Wahlprüfung nach Art. 41 GG

An Herrn
Prof. Norbert Lammert, MdB
Der Präsidenten des Deutschen Bundestags
Platz der Republik 1
11011 Berlin

Per Einschreiben mit Rückschein
Es gilt das Datum der Zustellung

Widerspruch gegen die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag gemäß Art. 41 Grundgesetz

Hiermit legt der Einspruchsführer, Dr. Manfred C. Hettlage, wohnhaft Nibelungenstr. 22, 80639 München, beim Deutschen Bundestag (Einspruchsgegner), vertreten durch den Parlamentspräsidenten, gegen die am 22.9.2013 abgehaltene Wahl zum 18. Deutschen Bundestag gemäß Art. 41 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit § 2 Abs. 1 und Abs. 2 WahlprüfG Widerspruch ein.

I.  Zulässigkeit

Der Einspruchsführer wohnt in München und ist dort beim Einwohneramt gemeldet. Er war als Wahlberechtigter im Wählerverzeichnis der Landeshauptstadt München für die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag einzutragen und tatsächlich dort auch eingetragen. In Ermanglung einer rechtzeitig zugegangenen Wahlbenachrichtigung hat er ausgewiesen durch Personalausweis an der Wahl nachweislich teilgenommen.

Der Wahleinspruch ist damit nach § 2 Abs. 2 WahlprüfG zulässig.

II. Antrag

Es wird Wahlwiederholung unter einem neuen Wahlgesetz beantragt.

III. Begründung in der Zusammenfassung

1. Durch das neue Wahlgesetz des Bundes (v. 3.5.2013, BGBl I S. 1082) gelangten 631 Abgeordnete in das Parlament. Das sind 33 Mandate mehr als es im Bundestag Plätze gibt. Die Zahl der vorhandenen Plätze bestimmt die Zahl der wählbaren Abgeordneten. Nicht umgekehrt.

2. Die „negative“ Stimmenmacht, dass durch Stimmenverzicht ein Mandatszuwachs erzeugt werden kann, wurde wiederum nicht beseitigt. Dies war aber eine unabdingbare Auflage des BVerfG v. 3.7.2008 und des BVerfG v. 25.7.2012. Die 4 „Überhangmandate“ bei der CDU wurden im Länderausgleich durch 13 aus 29 zusätzlichen Listenplätze überproportional kompensiert. Die alleinige Verursacherpartei wurde damit zum größten Ausgleichsprofiteur.

3. Das gesetzwidrige Stimmensplitting wurde bei der Auszählung der Wahl akzeptiert. Das ist mit Zwecksetzung der „personalisierten“ Verhältniswahl unvereinbar und steht im Widerspruch zur Anordnung des § 1 BWahlG, beide Stimmen immer der gleichen Partei zukommen zu lassen.

4. Der Mandatsausgleich in Höhe von 29 Listenplätzen ist grob verfassungswidrig. Die konkret ausgezählten Stimmen führten zu 602 Mandaten. Für die zusätzlichen 29 Listenplätze gibt es überhaupt keine Stimmzettel, auf denen die Wähler eigenhändig, unmittelbar und vor allem auch frei gekennzeichnet hätten, welcher Partei die Extramandate als Ergebnis der gemeinsamen Wahlhandlung zukommen sollen.

5. Dem geltenden Wahlgesetz fehlt es an „Normenklarheit“ und „Verständlichkeit“, die das BVerfG v. 2.7.2008 ausdrücklich verlangt. Ein Wahlrecht, das viele Wähler gar nicht verstehen, kann vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben.

Noch III. Begründung im einzelnen
Zu III. 1.

a) Der Parlamentspräsident, Norbert Lammert, hat in der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages v. 22.10.2013 – aus gutem Grund – eine weitere Reform des Wahlrechts für den Bund angemahnt und dies einen Tag später vor der Presse bekräftigt.

Die Regelzahl des Bundestags beträgt 598 Sitze. Die Hälfte davon, 299 Abgeordnete, sind direkt zu wählen. Bei der Wahl v. 22.9.2013 blieb in vier Bundesländern: Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Saarland bei der CDU die Zahl der Listenplätze hinter der Zahl der Direktmandate jeweils um einen Platz zurück. Diese Mandatsdifferenz zwischen Direktmandaten und Listenplätzen von insgesamt 4 Sitzen wurde in den vier betroffenen Bundesländern ausgeglichen.

Dadurch verschiebt sich die Sitzverteilung unter den Bundesländern, die Länderquoten werden gesprengt. Durch einen weiteren Mandatsausgleich wird der Länderproporz wieder hergestellt. (Doppelter Mandatsausgleich) Der Bundeswahlleiter ermittelte insgesamt eine Zahl von 631 Abgeordneten, davon 29 mit Ausgleichsmandat. Anders als vorgesehen gelangen die Abgeordneten deshalb nicht mehr zur einen Hälfte über die Wahlkreise zur anderen Hälfte über die Liste in den Bundestag.

b) Bei der Bundestagswahl 2009 hatte es eine Mandatsdifferenz von insgesamt 24 Listenplätzen in acht Bundesländern gegeben. Nach neuem Wahlrecht wäre der Bundestag auf 671 Abgeordnete emporgeschnellt. Dem Präsidenten des Parlaments erscheint das neue Bundeswahlgesetz deshalb nicht akzeptabel: Die „fröhliche Schlussfolgerung“ mancher Experten, mit dem nun doch nicht so groß gewordenen Bundestag sei der Beweis erbracht, das neue Wahlrecht würde funktionieren, sei deshalb „voreilig“, zitiert die Süddeutsche Zeitung v. 24.10.2013.

Zeuge: Norbert Lammert,
Der Präsident des Deutschen Bundestags
Platz der Republik 1,  11011 Berlin

c) Es kommt aber noch ein wesentlicher Aspekt hinzu: Das Verfassungsgericht in Schleswig-Holstein hat, wie bekannt, mit Urteil v. 30.8.2010 die Landtagswahl von 2009 verworfen und Wahlwiederholung angeordnet. Durch Mandatsdifferenzen und Mandatsausgleich war die Zahl der Abgeordneten auf 95 angestiegen. Die Regelzahl der 69 Sitze im Landtag müsse jedoch eingehalten werden. Es dürften nicht mehr Abgeordnete gewählt werden als es im Landtag Plätze gibt. Diesem plausiblen Grundsatz ist auch im Bundeswahlgesetz Geltung zu verschaffen: Die Zahl der verteilbaren Sitze bestimmt die Zahl wählbaren Abgeordneten. – Nicht aber umgekehrt!

Zu III. 2.

a) Das BVerfG v. 3.7.2018 hat ebenso wie das BVerfG v. 25.7.2013 dem Wahlgesetzgeber schon zweimal zur Auflage gemacht, die sog. „negative“ Stimmenmacht zu beseitigen. Es sei verfassungswidrig, wenn mit weniger Stimmen mehr Mandate erzielt werden könnten und zwischen Stimmen und Mandaten eine negative Korrelation entstünde. („Negative“ Stimmenmacht)

Durch die Einführung von Länderkontingenten bei den Mandaten wird der „negativen“ Stimmenmacht der Weg versperrt. Durch sog. „Überhangmandate“ und Ausgleichsmandate werden die Länderquoten jedoch gesprengt. Beides verschiebt den Proporz unter den Ländern, der durch den nachträglichen Länderausgleich wieder hergestellt wird. Dadurch wird aber der „negativen“ Stimmenmacht die Türe wieder geöffnet, die man ihr zuvor durch die Mandatskontingente verschlossen hatte. Die unabdingbare und wiederholte Auflage des Verfassungsgerichts, die „negative“ Stimmenmacht zu beseitigen, wurde wiederum nicht erfüllt.

 

b) Bei der Bundestagswahl am 22.9.2013 entstand in den 4 Bundesländern: Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Saarland bei der CDU eine Differenz zwischen Direktmandaten und Listenplätzen von jeweils einem Sitze pro Land. Dieser Unterschied wird volkstümlich als „Überhangmandat“ bezeichnet. In Wahrheit handelt es sich aber nicht um ein konkretes Mandat – schon gar nicht um ein Mandat, das einem der Gewählten gar nicht zusteht – es handelt sich vielmehr um eine Differenz aus dem Ergebnis von Direktwahl und Listenwahl. Auch steigt die Zahl der Wahlkreise durch die sog. „Überhänge“ nicht an. Es wurden 2013 exakt so viele Direktkandidaten gewählt, wie es Wahlkreise gibt, keiner mehr und keiner weniger. Man kann also man nicht behaupten, dass in den Wahlkreisen zu viele Abgeordnete gewählt worden seien.

Obwohl es demnach gar keinen direkt gewählten Abgeordneten gibt, der sein Mandat zu Unrecht bekleidet, wurde 2013 der sog. „Überhang“ von 4 Direktmandaten in den 4 betroffenen Ländern   erstmals auch im Bund außerhalb der Wahl bei den Listenplätzen ausgeglichen. Der jeweilige Ausgleich fällt im Verhältnis ihrer Stimmenanteile den sonstigen Parteien in den 4 betroffenen Ländern zu. Durch den nachträglichen Länderausgleich entstanden nach den Berechnungen des Bundeswahlleiters weitere 25, zusammengenommen also 29 Aufstockungsmandate. Die CDU erhielt davon 13, die SPD 10, die Linken 4, die Grünen 2 Listenplätze zugeteilt. Die Zahl der Listenplätze steigt an, ohne dass auch die Zahl der erforderlichen Zweitstimmen angestiegen wäre. Und dieser demokratisch nicht legitimierte Ausgleich des Wählerwillens überragt den sog. „Überhang“ sogar um mehr als das Siebenfache.

Obwohl die CDU die alleinige Verursacherin des Mandatsausgleichs ist, erhält sie auf Bundesebene trotzdem den größten Anteil am Länderausgleich. Je größer die Mandatsdifferenz in Thüringen und den anderen drei „Überhangländern“, um so größer der Anteil am Länderausgleich. Diesen Effekt der „negativen“ Stimmenmacht, nämlich mit weniger Stimmen mehr Mandate zu erlangen, kann man ausnutzen. Und viele Wähler haben das getan. In Thüringen und den anderen drei „Überhangländern“ könnten die Wähler der „Überhangpartei“ überhaupt keine Zweitstimmen zukommen lassen, ohne dass der CDU im Lande auch nur ein einziges Direktmandat verloren geht. Sie könnten diese Zweitstimmen sogar geschlossen an eine andere, vorzugsweise eine erwünschte Koalitionspartei „verleihen“, besser gesagt verschenken.

 

c) Dem Saarland stehen z.B. nach Länderquoten sieben Mandate zu. Vier davon werden direkt ausgewählt. Alle vier Direktmandate errang die CDU. Die drei von ihr erlangten Listenplätze blieben um einen Sitz hinter den vier von ihr erzielten Direktmandaten zurück. Hätten die Wähler der CDU entsprechend mehr Zweitstimmen zukommen lassen, wäre im Saarland eine Mandatsdifferenz zwischen Direktmandaten und Listenplätzen gar nicht entstanden. Dadurch verringert sich auch für die CDU auf Bundesebene der Länderausgleich. Das hätte bei den Christdemokraten im Bund einem überproportionalen Wegfall an Ausgleichsmandaten zur Folge. Ergo: Je mehr Stimmen, um so weniger Mandate – und umgekehrt!

Genau diese Manipulationsmöglichkeit, durch Stimmenverzicht Mandatsgewinne zu erlangen, hat das Verfassungsgericht ohne Wenn und Aber verworfen. Eine Wahl, bei der eine negative Korrelation zwischen Stimmen und Mandaten möglich ist, die Türe zur „negativen“ Stimmenmacht also offenstand, ist mit dem Grundgesetz absolut unvereinbar. Wie beantragt, ist daher Wahlwiederholung unter einem anderen Wahlgesetz anzuordnen.

Zu III. 3.

a) Die Deutschen wählen bekanntlich mit zwei Stimmen, mit der Erst- und der Zweitstimme. Sie folgen nicht dem klassischen Prinzip: „one man one vote“, d.h. pro Kopf eine Stimme. Sie folgen vielmehr der Idee: „one man two votes“, d.h. pro Kopf zwei Stimmen. Mit den Erststimmen soll eine Person in einem der 299 Wahlkreis gewählt werden, mit der Zweitstimme eine Partei mit ihrer Liste in einem der 16 Bundesländer. („Personalisierte“ Verhältniswahl) Doch wenn man zwei Stimmen hat, kann man beide splitten und gegeneinander richten.

Man kann also mit der einen Stimme eine Person wählen, die in der Regel der Kandidat einer Partei ist, mit der anderen Stimme aber eine andere, eine Konkurrenzpartei ankreuzen, die in der Wahl gegen den ausgewählten Wahlkreisbewerber antritt. Ein solches Wahlsystem, bei dem man seine eigene Wahlentscheidung niederstimmen kann, hat von vorne herein „den panaschierenden Schalk im Nacken“. Das Verfahren der „personalisierten“ Verhältniswahl fußt jedoch darauf, das beide Stimmen immer der gleichen Partei zukommen. Das versperrt den Weg, durch Stimmenverzicht einen Mandatszuwachs zu erzeugen. Ohne Stimmensplitting gäbe es die „negative“ Stimmenmacht nicht. – Wohlgemerkt kann es trotzdem zu Mandatsdifferenzen kommen.

 

b) Durch die Erststimme soll die Zweitstimme „personalisiert“ werden. Das ist in § 1 BWahlG fest verankert: Dort wird folgerichtig eine „mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ angeordnet. Das schließt die unverbundene Stimmabgabe aus. Die gespaltene Wahlentscheidung steht demnach nicht nur im Widerspruch zur Zwecksetzung der „personalisierten“ Verhältniswahl, sondern auch in Widerspruch zu § 1 BWahlG. Anders würde insbesondere auch die gesetzliche Anrechnung der erlangten Direktmandate auf die Landesliste der Partei des Abgeordneten ins Leere laufen. Trotzdem gehört das ungesetzliche Stimmensplitting – besser bekannt als die sog. „Leihstimmen“ – zum gewohnten Erscheinungsbild jeder Wahl. Denn Papier ist geduldig. Und oft genug ist die Gewohnheit stärker als der Wortlaut im Gesetz.

Weil kleine Parteien in aller Regel fast keine oder gar keine Direktmandate erlangen, hat etwas mehr als jeder zweite FDP-Wähler den Liberalen die Zweitstimme gegeben, mit der Erststimme aber den Kandidaten einer andereren Partei gewählt. Bei den Grünen hat jeder siebte Wähler so abgestimmt. Wie die Wahlen seit 1949 zeigen, sammeln sich die Direktmandate bei den großen Parteien an. Deshalb hat umgekehrt gut jeder zwölfte Wähler dem Kandidaten der Unionsparteien die Erststimme gegeben, die Zweitstimme aber an eine andere Partei „verliehen“, d.h. verschenkt. Bei SPD hat sogar jeder achte Wähler so abgestimmt. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass sich auch bei der Wahl 2013 die meisten Wähler gesetzeskonform verhalten haben und der Anordnung des § 1 BWahlG gefolgt sind, beide Stimmen der gleichen Partei zukommen zu lassen. Das schließt die gewohnheitsrechtliche Rechtfertigung des Stimmensplittings aus.

Bundestagswahl: Splittingbilanz 22.9.2013

Partei     Erstsimmen    Zweitstimmen    Splittingwähler    Splittingwähler

CDU       16.225.769          14.913.921           1.311.848
CSU          3.543.733           3.243.335               300.398
SPD       12.835.933          11.247.283           1.588.650
Linke      3.583.050           3.752.577                                                  169.527
Grüne     3.177.269           3.690.314                                                   513.045

FDP         1.028.322            2.082.305                                              1.053.983

 

c) Das Gesetz ist dazu da, beim Wort genommen zu werden. Deshalb sind alle Erststimmen für ungültig zu erklären, wenn die Wähler beide Stimmen gesetzwidrig gesplittet haben. Das ist aber bei der Auszählung der Stimmen nicht geschehen. Auch hat der Bundeswahlleiter die Zählfehler nachträglich nicht korrigiert. In diesem Punkt könnte man sich zur Not damit begnügen, dass die Wahl neu auszuzählen ist, wenn es nicht schwerwiegende andere Gründe gäbe, die Wahl ganz zu verwerfen.

Zu III. 4.

a) Ausgleichsmandate sind grob verfassungswidrig. Der Deutsche Bundestag hat am 22. Februar 2013 in 2. und 3. Lesung das 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz beschlossen. Mit Ausnahme der Linken waren sich die sonstigen Fraktionen darüber einig, alle entstandenen Mandatsdifferenzen im Entstehungsland durch Listenplätze auszugleichen (Vollausgleich) und die dadurch herbeigeführten Verschiebungen bei den Länderquoten durch weitere Ausgleichsmandate zu korrigieren. Doch das kann nicht gelingen. Volksvertreter werden vom Volk und nur vom Volk gewählt. Bei Ausgleichsmandaten welcher Art auch immer ist das nicht der Fall. Ihre Träger werden erst nach der Wahl von Wahlleitern obrigkeitlich in das Sondermandat eingesetzt. Und das verstößt gegen die Grundlagen der repräsentativen Demokratie: die Volkssouveränität.

Der Mandatsausgleich hat in mindestens 2 Bundesländern, nämlich 2011 in Baden-Württemberg und 2013 in Niedersachsen auch zu einem Machtwechsel in beiden Landtagen geführt. Ohne Ausgleichsmandate würde sich dort die Mehrheit der Mandate so verschieben, dass eine andere Koalition entstanden wäre. Die Folgen sind nicht nur für die beiden Landtage von Bedeutung, sondern auch für den Bundesrat, wo beide Länder je 6 von insgesamt 69 Stimmen haben. Wie in den Bundesländern kann der Mandatsausgleich natürlich auch im Bund zu einem Machtwechsel führen. Dazu ist es 2013 aber nicht gekommen.

 

b) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus und wird in Wahlen allein vom Volk ausgeübt. Nicht vom Volk gewählte Abgeordnete sind dem Art. 20 GG fremd. Für Ausgleichsmandate findet man jedoch in den Wahlurnen überhaupt keine Stimmzettel, mit denen die Wähler unmittelbar und vor allem auch frei mit einer dritten Stimme speziell über den Mandatsausgleich abgestimmt hätten. Man kann sie dort nicht finden. Denn die Entstehung von „Überhangmandaten“, d.h. von Mandatsdifferenz wird erst nach der Wahl erkennbar. Eine gesonderte Abstimmung speziell über der Ausgleich wäre demnach erst in einer Nachwahl möglich. Die Wähler sind ja keine Hellseher.

 

c) Mit den Ausgleichsmandaten wird nicht zuletzt die Demokratie auf dem Kopf gestellt. Denn den Ausgleich erhalten nicht die Wahlsieger auf der Ebene der Direktwahl, sondern die Wahlverlierer. Niemand ist befugt, das Wahlergebnis nachträglich auszugleichen. Abgeordnete mit Ausgleichsmandat werden nicht in allgemeiner, nicht in unmittelbarer, nicht in freier, nicht in gleicher, auch nicht in geheimer Wahl gewählt, sie werden überhaupt nicht vom Wahlvolk gewählt. Art. 38 GG und § 1 BWahlG ordnen dagegen gleichlautend und unmissverständlich an: „Die Abgeordneten werden (…) gewählt“.

In Italien kann die stärkste Partei in Nachgang zur Wahl bis zu 50 Extramandate erhalten. Dadurch soll verhindert werden, dass der relative Wahlsieger der Listenwahl – also die Partei mit dem besten Ergebnis – durch eine sog. „Koalition der Wahlverlierer“ von der Bildung einer Regierung ausgesperrt werden kann. Das Verfassungsgericht hat in seiner mündlichen Anhörung v. 5.6.2012 kurz vor seiner berühmten Entscheidung v. 25.7.2012 diese Frage mit dem Tenor gestreift, das komme für Deutschland nicht ernsthaft in Betracht. Nun sind die italienischen Verhältnisse vom doppelten Mandatsausgleich deutscher Prägung nicht allzu weit entfernt. Auch hierzulande wird der Grundsatz in den Wind geschlagen, dass Volksvertreter nicht aus der Luft gegriffen werden können, sondern grundsätzlich und ausschließlich durch Wahl in das Parlament gelangen.

 

d) In seinem Urteil zur Mandatsnachfolge in „Überhangländern“ v. 26.2.1998, (BVerfGE 97, S. 317 ff (323)) stellt das Verfassungsgericht fest: „Im demokratisch verfassten Staat des Grundgesetzes können die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen.“ Das gesetzgeberische Konstrukt eines nicht gewählten Abgeordneten findet im Zweiten Senat des Verfassungsgericht also keine Stütze. Das Gericht weist auch auf frühere Entscheidungen hin, und zwar auf BVerfGE 44, 124 (138, 142); auf 47, 253 (271 f.); und auf 89, 155 (171 f.).

Der erkennende Senat fährt danach fort: „Durch Wahl kann ein Abgeordnetensitz nur aufgrund einer – wie auch immer ermittelten – demokratischen Mehrheit erworben werden. (…) Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt aber stets, dass die Abgeordneten gewählt werden; eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Auch hier nimmt das Gericht Bezug auf das berühmt gewordene Grundsatzurteil v. 10.4.1997 (BVerfGE 95, 335 (349).

Freilich muss man einräumen, die Verfassungsrichter haben in ihrem spektakulären Urteil v. 25.7.2012 wiederholt von der verfassungsrechtlichen Problematik „ausgleichsloser Überhangmandate“ gesprochen und damit suggeriert, durch Mandatsausgleich könnten Mandatsdifferenzen verfassungskonform neutralisiert werden. Allerdings ist das Gericht in Karlsruhe niemals zur Frage der Ausgleichsmandate angerufen worden. Es gibt also mehr oder weniger gerechtfertigte Mutmaßungen, wie eine Entscheidung des Zweiten Senats ausfallen könnte. Doch einen wirklichen „leading case“, auf den man sich berufen könnte, den gibt es nicht.

 

e) „Last but not least“ ist nicht zu übersehen, dass es 299 Wahlkreise gibt und dass bei Wahlen auch 299 Wahlkreisbewerber gewählt werden, keiner mehr und keiner weniger. Wenn aber genau so viele Abgeordnete direkt ausgewählt wurden wie es Plätze gibt, kann niemand behaupten, in den Wahlkreisen seien zu viele Volksvertreter gewählt worden, wie die Begriffsbildung von den „Überhangmandaten“ fälschlich suggeriert. Deshalb hat sich das Verfassungsgericht in ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung 1988, 1997, 1998, 2008 und 2012 immer wieder geweigert, die durch Wahl entstandenen Differenzen zwischen Direktmandaten und Listenplätzen einer Partei in einem Bundesland grundsätzlich zu verwerfen.

Allerdings hat das Gericht 1997 einschränkend hinzugefügt, die Mandatsdifferenz dürfe nicht zu groß werden. Durch die Entscheidung v. 25.7.2013 wurde schließlich konkretisiert: Eine Differenz in Höhe einer halben Bundestagsfraktion, also von 15 Listenplätzen, sei noch zulässig, mehr aber nicht. Anderenfalls werde der Grundcharakter der Verhältniswahl verfälscht. Bei der Bundestagswahl 2013 gab es eine Mandatsdifferenz von nur 4 – zulässigen! – Listenplätzen. Und den Ausgleich einer der Höhe nach zulässigen Differenz hat das Verfassungsgericht eben gerade nicht verlangt.

 

f) Wägt man das Für und Wider ab, dann müsste das Gericht zuerst einmal den Wortlaut von Verfassung und Wahlgesetz beugen, wenn es die Ausgleichsmandate zulassen wollte. Und der Wortlaut der Gesetzesanordnung besagt: „Die Abgeordneten werden (…) gewählt.“ Sodann müsste sich das Gericht von seinen ablehnenden obiter dicta im Urteil vom 26.2.1998, (BVerfGE 97, S. 317 ff (323 und 326)) verabschieden und vor aber allem den Tenor der ständigen Rechtsprechung verlassen, dass Mandatsdifferenzen zulässig sind, genauer gesagt, dass sie des Ausgleichs nicht bedürfen solange die Zulässigkeitsgrenze von 15 Listenplätzen nicht überschritten wird. Das alles ist nicht zu erwarten.

Zu III. 5.

a) Das neue Wahlgesetz des Bundes missachtet nicht zuletzt auch die Auflage des Verfassungsgerichts,im Wahlrecht für „Normenklarheit“ und „Verständlichkeit“ zu sorgen. Das BVerfG v. 3.7.2008 hat dem Sinne nach zum Ausdruck gebracht, dass ein Wahlrecht, das die Wähler nicht verstünden, schon deshalb vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben könne. Dass sich der Wahlgesetzgeber bereits in § 1 BWahlG sehr unklar ausgedrückt hat, so dass viele Wähler das Stimmensplitting für zulässig halten, ist nicht zu übersehen. Es ist außerdem bekannt, dass nicht nur zahlreiche Erstwähler, sondern auch ein großer Teil aller Wähler nicht im Stande ist, den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimmen auch nur im Ansatz zutreffend zu erklären, um von einem Zuteilungsverfahren nach Sainte-Haguë/Schepers gar nicht erst zu sprechen.

Würde man den geänderten Wortlaut des § 6 BWahlG, der schon in seiner früheren Fassung unverständlich war, den Abgeordneten, die im Januar 2013 seine Neufassung beschlossen haben, zur näheren Erläuterung vorlegen, würde man mit ernüchternden, ja sogar erschreckenden Ergebnissen zu rechnen haben. Denn es würde sich rasch zeigen, dass nicht einmal die Abgeordneten verstanden haben, was der folgende Passus im Gesetz bedeuten soll:

(Zitat-Anfang)

㤠6 Wahl nach Landeslisten
(1) ….
(2) In einer ersten Verteilung wird zunächst die Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Absatz 1) in dem in Satz 2 bis 7 beschriebenen Berechnungsverfahren den Ländern nach deren Bevölkerungsanteil (§ 3 Absatz 1) und sodann in jedem Land die Zahl der dort nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze auf der Grundlage der zu berücksichtigenden Zweitstimmen den Landeslisten zugeordnet. Jede Landesliste erhält so viele Sitze, wie sich nach Teilung der Summe ihrer erhaltenen Zweitstimmen durch einen Zuteilungsdivisor ergeben. Zahlenbruchteile unter 0,5 werden auf die darunter liegende ganze Zahl abgerundet, solche über 0,5 werden auf die darüber liegende ganze Zahl aufgerundet. Zahlenbruchteile, die gleich 0,5 sind, werden so aufgerundet oder abgerundet, dass die Zahl der zu vergebenden Sitze eingehalten wird; ergeben sich dabei mehrere mögliche Sitzzuteilungen, so entscheidet das vom Bundeswahlleiter zu ziehende Los. Der Zuteilungsdivisor ist so zu bestimmen, dass insgesamt so viele Sitze auf die Landeslisten entfallen, wie Sitze zu vergeben sind. Dazu wird zunächst die Gesamtzahl der Zweitstimmen aller zu berücksichtigenden Landeslisten durch die Zahl der jeweils nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze geteilt. Entfallen danach mehr Sitze auf die Landeslisten, als Sitze zu vergeben sind, ist der Zuteilungsdivisor so heraufzusetzen, dass sich bei der Berechnung die zu vergebende Sitzzahl ergibt; entfallen zu wenig Sitze auf die Landeslisten, ist der Zuteilungsdivisor entsprechend herunterzusetzen.
(3) …

(Zitat-Ende)

 

b) Der bekannte Staatsrechtslehrer, Prof. Hans Meyer, Berlin, hat vorgeschlagen, die Probe aufs Exempel zu machen und den Text versuchsweise einer Schulklasse mit bestandenem Abitur, d.h. mit Hochschulreife zur Interpretation vorzulegen. Das ist aber gar nicht erforderlich. Denn niemand kann behaupten, zu dem komplizierten Wahlrecht mit zwei Stimmen und einer vom normalen Wähler nicht mehr nachvollziehbaren Umrechnung der Stimmen in Mandate gäbe es keine gesetzgeberische Alternative. Im Gegenteil! Die klassische Direktwahl mit nur einer Stimme kommt ganz ohne jedes Zuteilungsverfahren aus: Wer die meisten Stimmen erzielt hat, ist gewählt, was der ganz normale Wähler auch ohne Abitur leicht durchschaut.

Auch ist die relative Mehrheit leichter zu erreichen als die absolute. Vor allem aber ist das System der Direktwahl nicht auf die undemokratische Fünf-Prozent-Klausel angewiesen. Im Ergebnis ist gerade auch der Minderheitenschutz in der Direktwahl besser verwirklicht als in der Verhältniswahl. Und wenn die relativen Mehrheit der Stimmen ausreicht, um die absolute Mehrheit der Mandate zu erlangen, und so eine Regierung zu bilden, kann diese Regierung auf dem gleichen Wege abgelöst werden. Es herrscht also Waffengleichheit zwischen Regierung und Opposition.

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