VERWIRRENDES VON DER FAZ

Leserbrief: „598 Abgeordnete sind genug“

Die FAZ v. 23.1.2017 hat sich unter dem Titel: „598“ mit dem Beitrag  der beiden Professoren, Florian Grotz und Robert Vehrkamp, in die Debatte um die erneute Reform des Wahlrechts-Änderungsgesetzes eingeschaltet. Das war überfällig. Ein Wahlverfahren muss so einfach sein, dass die gewöhnlichen Wähler daran ohne vorherige Eignungsprüfung teilnehmen können. Das typisch deutsche Verfahren mit Erst- und Zweitstimme erfüllt diese Voraussetzung nicht. Der Politologe Rüdiger Schmitt-Beck hat schon 1993 in der Zeitschrift für Parlamentsfragen festgestellt, dass die Wahlen von einem „uninformierten Elektorat“ entschieden werden.

Im April 2013, also nur wenig Monate vor der Bundestagswahl vom 22.9.2013, hat Heiko Gothe in einer von Infratest dimap durchgeführten Umfrage erneut ans Licht gebracht, dass knapp die Hälfte der Wähler den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme nicht zutreffend benennen kann. Die Ergebnisse der Umfrage sind im Internet zugänglich. Das allein genügt schon, um das Verfahren als praxisuntauglich zu verwerfen. Und das Verfassungsgericht hat 2008 vom Wahlgesetzgeber ja schon einmal mehr Normenklarheit und Verständlichkeit verlangt. Der Gesetzgeber hat das in den Wind geschlagen. Schlimmer noch, durch die 2013 auch im Bund eingeführten Ausgleichsmandate ist sogar alles noch viel komplizierter geworden, als es ohnehin schon war.

Niemand hatte damit gerechnet!

Als der Bundeswahlleiter das vorläufige Ergebnis der Bundestagswahl verkündete, waren auch viele Experten sprachlos. Es gab nur 4 Überhangmandate, viel weniger als erwartet. Sie entstanden in vier Bundesländern: im Saarland, in Thüringen, Brandenburg und in Sachsen-Anhalt – alle bei einer Landesliste der CDU. Sie wurden nach neuem Recht erstmals auch im Bund ausgeglichen, aber nicht durch vier, sondern durch 28 Ausgleichsmandate. Niemand hatte damit gerechnet! Und zu allem Überfluss musste der Wahlleiter im endgültigen amtlichen Wahlergebnis den Ausgleich auf 29 Listenplätze erhöhen. Der Ausgleich überragte den Überhang also um mehr als das Siebenfache. – Wieso und warum?

Erschwerend kommt hinzu, dass auf die CDU 13, die SPD 10, auf die Linken 4 und auf die Grünen 2 Ausgleichsmandate entfielen. Die CSU ging leer aus, protestierte aber nicht. Obwohl die CDU die alleinige Verursacher-Partei der Überhänge war, ging sie mit 13 Ausgleichsmandaten aus dem Rennen. Niemals zuvor ist das „negative“ Stimmengewicht deutlicher hervorgetreten als 2013: Je weniger Zweitstimmen, umso mehr Überhang- und noch mehr Ausgleichsmandate für die CDU? Man kann sich nur schwer vorstellen, dass die Verfassungsrichter in Karlsruhe, dabei noch mitmachen werden, zumal sie das „negative“ Stimmengewicht schon zweimal ohne Wenn und Aber verworfen haben.

Außerdem muss man feststellen, dass – anders als im Saarland – in den restlichen Ländern mit Überhangmandat, also in Thüringen, Brandenburg und in Sachsen-Anhalt gar keine Ausgleichsmandate angefallen sind. Dafür erhielt Niedersachsen 7 und NRW sogar 10 Zusatzmandate, obwohl es in diesen Ländern gar keinen Überhang gab. Bayern musste sich sogar mit einem „negativen“ Ausgleichsmandat abfinden. Denn dem Freistaat stehen 92 Mandate im Bundestag zu. Tatsächlich gibt es dort aber nur 91 Bayern. Und hier muss man sich schon fragen, ob das der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Abgeordneter wird man durch Abstimmung

Als Erklärung bieten die Professoren, Grotz und Vehrkamp, den undurchsichtigen Satz an: „Unter dem seit 2013 gültigen Wahlrecht kann es auch ganz ohne Überhangmandate dazu kommen, dass die Zahl der Abgeordneten über die Mindestzahl von 598 hinausgeht.“ Das soll wohl heißen, dass Ausgleichsmandate auch dann verteilt werden können, wenn es keine Überhangmandate gibt. Abgeordneter wird man aber nicht durch mehr oder weniger plausible Rechenkunststücke. Abgeordneter wird man durch Abstimmung.

Werden Ausgleichsmandate nachgeschoben, muss natürlich auch die Abstimmung darüber nachgeschoben werden. Es dürfte den FAZ-Autoren, Florian Grotz und Robert Vehrkamp, nicht leicht fallen, das Verfassungsgericht davon zu überzeugen, dass man für die Wahl offenbar gar keine Wähler mehr braucht. Ausgleichsmandate kommen erst nach der Wahl zustande. Sie verfälschen das Wahlergebnis und ihnen fehlt die demokratische Legitimation.

Erschienen  in der FAZ  v. 27.1.2017 (in leicht veränderte Fassung)

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