Verhältniswahl oder Mehrheitswahl

Zwei Stimmen, ein Mandat – doppelt gewählt hält besser

Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Aus der Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme entstehen aber nicht zwei Mandate für die zweimal gewählten Personen, sondern nur eines. Denn in Deutschland wird das Ergebnis der Erststimmen auf das Ergebnis der Zweitstimmen angerechnet. Und es gibt eine erdrückende Zahl von Wählern, die das nicht begreifen, bei der Abstimmung also nicht vollkommen durchschauen, was sie tun. Das kann man am besten daran erkennen, dass viele Wähler beide Stimmen gar nicht der gleichen Partei zukommen lassen, sich also für und gegen eine Sache entscheiden.

Tatsächlich sollen in einer Vorentscheidung mit den Erststimmen 299 Wahlkreisbewerber bestimmt werden. Gewählt ist, wer im Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten hat. (Personenwahl) Mit den Zweitstimmen wird der Anteil an Sitzen festgestellt, der auf die Parteien mit ihren Landeslisten in den 16 Bundesländern entfällt. (Parteienwahl) Die relative wie die absolute Mehrheit, beide spielen bei der Listenwahl keine Rolle. Denn alle Parteien gelangen (mit den Listen ihrer Kandidaten)  im Verhältnis ihrer Stimmenanteile in das Parlament. Einen Verlierer der Wahl gibt es also nicht, es sei denn man führt eine Sperrklausel, z.B. eine Fünf-Prozent-Hürde, ein, die das System der Verhältniswahl wieder rückgängig macht.

Wie auch immer, die in den Wahlkreisen erlangten Direktmandate werden auf die Landeslisten angerechnet. Die übrigen Sitze werden aus der Landesliste ergänzt. Wer einen Wahlkreis gewonnen hat, der hat also automatisch und mit Vorrang auch einen Listenplatz erlangt, und zwar auch dann, wenn er gar auf der Liste kandidiert hat. Deutschland ist weltweit wohl das einzige Land, in dem Abgeordnete einen Listenplatz erhalten können, ohne dass sie auf der Liste kandidiert haben. Schlimmer noch,  Hälfte der Abgeordneten werden zweimal gewählt, erhalten aber nur ein Mandat. Man bezeichnet dieses kuriose System als „personalisierte“ Verhältniswahl.

Kurios vor allem deshalb, weil die Zahl der 598 Sitze im Parlament doppelt so gross ist wie die Zahl der bundesweit verfügbaren 299 Wahlkreise. Die Hälfte der Abgeordneten kann also gar nicht vorab in einem Wahlkreis gewählt worden sein. Offenbar gibt es im Parlament eine bessere und eine schlechtere Hälfte. Von „personalisierter“ Verhältniswahl kann bei der schlechteren Hälfte der Abgeordneten, die nur einmal gewählt wurden und keinen Wahlkreis gewonnen haben, von vorne herein keine Rede sein. Dazu reicht schon die Zahl der Wahlkreise nicht aus. Das Wahlsystem der „personalisierten“ Verhältniswahl ist also ein Bruchstück, ein Fragment, ein Torso.

Es gibt demnach zwei Typen von Abgeordneten, nämlich diejenigen die zweimal – im Wahlkreis und über die Landeslisten gewählt worden sind und diejenigen die von den Wählern nur einmal, und zwar allein über die Landeslisten ausgesucht wurden. Ob diese hälftige Mischung aus Personenwahl in 299 Wahlkreisen und aus Parteienwahl über die Landeslisten in 16 Bundesländern eine so tiefgreifende Ungleichheit im Wahlverfahren darstellt, dass sie mit dem Verfassungsprinzip der gleichen Wahl unvereinbar ist, kann hier offen bleiben. Tatsache ist und bleibt: Die eine Hälfte der Abgeordneten wird zweimal gewählt, die andere nur einmal. – Warum das so gemacht wird: Nun? Ganz einfach: Doppelt gewählt hält besser!

Nun kommt es immer wieder vor, dass mal mehr mal weniger Abgeordneten, die eigentlich zweimal gewählt werden sollen, tatsächlich nur einmal gewählt worden sind. Das passiert, wenn eine Landespartei in einem Bundesland weniger Listenplätze errungen hat als Direktmandate. Man bezeichnet dieses merkwürdige Phänomen – sehr irreführend – als „Überhangmandat“. Gewiss, die Landesliste ist „überpersonalisiert“, denn bei der betroffenen Landespartei bleiben die Listenplätze hinter den Direktmandaten zurück. Das Anrechnungsverfahren greift insoweit ins Leere. Die Landesliste der Parteil zieht nicht mehr. Man kann sie vergessen. Es entsteht ein Überschuss an Direktmandaten, die Listenplätze bleiben in Unterzahl. In diesem Fall gelangen alle Mandatsträger der Landespartei ohne Ansehung der Listenwahl schon über die  Wahlkreise in das Parlament, die Abgeordneten, die nur einmal gewählt wurden, aber zweimal hätten gewählt werden sollen, eingeschlossen. Unter der Lupe betrachtet, findet also bei den so genannten „Überhangmandaten“ ein partieller Systemwechsel von der Doppelwahl mit zwei Stimmen zur einfachen Wahl mit nur einer Stimme statt. Es genübt der Sieg im Wahlkreis, um in das Parlament einzuziehen.

Nun sind Abgeordnete, die zweimal gewählt werden sollten – nämlich im Wahlkreis und über die Landesliste – tatsächlich aber nur einmal gewählt wurden – also nur im Wahlkreis, nicht aber über die Liste – nicht unbedingt im Nachteil gegenüber denjenigen Abgeordneten, die von vorne herein nur einmal – also allein über die Landesliste – gewählt wurden. Trotzdem sehen darin vor allem diejenigen Parteien. die in den Wahlkreisen schlechter abschneiden als bei den Landeslisten oder überhaupt keinen Wahlkreis gewonnen haben, ein schreiendes Unrecht und sind dreist genug, dafür sogar einen Ausgleich zu verlangen.

Dieser Ausgleich wurde bei der Bundestagswahl v. 22.9.2013 erstmalig auch im Bund eingeführt. In zahlreichen Ländern gab es das schon vorher. Der Ausgleich wird aber nicht dadurch hergestellt, dass die Wähler erneut zur Urne schreiten und mit ihren Stimmzetteln gemeinschaftlich entscheiden, wer von welcher Partei die Ausgleichsmandate denn erhalten soll. Nein, der Ausgleich erfolgt nach der Wahl und ohne unmittelbares Zutun der Wähler.

Es betritt also Abgeordneter der besonderen Art die Bühne des Parlaments, nämlich der nicht vom Volk gewählte Volksvertreter, dessen alleiniger Zweck es ist, das Wahlergebnis auszugleichen. Denn die Abgeordneten mit Ausgleichsmandat haben weder einen Wahlkreis noch einen Listenplatz gewonnen. Und es gibt Fälle, die zeigen, dass ein solcher Mandatsausgleich sogar zu einem Machtwechsel im Parlament führen kann. Das trifft jedenfalls auf die beiden Landtage in Baden-Württemberg und Niedersachsen zu. Im Bund ist das bisher noch nicht passiert, kann aber nicht ausgeschlossen werden.

Was bleibt, ist die simple Frage nach dem tieferen Sinn und Zweck des dualen Wahlsystems. Wozu zwei Stimmen, wenn man auch mit einer in das Parlament einziehen kann? Schlimmer noch: Wozu überhaupt abstimmen, wenn es sogar möglich ist, ganz ohne Stimmen in das Parlament zu gelangen? Doch Demokratie ist simpel: Wir sind die Wähler. Wir sind das Volk. Wir wählen die Volksvertreter. Und niemand ist befugt, nach der Wahl den Willen der Wähler zu verbessern oder irgendwie „auszugleichen“.

An eines wird man sich allerdings gewöhnen müssen. Es gibt nun einmal Koalitionen bildende Wahlsysteme, die Verhältniswahl, und Mehrheiten bildende Wahlsysteme, die Direktwahl. Beides zugleich kann man nicht bekommen. Wenn ein Volk die Koalitionen mehr liebt als die Mehrheiten, dann muss es mit dem Wahlsystem leben, mit dem es sich „verheiratet“ hat.

 

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