Der ganz offensichtliche, fundamentale Konstruktionsfehler des Wahlsystems liegt darin, dass schon hier die Theorie der „personalisierten“ Verhältniswahl in Wahrheit höchst lückenhaft zum Tragen kommt. Doch dagegen läuft in Karlsruhe niemand Sturm.

Schlimmer noch findet die Theorie der „personalisierten“ Verhältniswahl bei den Parteien auch deshalb keine adäquate Verwirklichung, weil ganz überwiegend nur die großen Parteien davon erfasst werden. (3) Für die kleinen Parteien spielt die Erststimme eine sehr geringe oder gar keine Rolle. Und das zwingt zu dem Schluss, dass die „personalisierte“ Verhältniswahl in Wahrheit eine Fata Morgana ist.

So erreichten 2009 die Grünen in 299 Wahlkreisen nur ein einziges Direktmandat. Es fiel Christian Ströbele zu, der im Berliner Wahlkreis 84 (Berlin-Friedrichshain – Kreuzberg – Penzlauer Berg-Ost) schon mehrfach überraschende Siege erzielte. Die FDP konnte dagegen 14-mal in Folge in allen Wahlkreisen des Bundesgebietes keinen einzigen Kandidaten in den Bundestag bringen. Genscher nicht, Westerwelle nicht, Rösler nicht. In Bayern war die CSU ohne Ausnahme in allen 45 verfügbaren Wahlkreisen erfolgreich. Keine andere Partei erreichte 2009 auch nur in einem einzigen Wahlkreis des Freistaates den Sieg. Die Personalisierung konzentrierte sich 2009 in Bayern also ganz allein auf die CSU.

Eine „personalisierte“ Verhältniswahl findet – ungewollt oder sogar gewollt – auf weiten Strecken tatsächlich überhaupt nicht statt. Sie kann auch gar nicht stattfinden. Dafür gibt es gar nicht genug Wahlkreise. Die Theorie der „personalisierten“ Verhältniswahl ist also löchriger als ein Emmentaler und muss deshalb aufgegeben werden. (4)

2. Auf die Dosis kommt es an

Ob das typisch deutsche Wahlsystem einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl im Kern als Verhältniswahl zu betrachten ist, weil die Zweitstimmen über die Mehrheitsverhältnisse und damit über die politische Macht im Parlament entscheidet, ist strittig. Jedenfalls gilt die Zweitstimme als „Kanzlerstimme“, weil sie den Ausschlag gibt, welche Partei allein oder in einer Koalition mit anderen  entscheidet, wer die Richtlinien der Politik vorgibt.

In dem Bericht der vom Bundesminister des Inneren eingesetzten Wahlrechts-Kommission hieß es schon 1955: „Verhältniswahlsysteme dieser Art sollten nicht als Mischwahlsysteme bezeichnet werden, weil sie dem Gedanke der Verhältniswahl entsprechen und nur in der Auswahl der Kandidaten Elemente der Mehrheitswahl einführen.“ (5)

In dem Normenkontrollverfahren, mit dem ein Drittel des Bundestags gemäß Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2  GG das 19. Wahlrechts-Änderungsgesetz vor dem Verfassungsgericht zu Fall brachte, trugen die beklagten Vertreter des Bundestags in der mündlichen Verhandlung v. 5.6.2012 überraschend vor, das Wahlrecht des Bundes sei doch ein Mischsystem, in dem es regelmäßig zu Mandats-Differenzen aus Direktwahl und Verhältniswahl komme.

Das Bundesverfassungsgericht wollte dem so nicht folgen und zog zwischen Direkt- und Verhältniswahl eine scharfe Grenze. In seinem spektakulären Urteil v. 25.7.2012 kam Karlsruhe zu dem Ergebnis, die Überlagerung der Verhältnis- durch die Direktwahl dürfe nicht dazu führen, dass der  Grundcharakter der Verhältniswahl zerstört werde. (6)

Bei der Mischung kommt es also auf die Dosis an. Um alle Zweifel über das richtige Mischungsverhältnis zu beseitigen, stellte Verfassungsgericht unmissverständlich klar, mehr als 15 Überhangmandate seien unzulässig. Damit konkretisierten die Richter ihre frühere Grundsatzentscheidung v.10.4.1997, Überhangmandate seien verfassungskonform, solange es nicht zu viele werden. (7)

3. Stimmensplitting und negative Stimmenmacht

Die „negative“ Stimmenmacht wurde von den Verfassungsrichtern schon mit Urteil v. 3.7.2008 (8) für schlicht verfassungswidrig erklärt und mit Urteil v. 25.7.2012 (9) ohne Wenn und Aber erneut verworfen. Die Abgabe der Stimmen und die sich daraus ergebenden Mandate dürften nicht in einer negativen Korrelation zu einander stehen. (10) Anders formuliert darf bei fallender Zahl der Stimmen die Zahl der Mandate nicht steigen und umgekehrt.

Nach einer allgemeinverständlichen Erklärung, wie dieses Paradox der negativen Stimmenmacht denn überhaupt zustande kommt, sucht man vergebens. Freilich ist die Sache einfacher als vermutet: Die negative Stimmenmacht setzt das Stimmensplitting voraus. Ohne Stimmensplitting kann man den marginalen Zweitstimmen-Verzicht (in einem Land mit Überhangmandat) nicht bewirken, der bei der Unterverteilung der Listenmandate auf die Länder dazu führt, dass wegen des Überhangs bei den Direktmandaten hier ein nicht mandatsrelevantes Listenmandat in ein anderen Land (ohne Überhangmandat) verschoben und deshalb mandatsrelevant wird, weil dort die Liste zum Zuge kommt.

Das Ganze ist ein schwer durchschaubarer Vorgang. Soviel steht aber fest: Fällt das Stimmensplitting, fällt die negative Stimmenmacht, weil jedem Zweitstimmen-Verzicht von vorne herein der Boden entzogen wurde. Mehr muss man von der Sache nicht verstehen, um dem paradoxen Spuk den Garaus zu machen. Man könnte demnach de lege ferenda die negative Stimmenmacht mit einem Federstrich verschwinden lassen, einfach indem man das Stimmensplitting unterbindet. (11) Doch dabei kommt es zu einer verblüffenden Überraschung.

4. Doppelwahl und Mandatsdifferenz: Zwei Stimmen sind zwei Wahlen

Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. (12) Man braucht aber nur eine. Diese beiden Wahlen folgen ihren eigenen Regeln. Man könnte nach dem sog. „Graben-System“ (13) beide Urnengänge getrennt von einander auszählen und aufaddieren. Das Ergebnis wäre eine schlichte Doppelwahl, die sich aus zwei Einzelwahlen zusammensetzt. Die Deutschen – ein Volk der Dichter und Denker – wollen beide aber nicht einfach addieren, sondern saldieren. Der Saldo ist also „des Pudels Kern“. Und das Verfassungsgericht hat entschieden: der Saldo zu Gunsten der Direktwahl in den 299 Wahlkreisen des Wahlgebietes dürfe insgesamt nicht größer sein als 15.

Bei der ersten Bundestagswahl 1949 gab es nur einen Stimmzettel, der nur einmal gekennzeichnet werden konnte, aber zweimal ausgezählt wurde, einmal um den auf dem Stimmzettel aufgeführten Wahlkreis-Abgeordneten zu ermitteln und zum anderen um den ausschlaggebenden Stimmenanteil zu erfassen, der auf seine Partei entfällt. Nach diesem Prinzip wird bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg noch heute gewählt.

Obwohl hier der Stimmzettel ja nur einmal gekennzeichnet, aber zweimal ausgezählt wird – also der örtliche Wahlkreisbewerber und seine Partei uno actu gewählt werden und deshalb jedes Stimmensplitting von vorne herein ausgeschlossen ist – kam es im Bund schon 1949 zu zwei Überhangmandaten. Und bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg sind Mandasüberhänge nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das führt zu der Frage: Wo kommen denn die Überhangmandate her?

Mit der Erststimme wird in einem der insgesamt 299 Wahlkreise eine Person gewählt und mit relativer Mehrheit entschieden. Bei der Zweitstimme liegen die Dinge anders. Hier wird in 16 Bundesländern die jeweilige Landesliste eine Partei gewählt. Beide Wahlsysteme sind also nicht deckungsgleich. Und es ist schon lange bekannt, dass die Direktwahl zu einer anderen Sitzverteilung im Parlament führt als die Verhältniswahl.

Die Inkongruenz der beiden Wahlverfahren ist also der Grund dafür, dass es in einer Doppelwahl regelmäßig zu Mandatsdifferenzen kommt. Bei 17 Bundestagswahlen kam es 13-mal zu Überhang- und nur 4-mal zu „Unterhangmandaten“, die es ja auch gibt, auch wenn sie in der Diskussion um das Wahlrecht keine Rolle spielen. – Genau gleich waren die Mandate aus beiden Wahlen also noch nie!

5. Bundesrecht bricht Landesrecht

Die Verfassungsrichter haben aber nicht nur das Wahlgesetz, sondern auch die Zusammensetzung des Bundestages verworfen. Die beiden Unionsparteien haben 2009 zusammen 24 Überhangmandate eingefahren. Zwei Wahlkreise sind nach § 48 Abs. 1 BWahlG nicht mehr nachbesetzt worden, der von Julia Klöckner (202 Bad Kreuznach) und der von Karl-Theodor zu Guttenberg (240 Kulmbach). Verbleiben 22 Überhangmandate. Erlaubt sind aber nur 15. Also müssen 7 direkt gewählte Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion den Bundestag verlassen oder wenigstens ihr Mandat ruhen lassen. Denn ein Parlament, das nicht verfassungskonform zusammengesetzt ist, kann keine verfassungskonformen Gesetze beschließen.

Nun hat die SPD mit ihrem Normenkontrollverfahren eine Entscheidung erzwungen, die sich nicht auf den Bund beschränkt. Was im Bund verfassungswidrig ist, kann im Land nicht verfassungskonform sein. Bundesrecht bricht Landesrecht. So will es Art. 31 GG. In NRW hat die SPD in 99 von insgesamt 128 Wahlkreisen den Sieg errungen. Dabei entstanden 23 Überhänge. Setzt man dies in Relation zur Entscheidung des BVerfG v. 25.7.2012, dass bei 299 Wahlkreisen 15 Überhänge zugelassen werden, können bei 128 Wahlkreisen in NRW nur mehr 6,5 Überhänge verfassungskonform sein.

Man braucht keinen Rechenschieber, um zu erkennen, dass dann 17 direkt gewählte Abgeordnete der SPD den Landtag in Düsseldorf verlassen müssen. Aber das ist noch nicht alles. Die 23 Überhänge wurden durch 33 Ausgleichsmandate kompensiert. Auf Anfrage bestätigte die Behörde der Wahlleiterin, dass dies sehr wohl seine Richtigkeit habe und mit dem Landeswahl-Gesetz in Einklang stehe.

Nach einer Modellrechnung im Haus des Bundesinnenministers würde – nach dem Wahlrecht, auf das sich die Fraktionen im Oktober 2012 verständig haben –  der Bundestag 671 statt 622 Abgeordnete angehören. Die 24 Überhänge, die 2009 entstanden sind, würden durch 49 Ausgleichsmandate „neutralisiert“ werden. (13a) Ergo: Der Ausgleich ist nicht nur in NRW, sondern künftig auch im Bund größer als der Überhang. Und das macht natürlich jeden stutzig, der die Grundrechenarten beherrscht.

6. Wahlausgleich ohne Wahlhandlung?

Ein Blick auf Baden-Württemberg führt zu einer weiteren Aporie. Bei der Landtagswahl v. 27.3.2011 erlangte die CDU in 60 von 70 Wahlkreisen dem Sieg. Dabei entstanden bei der CDU 9 Überhangmandate. Und das obwohl der Stimmzettel nur einmal gekennzeichnet werden kann, allerdings zweimal ausgezählt wird.

Wohlgemerkt ist dieses Verfahren, das auch bei der ersten Bundestagswahl 1949 angewendet wurde, nicht frei von Mandatsdifferenzen aus Direkt- und Verhältniswahl, sprich Mandatsüberhängen oder auch „Unterhängen“. Wenn bei 299 Wahlkreisen im Bund 15 Überhänge zulässig sind, können es bei 70 Wahlkreisen in Baden-Württemberg nur 3,5 sein,

Wegen der 9 Überhangmandate bei der CDU wurden den Grünen 5 und der SPD 4 Ausgleichsmandate zugesprochen. (14) Für Ausgleichsmandate gibt es aber gar keine Stimmzettel, genauer gesagt keine Wahlhandlung. Es kann sie nicht geben, weil die Wähler in der Wahl nicht wissen können, ob überhaupt und wie viele Überhänge entstehen. Das wird erst nach der Wahl offenbar, wenn die Stimmzettel abgegeben wurden, die Wahllokale geschlossen und die Stimmzettel ausgezählt sind, also nachdem das Ergebnis der Abstimmung vorliegt.

Die Wähler wählen also, und die Wahlleiter gleichen das Wahlergebnis nach der Wahl sofort wieder aus. Wer zum Volksvertreter bestimmt ist und wie sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament verteilen, hat nach abendländischen Demokratieverständnis allein das Wahlvolk zu entscheiden. Soll also nach der Wahl ein Ausgleich geschaffen werden, muss es eine Nachwahl über die Ausgleichsmandate geben. Und bei einer freien Wahl käme natürlich kein Ausgleich heraus, sondern noch mehr Überhänge.

Das Fazit: Weil Ausgleichsmandate ohne unmittelbares und freies Zutun der Wähler zustande kommen, sind sie grob verfassungswidrig. (15)

7. One man one vote –  Die Direktwahl ist weit besser als ihr Ruf

Die Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimmen, ist ein vollkommen überfrachteter und total verkorkster Mischmasch aus Direkt- und Verhältniswahl. Die Begrenzung der Wahlkreise auf die Hälfte der Abgeordneten, das zulässiges Stimmensplitting bei unzulässiger negativer Stimmenmacht, die teils zulässigen teils unzulässigen Überhangmandate, die leer stehenden Wahlkreise, (16) das alles lässt sich einfach nicht unter einen Hut bringen. Und die sog. „personalisierte“ Verhältniswahl ist ohnehin nur eine Fata Morgana. So wird das Wahlgesetz mit seinen schweren Mängeln zu einem Buch mit sieben Siegeln. – Was tun?

Anders als die Deutschen wählen die Briten nach dem klassischen Prinzip „one man one vote“ nur mit einer Stimme. Das dubiose Stimmensplitting, die schlicht verfassungswidrige negative Stimmenmacht, wie die Überhang- bzw. Ausgleichsmandate sind der Direktwahl fremd. Die für den normalen Wähler völlig unverständlichen Verteilungsprozeduren der Zweitstimmen zuerst auf die Parteien (Oberverteilung) und anschließend auf die 16 Bundesländer (Unterverteilung) nach d’Hondt, Hare/Niemeyer oder Sainte-Laguë/Shepers, sie gibt es bei der Direktwahl nicht.

Vor allem kommt die Direktwahl ohne die gewillkürte und deshalb undemokratische Fünf-Prozent-Hürde aus, ein besonders stark ins Gewicht fallender Vorteil bei der Beurteilung der Wahlgerechtigkeit. Die Direktwahl mit nur einer Stimme ist von den Wählern leicht zu durchschauen. Es gelangen immer genau so viele Personen in das House of Parliament als das Land Wahlkreise hat. Der Wähler wählt mit der Person uno actu auch seine Partei. Man kann daher von einer durchgehend personalisierten Wahl sprechen, gepaart mit einer gleichzeitigen Parteienwahl in der Gesamtheit aller Wahlkreise. Denn für dem Wahlsieg braucht die siegende Partei – in Serie! – die absolute Mehrheit aller Mandate im gesamten Wahlgebiet.

Gerade die Deutschen halten dieses Wahlverfahren für besonders ungerecht, (17) weil im Wahlkreis gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhalten hat. (Relative Mehrheit). Es kann deshalb passieren, dass die Regierung zwar über die absolute Zahl der Mandate, nicht aber über die absolute Mehrheit der Stimmen im gesamten Wahlvolk verfügt. Gewiss, die Regierung kommt leicht ins Amt, fliegt aber genauso leicht wieder raus. Es herrscht also Waffengleichheit zwischen Regierung und Opposition. Was soll daran ungerecht sein?

In Wahrheit gewährt die Wahl mit relativer Mehrheit einen starken Minderheitenschutz. Denn der Wahlsieg ist mit relativer Mehrheit leichter zu erringen als mit absoluter. Das liegt auf der Hand, wird in aller Regel aber vollkommen verkannt. Wem allerdings der ausgeprägte Minderheitenschutz der Direktwahl trotzdem ein Dorn im Auge bleibt, dem kann durch die Stichwahl geholfen werden, wie sie bei Bürgermeister-Wahlen üblich ist. Dieses System war im Deutschen Reich seit 1871 bis zum Beginn der Weimarer Republik im Jahre 1919 in Gebrauch. Und das war die schlechteste Lösung nicht.

Kurzum: „Die Direktwahl ist weit besser als ihr Ruf.“ (18) Es gibt aber (noch) keine Partei in der Bundesrepublik, die sich den Wechsel zur Direktwahl auf die Fahnen geschrieben hätte. Und weil niemand bereit ist, das Übel an der Wurzel zu packen, bleibt es bei der Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme. Sie ist die Ursache für die Mandatsüberhänge. Es bleibt aber auch beim Stimmensplitting. Es ist die Ursache für die uneingeschränkt verfassungswidrige negative Stimmenmacht.

Der Deutsche Bundestag wird also erneut ein Wahlrecht „liefern“, das vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben kann!


ANMERKUNGEN

Zum Schrifttum vgl. die Literaturauswahl 2007 – 2011 mit 45 Fundstellen, die der wissenschaftlichen Dienst beim Deutschen Bundestag zusammengetragen und im Internet zugängig gemacht hat unter: littipp_wahlrechtsreform.pdf. Weitere Schrittumshinweise außerdem bei den nachstehend genannten Autoren: Nohlen, (Fn 2); Raschke (Fn 5); Hettlage (Fn 18).

(1) Vgl. BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121 , 66 (negative Stimmenmacht); und BVerfG v. 25.7.2012, AktenZ 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670, 2 BvE 9/11, (Überhangmandate III).

(1a) Vgl. die Tagespresse v. 18.10. 2012 und vom 25.10. 2012.

(2) Statt aller, Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Auf. 2009, S. 327 ff.

(3) Vgl. Hettlage, ZRP 2011,1: „Das Wahlrecht des Bundes ist nicht länger zu halten“, S. 2, Sp. 1.

(4) Vgl. Hettlage, ZRP 2012, 87: „Mehr Stücke als Kuchen: die Überhangmandate …“, S. 88, Sp.1.

(5) Zitiert nach Raschke,  Wie wählen wir morgen, Verhältnis- oder Mehrheitswahl in der Bundesrepublik, Schriften der Bundeszentrale f. politische Bildung, 3. Aufl. 1969, S.33.

(6) Anderer Ansicht LVerfG Schleswig-Holstein v. 30.8.2010, AktenZ 3/09 und 3/10. Zugängig auch im Internet unter Schleswig-Holstein/Landesverfassungsgericht/Entscheidungen. Ferner dazu auch Meyer, Hans, Die Zukunft des Bundeswahlrechts, 1. Aufl. 2010, S. 94 f.

(7)  Vgl. BVerfG v. 7.4.1997, BVerfGE 95 335 (Grundsatzurteil Überhangmandat II).

(8) Vgl. BVerfG v. 3.7.2008, aaO, (Fn 1).

(9) Vgl. BVerfG v. 25.7.2012, aaO, (Fn 1). Die negative Stimmenmacht ist schlicht verfassungswidrig, nicht erst ab dem 15 Überhangmandat. Und solange es das Stimmensplitting gibt, kann man die negative Stimmenmacht nicht ausschließen.

(10) Vgl. Presseerklärung des BVerfG v. 25.7.2012.

(11) Gemäß § 1 BWahlG wird im Bund „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt“. Das schließt die unverbundene Stimmabgabe, also das Stimmensplitting schon de lege lata aus. Doch niemand kümmert sich darum. Eine rein deklaratorische Normenwiederholung ist daher de lege ferenda unumgänglich.

(12) Vgl. Hettlage, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) v. 19.12.2010: „Zwei Stimme sind zwei Wahlen“.

(13)  Zum begriffl. Erläuterung des sog. „Graben-System“ vgl. Raschke, aaO, (Fn 5). S. 67:  „Die Direktmandate sollen nicht angerechnet werden, zwischen Erst- und Zweitstimme also ein Graben bestehen.“

(13a) Vgl. dazu FAZ v. 25.10.2012: „Fraktionen schließen Arbeiten für neues Wahlgesetz ab“.

(14) Vgl. dazu die Pressemitteilung der Wahlleiterin Baden-Württembergs v. 8.4.2011; zugängig auch im Staatsanzeiger v. 15.4.2011; sowie im Internet unter: www.statistik-bw.de.

(15) Vgl. dazu ZRP 2010, 87,S. 88, dort unter VI.

(16) Vgl. dazu Bayerische Rundschau v. 1.6.2011 „Guttenbergs Platz in Berlin bleibt leer“, zugängig auch im Internet unter: www.infranken.de (und Datum v. 1.6.2011).

(17) Statt aller, Meyer, Hans, aaO, (Fn 6) insbes. Kap. VIII: These 3, S. 98.

(18) Vgl. Hettlage, „Wie wählen wir 2013? Veröffentlichte und unveröffentlichte Beiträge zur Reform des Wahlrechts in Bund und Land“, 2002, (www.lit-verlag.de/isbn/3-643-11585-0); vgl. dort insbesondere: Kap. X, S. 101 ff: „Die Direktwahl ist weit besser als ihr Ruf“.

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