WAHLPRÜFUNGS-BESCHWERDE

Manfred C. Hettlage, Nibelungenstr, 22, 80639 München; FN: 089 / 1 66 53 86;   Mobil: 0170 89 13 102; eMail: mail@manfredhettlage.de

An das Bundesverfassungsgericht, Zweiter Senat, Postfach 177, 76006 Karlsruhe. Vorab per Telefax: 0721 / 9101 -382

 Es gilt das Datum der Zustellung

WAHLPRÜFUNGS-BESCHWERDE

der Damen und Herren

1.) Axel Schlicher, An der Neuwiesen 20 a), 67677 Enkenbach-Alsenborn; 2.) Dr. Manfred Hettlage, Nibelungenstr. 22, 80639 München, (Gruppenbeauftragter) 3.) Marena Bowden, Außerhalb Nieder­saulheim 4, 55291 Saulheim; 4.) Friedrich Schaffarth, Höhenweg 17, 50129 Bergheim; 5.) Oliver Krauss, Carlo-Mierendorff-Str. 25, 67574 Osthofen; 6.) Thomas Wolf, Hauptstr. 37, 67724 Höringen; 7.) Stefan Schmidt, Hinter den Gärten 37, 66287 Quierschied; 8.) Angela Mayer, Keltenweg 73, 67663 Kaiserslautern; 9.) Christian Kiefer, Potzemergarten 9, 54450 Freudenburg; 10.) Daniela Gmeiner, Meißenerstr. 41 a, 90522 Oberasbach; 11.) Michaela Gmeiner, Meißenerstr. 41 a, 90522 Oberasbach; 12.) Thomas Vogler, Rumfordstr. 17, 80469 München; 13.) Ingo Klein, Ermlandstr. 3, 75181 Pforzheim; 14.) Rolf Lindner, Calandrellistr 15, 12247 Berlin; 15.) Stefanie Bauer, An den Neuwiesen 20, 67677 Enkenbach-Alsenborn; 16.) Kurt Frühauf, Randsiedlung 20, 67677 Enkenbach-Alsenborn; 17.) Günter Appel, Hohlstr, 22, 67724 Gonbach; 18.) Rolf Heiss, An der Neuwiesen 20, 67677 Enkenbach-Alsenborn; 19.) Dr. Annelie Grasbon, Am Rain 15, 85767 Hettenshausen; 20.) Dr. Jürgen Frohwein, Dorfstr. 17, 14913 Hohengörsdorf;

und zahlreicher weiterer Beteiligter.

Dem Wahleinspruch (WP 193/17) sind mehr als 190 Beteiligte beigetreten – die meisten von ihnen in­nerhalb der Einspruchsfrist, zu einem geringen Teil aber auch außerhalb. Das hat der Wahlprüfungs­ausschuss des Deutschen Bundestages mit der BT-Drucksache 19/9450 v. 23.4.2019, Anlage 13.) be­stätigt. Vgl. auch die Beitrittserklärungen in Anlage Nr. 1 zu diesem Schriftsatz.

Hiermit legen wir, die mehr als 190 Beschwerdeführer, angeführt vom Beteiligten zu 2.) und Gruppen­bevollmächtigten, Dr. Manfred C. Hettlage, beim Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts

Wahlprüfungs-Beschwerde

ein. Sie richtet sich gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 9. Mai 2019, mit dem unser Wahleinspruch (WP 193/17) im Plenum des Parlaments zurückgewiesen wurde.

Der Beschluss des Bundestages v. 9. Mai 2019 (samt Beschlussempfehlung, BT-Drucksache 19/9450 v. 23.4.2019, Anlage 13) liegt diesem Schriftsatz als Anlage Nr. 2 bei.

Zulässigkeit

„Gegen die Entscheidung des Bundestages ist die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zu­lässig.“ Sie wird in Art. 41 Abs. (2) GG mit Verfassungsrang garantiert und ist deshalb im konkret vorliegenden Fall unstreitig.

Beschwerdefähigkeit

Ausnahmslos alle der mehr als 190 Beschwerdeführer sind natürliche Personen, also grundrechts- und damit auch beschwerdefähig.

Beschwerdegegenstand

Die Beschwerde richtet sich gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 9. Mai 2019, mit dem der Wahleinspruch der mehr als 190 Beschwerdeführer (WP 193/17) zurückgewiesen wurde. Beschwerdegegenstand ist die Zurückweisung eines hochgradig mandatsrelevanten Wahleinspruchs, der die Bedingungen des Art. 41 Abs. 2 GG von §§ 13 Nr. 3 und 48 Abs. (1) BVerfGG erfüllt.

Beschwerdebefugnis

Sämtliche Beschwerdeführer waren nach § 12 BWahlG in den Wählerverzeichnissen als Wahlberech­tigte eingetragen. Sie wurden insbesondere durch die Verstöße gegen Art. 38 Abs. (1) GG, die in der nachfolgenden Antragsbegründung aufgeführt werden, in ihren grundrechtsgleichen Rechten selbst, gegenwärtig und unmittelbar verletzt. Der Einspruch gegen die Wahl nach § 2 WahlPrüfG wurde durch den gegenständlichen Beschluss des Bundestages v. 9. Mai 2019 nach § 13 WahlPrüfG abge­lehnt.

Form und Frist

Die Beschwerde wurde in Schriftform, innerhalb der einzuhaltenden Zwei-Monats-Frist nach Eintref­fen der Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 9. Mai 2019 erhoben und dem Verfassungsge­richt fristgerecht zugestellt. Sie ist mandatsrelevant, substantiiert und enthält eine detaillierte Begrün­dung. Alle Voraussetzungen einer Wahlprüfungs-Beschwerde sind somit erfüllt.

Gruppenbevollmächtigter

Der Beteiligte zu 2.) ist von den Beteiligten des Wahleinspruchs (WP 193/17) als Gruppenbevoll­mächtigter im Sinne von § 2 Abs. 3 WahlprüfG benannt und zugleich auch zur Führung einer Wahl­prüfungsbeschwerde aufgefordert worden. (Vgl. Anlage Nr. 1 .) Nach § 2 Abs. 2 WahlprüfG ist die Sammelklage zugelassen. Dem Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages lagen die ent­sprechenden Vollmachten vor. (Vgl. BT-Drucksache 19/9450, v. 23.04.2019, Anlage 13.) Außerdem hat das BVerfG im Eilverfahren (2 BvQ 33/18) die Gruppenvollmacht akzeptiert. Die Bestätigung der Vollmacht weiterer Beteiligter erfolgt mit gesonderter Post.

Der Beteiligte zu 2) und Gruppenbevollmächtigte wird dem Verfassungsgericht unverzüglich einen Prozessvertreter im Sinne des § 22 BVerfGG benennen, sollte das Gericht eine mündliche Verhand­lung anberaumen.

Die Beschwerdeführer stellen den

Antrag, 

den Beschluss des Bundestages, vom 9. Mai 2019 aufzuheben, wegen der Schwere der Verfassungs­verstöße und hochgradig mandatsrelevanten Wahlfehler eine Wiederholung der Bundestagswahl v. 24. 9.2017 unter einem verfassungskonformen Wahlrecht anzuordnen; insbesondere die in Art. 38 GG ga­rantierte Personenwahl für alle Abgeordneten durchzusetzen, die Missachtung der „mit der Personen­wahl verbundenen Verhältniswahl“ zu unterbinden; und die Aufstockung der Mitgliederzahl des Bun­destages durch nachgeschobene Zusatzmandate (sogenannte „Ausgleichsmandate“) zu verwerfen.

Vorbemerkungen

Erstens: Der Bundestag ist Antragsgegner und Eingangsinstanz des Wahleinspruchs in Personalunion. Er ist kein Gericht, entscheidet aber wie ein Richter in eigener Sache. Das schloss schon das römische Recht aus, wird in Art. 41 GG aber so angeordnet und deshalb von den Beschwerdeführern auch akzeptiert. Sie tun das, weil das Grundgesetz gleichzeitig die Zulässigkeit ihrer Beschwerde zum Bundesverfas­sungsgericht garantiert und deshalb ihr Verfahren am Ende doch durch ein unabhängiges Gericht ent­schieden wird, und zwar durch das Verfassungsgericht selbst.

In dieser Situation muss die Praxis einer „A-Limine-Abweisung“, dazu führen, dass die Grundrechts­garantie des Art. 41 GG ins Leere läuft. Eine höchstrichterliche Kontrolle der ordnungsgemäßen Zu­sammensetzung des Parlaments kann zwar beantragt werden, findet tatsächlich aber nicht statt: Zuerst weist der Bundestag als Eingangsinstanz fast alle Wahleinsprüche regelmäßig zurück. Danach folgt in den allermeisten Fällen die „a limine“-Abweisung des Verfassungsgerichts nach Maßgabe des § 23 BVerfGG. Doch so haben sich die Urheber der Verfassung die Wahlprüfung sicher nicht vorgestellt.

Zweitens: Das Wahlrecht ist der Schlüssel zur Demokratie. Es wird allgemein als materielles Verfassungs­recht bezeichnet. Das bestätigt das besondere Gewicht der vorliegenden Wahlprüfungs-Beschwerde. Sie zielt auf nichts Geringeres ab, als die Durchsetzung der unmittelbaren Personenwahl für sämtliche Volksvertreter zuerst im Bundestag und – als eine später eintretende Folge davon – letztlich auch in den Landtagen. Die Anordnung der unmittelbaren Personenwahl geht aus den Artikeln 38 und 28 GG zwingend hervor. Zwischen Verfassung und Wirklichkeit klafft jedoch ein tiefer Abgrund. Denn die mittelbare Wahl der Volksvertreter beherrscht das tatsächliche Wahlgeschehen sowohl im Bund als auch in den Ländern. Die Mehrheit der Abgeordneten wird seit je her nicht direkt gewählt. Weil ur­sprünglich auch der erste Senat für das Wahlrecht zuständig war, stellt sich daher für den zweiten Se­nat die Frage, ob von ihm der große Senat anzurufen ist. Die mehr als 190 Beschwerdeführer beantra­gen hiermit beim zweiten Senat, das zu tun.

Drittens: In den 19. Deutschen Bundestag sind insgesamt 709 Mitglieder eingezogen. Davon wurden in 299 Wahlkreisen aber nur über 299 Direktmandate unmittelbar abgestimmt. Der verbleibende Rest von 410 Abgeordneten hat das Mandat nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar über starre Landeslisten in 16 Bundesländern erworben. Aus den Landeslisten kann keine unmittelbare Personenauswahl getrof­fen werden. Der Wähler kann nicht einmal die alles entscheidende Reihenfolge auf den Landeslisten verändern. Diese Bevormundung ist mit Art. 38 GG nicht zu vereinbaren. Die Mehrheit der insgesamt 709 Abgeordneten sind also keine gesetzlichen Mitglieder des Parlaments. Das schlägt auf den Be­schluss des Bundestages v. 9. Mai 2019 und seine Entscheidungsgründe durch, die der Wahlprüfungs­ausschuss, (fünfte Beschlussempfehlung, von 23. April 2019, BT-Drucksache 19/9450, Anlage 13) erarbeitet hat.

Der Bundestag ist kein Gericht, entscheidet aber wie ein Gericht. Insgesamt 410 Abgeordneten sind von der Streitfrage über die Unmittelbarkeit der Wahl persönlich betroffen. Weil mindestens 299 von ihnen nicht direkt, sondern nur indirekt gewählt worden sein können, hätten sie sich selbst für befan­gen erklären müssen und deshalb nicht an der Beschlussfassung v. 9.5.2019 teilnehmen dürfen. Das haben sie aber nicht getan. Stattdessen haben sie im Plenum des Bundestages maßgebend an der Fehl­entscheidung v. 9. Mai 2019 mitgewirkt, die mittelbare Wahl der Abgeordneten über die Landeslisten entspreche der Verfassung und sei grundrechtskonform.

Die 410 Abgeordneten, die nur mittelbar gewählt worden sein können, werden volkstümlich formu­liert, nicht „den Ast absägen, auf dem sie sitzen“. Der Beschluss des Bundestages vom 9. Mai 2019 ist daher schon wegen der besonderen Befangenheit von mindestens 299 Abgeordneten verfahrensrecht­lich unhaltbar. Er ist schon deshalb mit dem Index höchster Fraglichkeit zu versehen und kann zur Sei­te gelegt werden.

Kurzgefasste Begründung der Beschwerde

Die mehr als 190 Beschwerdeführer tragen zur Begründung ihrer Wahlprüfungs-Beschwerde gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages v. 9.5.2019 in aller Kürze vor.

1.

Es widersprich dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl, wenn 410 der insgesamt 709 Mitglieder des Bundestages bei der Bundestagswahl v. 24.9.2017 nur mittelbar über die 16 Landeslisten der Parteien in das Parlament gelangt sein können. Darüber kann der Bundestag nicht hinwegtäuschen. Denn es gibt insgesamt nur 299 Wahlkreise, in denen eine unmittelbare Wahl der Personen möglich ist, die für die Dauer einer Legislaturperiode als direkt gewählte Volksvertreter in das Parlament einziehen. Für eine lückenlose Personalisierung der Verhältniswahl durch die Personenwahl ist die Zahl der Wahl­kreise demnach viel zu klein.

  2.

Das Verfassungsgericht hat das sog. „negative“ Stimmengewicht zweimal untersagt (BVerfGE 121, 266 und BVerfGE 131, 316). Die SPD hatte 2017 und die CDU 2013 einen Vorteil davon, dass sie nur lückenhaft mit beiden Stimmen gewählt wurden. Beide Parteien waren durch sog. Überhänge begün­stigt und nahmen zusätzlich auch am Mandatsausgleich teil. Der Bundestag zeigt keine Bereitschaft, den Widersinn zu beseitigen, dass eine Partei gleichzeitig durch Überhänge ungerechtfertigt „berei­chert“ wird und zusätzlich aus dem Mandatsausgleich Vorteile für sich „herausschinden“ kann („nega­tives“ Stimmengewicht beim Mandatsausgleich).

3.

Die „mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“ wird in § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG gesetzlich angeordnet. Das schließt die unverbundene Abgabe von Erst- und Zweitstimme natürlich aus. Gleich­wohl hält der Bundestag an der unverbundenen, der getrennten, der gespaltenen Abstimmung fest. Dieses sog. „Stimmensplitting“ gehört millionenfach „contra legem“ zum Erscheinungsbild aller Bun­destagswahlen, ausgenommen die von 1949 als der Stimmzettel nur einmal gekennzeichnet werden konnte. Außerdem ist das Splitting die Hauptursache für die leidigen Überhänge.

4.

Bei der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag gab es 46 Überhangmandate. Diese wurden „ausgegli­chen“. Doch Wahlen werden ausgezählt, niemals aber ausgeglichen. Der Ausgleich wurde den Wäh­lern nachträglich oktroyiert. Wer das Wahlergebnis ausgleicht, der verfälscht es auch. Zu allem Über­fluss erfolgte der Ausgleich nicht durch 46, sondern durch 65 nachgeschobene Aufstockungsmandate. Der Ausgleich war also größer als der Überhang, und es entstanden 19 überhanglose Ausgleichsman­date. Der Bundestag behauptet sogar, diese vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen habe das Ver­fassungsgericht in seiner Entscheidung zur Deckelung der Überhangmandate (BVerfG v. 25.7. 2017, BVerfGE 131, 316 (357, 365 ff.)) so und nicht anders „nahegelegt“, d.h. mehr oder weniger verlangt.

5.

Das Verfassungsgericht hat schon 2008 mehr Normenklarheit und Verständlichkeit bei der Sitzvertei­lung auf die Parteien des Deutschen Bundestags angeordnet. (BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266 (316).) Der Beschwerdegegner ist mit der Umsetzung seit 10 Jahren im Verzug. Durch die neu einge­führten Ausgleichsmandate ist das Gesetz sogar noch komplizierter geworden als es ohnehin schon war. In seinen Entscheidungsgründen bringt der Bundestag jedoch zum Ausdruck, er wolle die höchst­richterliche Anordnung auch in Zukunft ignorieren.

Begründung der Beschwerde im Detail

Die mehr als 190 Beschwerdeführer halten an der Begründung ihres ursprünglichen Einspruchs gegen die Bundestagswahl v. 24.9.2017 (WP 1293/17) auch weiterhin uneingeschränkt fest und legen den Schriftsatz bei, der schon dem Deutschen Bundestag vorlag. Vgl. Anlage Nr. 3.

Zu Ziff. I, 2, a der Entscheidungsgründe

Gesetze sind dazu da, beim Wort genommen zu werden. Das tut der Bundestag nicht. Zwar hebt er in seinen Entscheidungsgründen (BT-Drucksache 19/9450 S. 50 ff) zutreffen hervor, der Wahlgesetzge­ber habe sich für eine „mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“ entschieden. Im gleichen Atemzug betont er aber, dieses Wahlverfahren sei „im Grundsatz eine Verhältniswahl“. Doch so ist es nicht. Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Und diese sind miteinander zu verbinden. Was das konkret zu bedeuten hat, wird den einzelnen Vorschriften des BWahlG auf vielfache Weise näher bestimmt. Das Wahlsystem wird deshalb allgemein als „personalisierte“ Verhältniswahl bezeichnet, ist also eine verbundene Doppelwahl und keine bloße Spiel- oder Unterart der Verhältniswahl.

Dabei fällt sofort auf: Das gesamte Wahlgebiet ist in 299 Wahlkreise unterteilt. Das Parlament zählt aber im Normalfall 598 Mitglieder. Die „personalisierte“ Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstimme erfasst also nur einen Teil der Abgeordneten. Es können überhaupt nur 299 Abgeordnete mit beiden Stimmen gewählt werden, vorausgesetzt es wird mit beiden Stimmen im Verbund abgestimmt. Selbst wenn alle Wähler beide Stimmen 2017 den Bewerbern ein und derselben hätten Partei zukommen las­sen – was die Splittingwähler millionenfach gar nicht getan haben! – konnten sie damit trotzdem nicht erreichen, dass alle 709 Abgeordneten mit beiden Stimmen gewählt wurden. Dazu ist die Zahl der 299 Wahlkreise viel zu klein.

Das aktive und das passive Wahlrecht sind also nicht deckungsgleich. Vereinzelt wird deshalb das duale Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme zutreffend als „teilpersonalisierte“ Verhältniswahl be­schrieben. Die fälschlich so genannte „personalisierte“ Verhältniswahl ist in Wahrheit also ein Bruch­stück, ein Fragment, ein Torso. Und das verkennt die herrschende Meinung, der sich der Bundestag in seinen Entscheidungsgründen bedenkenlos anschließt. Die tatsächlich nur „teilpersonalisierte“ Ver­hältniswahl ist in ihrem Kern also eine sog. „Grabenwahl“, weil höchstens 299 Abgeordnete mit bei­den Stimmen gewählt werden können, der verbleibende Rest aber nur über eine Stimme, die Zweit­stimme in den Bundestag gelangt. Irgendwelche Einlassungen des Antragsgegners zur Verfassungs­frage dieser eigentümlichen „Grabenwahl“ sucht man in den Entscheidungsgründen vergebens. Im Gegenteil erklärt der Bundestag sogar, er sei für Verfassungsfragen gar nicht zuständig. Diese seien dem Verfassungsgericht vorbehalten.

Bei der Bundestagswahl wurden nur 299 Abgeordnete direkt gewählt. Es sind aber 709 Mitglieder in den Bundestag eingezogen. 410 Abgeordnete können also nicht direkt gewählt worden sein. Schlüsselt man auch diese Zahl auf, dann zogen 299 über die Listen der Parteien in das Berliner Parlament ein. Hinzu kamen 46 Listenplätze, die von den Direktmandaten abgetrennt wurden, weil die Wähler die Erst- und die Zweitstimme nicht im Verbund abgegeben haben, sondern es vorzogen, beide Stimmen zu separieren und damit „taktisch“ abzustimmen. Diese zusätzlich entstandenen 46 Listenplätze, die vor allem durch das Stimmensplitting entstanden sind, werden seit der Bundestagswahl von 2013 „ausgeglichen“. 2017 gab es aber nicht 46 sondern 65 nachgeschobene Aufstockungsmandate, bei denen eine eigenständige, konkret auf den Ausgleich abstellende Wahlhandlung gefehlt hat. (Näheres dazu unten unter I, 2, c )

Der frühere Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz hat sich sehr kritisch zur Grabenwahl ein­gelassen. In einer Festschrift für seinen Richterkollegen Winfried Hassemer (2010, S 111 ff) hat er einen Beitrag veröffentlicht, der den Titel trug: „Bigamie im Wahlrecht? Zweifel an dem Graben­system“. Mahrenholz führt darin aus, das Verfassungsgericht habe das Grabensystem niemals einer grundlegenden Bewertung unterworfen, obwohl selbst nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung Anlass genug dazu bestanden hätte. Und diese Stimme des Schrifttums hat Gewicht, auch wenn sie nicht zur herrschenden Meinung zählt. Schwerer wiegt jedoch die Entscheidung des Landesverfas­sungsgerichts von Schleswig- Holstein (LVerfG v. 30.8.2010, Az 3/09 und 3/10; Nord-ÖR 19/2010, S. 389 und 410 ff). Das Landeswahlgesetz fußt wie das BWahlG auf dem Verfahren der „personalisier­ten“ Verhältniswahl. Die Verfassungsrichter in Kiel stellten dazu fest: „Als verbundenes und einheit­liches Wahlsystem schließt es eine die Grundsätze der Mehrheits- und der Verhältniswahl nebenein­ander stellendes Grabensystem aus.“ Die Verbundenheit beider Stimmen ist also unverzichtbar. Und das schließt das Stimmensplitting aus.

Die grundrechtlich angeordnete Unmittelbarkeit der Wahl ist nur bei 299 Abgeordneten gegeben. 410 Mitglieder des Bundestages wurden 2017 nicht unmittelbar gewählt. In der Wahl von 2017 wurde also eine gewaltige Personalisierungslücke sichtbar. Hinzu kommt die Nachrücker-Entscheidung v. 26.2. 1998 (BVerfGE 97, 317 (323)). Das Gericht hält darin fest: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Es ist Sache des Verfassungsgerichts klarzustellen, was das im Zusammenhang mit den 410 nicht direkt gewählten Abgeordneten zu bedeuten hat und wie das mit den zahlreichen abwei­chenden Fundstellen der höchstrichterliche Rechtsprechung zusammenpasst, die der Antragsgegner zitiert.

Da dies ein grundlegender Richtungswechsel in der höchstrichterlichen Rechtsprechung sein könnte und früher auch der Erste Senat für das Wahlrecht zuständig war, stellt sich – wie oben schon gesagt – die Frage, ob diese Entscheidung durch den Großen Senat zu treffen ist. Wenn „personalisierte“ Ver­hältniswahl, dann für alle Abgeordneten. Dann muss die Zahl der Wahlkreise mit der Zahl der Sitze im Parlament übereinstimmen. Dann müssen alle Abgeordneten ohne Ausnahme mit beiden Stimmen gewählt werden können und tatsächlich auch gewählt werden. Ist es anders, würde dadurch der Grund­satz der Wahl unter gleichen Bedingungen verletzt. Bei der Wahl vom 24.9.2017 blieb die Zahl der Wahlkreise jedoch weit hinter der Zahl der Abgeordneten zurück. Von einer gleichen Wahl konnte daher keine Rede sein.

Im Übrigen darf hier auf den „Gegenkommentar“ hingewiesen werden, der 2018 in 2. Aufl. 2018 er­schienen ist, den der Antragsgegner in seinen Entscheidungsgründen aber vollkommen übergeht. Be­sonders einschlägig sind hier die nachfolgend aufgezählten Fundstellen: Zu Art. 20 GG (S. 11 f.); Zu § 38 GG, (S. 15 f., lit. b); Zu § 4 BWahlG, Vorbemerkung (S. 50 ff.); Zu § 5, (S. 54 ff.); Zu § 15 Abs. (1) (S. 74 f.).

Noch zu Nr. I, 2, a) der Entscheidungsgründe:

Das sog. „negative“ Stimmengewicht gehört zu den ominösen Paradoxien des dualen Wahl­systems mit zwei Stimmen. Der BVerfG hat in seiner Entscheidung v. 3.7.2008 (BVerfGE 121, 216) ohne Wenn und Aber unterbunden, dass eine Bundespartei daraus einen Vorteil erlangt, wenn eine Landespartei nicht mit beiden Stimmen gewählt wurde. Der Wahlgesetzgeber hat mit der Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 25. November 2011 (BGBl I, S 2313) darauf regiert und die wider­legbare Vermutung der Vorschrift in § 7 BWahlG gestrichen, dass die Landeslisten zu Bundeslisten zusammenzufassen seien. Gewählt wird nicht nach einem unitarischen, sondern einem nur mehr fö­derativ organisierten Wahlverfahren. Ober- und Unterverteilung gehört somit der Vergangenheit an. Bundeslisten gibt es nicht mehr. Zum Schrifttum vgl. „BWahlG Gegenkommentar“, 2. Aufl 2018: zu § 7 (S. 71 f.). Dem Paradox des „negativen“ Stimmengewichts wäre damit der Boden entzogen wor­den. Doch dem ist nicht so.

Tatsächlich sind die in § 7 BWahlG gestrichenen Vorschriften über Zusammenfassung zu Bundesli­sten mit anderen Worten in § 6 Abs. 5 und Abs. 6 BWahlG übernommen, ja sogar verschärft worden. Eine Bundespartei kann also weiterhin sehr wohl Vorteile daraus ziehen, wenn die Landesparteien nicht mit beiden Stimmen gewählt wurden. Sie kann zugleich von Überhängen und Ausgleichsman­daten profitieren. So war die SPD 2017 von drei Überhangmandaten begünstigt (eines in Bremen, und zwei in Hamburg), die dieser Partei in den Augen der herrschenden Meinung gar nicht zustehen, trotz­dem konnten die Sozialdemokraten für sich 19 Ausgleichsmandate „herausschinden“. (Vgl. Bundes­wahlleiter, Endgültige Wahlergebnisse 2017, Heft 3, Seite 390.)

Noch deutlicher wurde das bei der Wahl von 2013. In den Augen der herrschenden Meinung war die CDU durch 4 Überhänge ungerechtfertigt „bereichert“ und kam trotzdem in den Genuss von 13 Aus­gleichsmandaten. Die CDU hat als Bundespartei alleine sämtliche Überhänge erlangt und wurde mit 13 Ausgleichsmandaten gleichzeitig auch der größte Ausgleichsprofiteur. Viel widersinniger geht es nicht. Das „negative“ Stimmengewicht ist also keineswegs verschwunden. Die Beschwerdeführer ha­ben daher gerügt, dass im Zusammenhang mit den neu eingeführten Ausgleichsmandaten das „nega­tive“ Stimmengewicht stärker hervorgetreten sei als je zuvor. Und dieser Vorwurf wiegt schwer, weil das BVerfG in seiner Entscheidung 3.7.2008 (BVerfGE 121, 216) festgehalten hat, das Wahlrecht müsse frei sein von widersinnigen Effekten. „Negative“ Stimmengewichte welcher Art auch immer könnten vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben. Wer die Entscheidungsgründe des Bundestages zu Hand nimmt, findet darin jedoch kein Wort zu diesem von den Beschwerdeführern erhobenen Vor­wurf.

Vielmehr überlässt der Bundestag die Gegenrede dem Bundesminister des Inneren und zitiert dessen Stellungnahme (unter IV., Ziff. 2, (Seite 48)) wie folgt: Die Einspruchsführer gingen von der unzutref­fenden Vorstellung aus „dass der Effekt des negativen Stimmengewichts deshalb gegeben sei weil Parteien mit Überhangmandaten auch noch Ausgleichsmandate erhielten“. Weiter heißt es dort: „Das Bundeswahlgesetz in der Fassung des 22. Änderung des Bundeswahlgesetzes v. 3. Mai 2013 realisiere kein Ausgleichssystem, bei dem beim Anfallen von Überhangmandaten bei einer Partei den anderen Parteien Ausgleichsmandate zugewiesen würden.“ Versucht man zum Kern dieser Aussage vorzudrin­gen, will der Bundesminister des Inneren offenbar sagen: Genau genommen seien Ausgleichsmandate gar keine Ausgleichsmandate, sondern ein „aliud“, also etwas anderes. Beim Anfallen von Überhän­gen bei einer Partei würden den anderen Parteien deshalb auch gar keine Ausgleichsmandate zugewie­sen. Tatsächlich lassen sich die Behauptungen des Bundesinnenministers mit den Veröffentlichungen des Bundeswahlleiters nicht in Übereinstimmung bringen. Der Bundeswahlleiter stellt unübersehbar fest, dass es 46 Überhänge gab, und dieser durch 65 Ausgleichsmandate sogar überproportional egali­siert wurden. (Vgl. Bundeswahlleiter, Endgültige Wahlergebnisse 2017, Heft 3, Seite 394).

„Negative“ Stimmengewichte hat das Verfassungsgericht bereits zweimal bedingungslos untersagt. Wenn auch in anderer Gestalt sind sie beim Mandatsausgleich – seit 2013 – häufiger anzutreffen als je zuvor. Doch der Bundestag zeigt keine Bereitschaft, daraus die notwendigen Konsequenzen zu zie­hen.

Zu Nr. I, 2, b) der Entscheidungsgründe:

Der Wahlgesetzgeber hat sich für eine Doppelwahl entschieden. Dieses Verfahren mit zwei Stimmen soll den Grundsätzen „einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ folgen und wird all­gemein als „personalisierte“ Verhältniswahl bezeichnet. Das ergibt sich aus dem Wortlaut von § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG. Eine verbundene Abstimmung schließt die unverbundene natürlich aus. Es trifft also „de lege lata“ nicht zu, dass die unverbundene, die getrennte, die gespaltene Abstimmung – die allgemein als Stimmensplitting bezeichnet wird – der Doppelwahl mit zwei Stimmen gleichsam „immanent“ sei, wie Strelen/Schreiber (BWahlG 2017, § 4, Rdnr. 5) fälschlich unterstellt. Erschwe­rend kommt hinzu, dass der Zweitstimmen-Abzug nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BWahlG das Stimmensplit­ting ausschließt. In den dort aufgezählten Fällen kann keine von der Erststimme abweichende Wahl mit der Zweitstimme getroffen werden. Stattdessen werden die entsprechenden Zweitstimmen kadu­ziert. – Die Erststimme hat also den Vorrang vor der Zweitstimme.

Das sog. Stimmensplitting ist eine Missachtung der personalisierten Verhältniswahl. Das ignoriert der Bundestag in seinen Entscheidungsgründen und setzt sich mit der irrigen Behauptung, die gespaltene Abstimmung sei „im geltenden Wahlrecht zugelassen“, über den in § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG nieder­gelegten Wortlaut hinweg. Dies ist auch dem Kommentar (Strelen/Schreiber, aaO, § 4 Rdnr 5) und den genannten Entscheidungen des BVerfGE 95, 35 (362) u.a. entgegenzuhalten, denen der Bundestag in seinen Entscheidungsgründen beipflichtet. Er verschweigt, dass der „Gegenkommentar“, (2. Aufl. 2018, zu § 1 Abs. 2, Seite 47) dem Stimmensplitting ablehnend gegenübersteht und dieser Kommen­tator in Internet schon früher gefordert hatte: „Das Stimmensplitting muss weg“. (Vgl. Publicus, / Der Online-Spiegel für das öffentliche Recht, Ausg. 2010.02.)

In jüngster Zeit wird das Stimmensplitting auch von anderen Vertretern des Schrifttums heftig kri­tisiert. In ihrem Beitrag für FAZ v. 9.5.2019: „Die Lebenslüge im deutschen Wahlrecht“ (Vgl. An­lage 5.) decken die beiden Staatsrechtslehrer, Sophie und Christoph Schönberger, den Widerspruch der gespaltenen Abstimmung auf. Der Wähler würde über die personelle Zusammensetzung einer Bundestagsfraktion entscheiden, „deren Zusammensetzung er mit der anderen Stimme gar nicht unter­stützt“. (Ähnlich Sophie Schönberger im Internet: Verfassungsblog 5.4.2019, (https://verfassungsblog.de/auf-dem-weg-zum-nataionalen-Volkskongress-warum-die-geschichte-der-perspnalisierten-Verhältniswahl-auserzählt-ist .)

Nicht zuletzt hat das Verfassungsgericht schon sehr früh auf mögliche „Manipulationsmöglichkeiten“ hingewiesen, die sich aus einer gespaltenen Abstimmung ergeben können. (BVerfGE 7, 66 (75).) Bei einer ergebnisoffenen Betrachtung lassen die einschlägigen Judikate – jedenfalls in ihrer Gesamtheit genommen – auch zu, das Stimmensplitting in Zweifel zu ziehen. So hat das BVerfG das sog. „nega­tive“ Stimmengewicht, das es ohne Stimmensplitting gar nicht geben würde, höchstrichterlich ohne Wenn und Aber unterbunden (BVerfG 121, 266). Und das kann man sehr wohl als implizite Untersa­gung des Splittings verstehen.

Anders als die unverbundene hat die verbundene Abstimmung, d.h. die sog. „personalisierte“ Verhält­niswahl ihren guten Grund. Wahlen sind einseitige, gemeinschaftlich getroffene Willenserklärungen des Wahlvolkes über die Personen, die es für die begrenzte Laufzeit einer Legislaturperiode im Parla­ment vertreten sollen. Strelen/Schreiber (BWahlG 2017, Einführung Ziffer 4) spricht zutreffend von einer „Personenauswahlentscheidung“. Hahlen/Schreiber (BWahlG 2017, § 48 , Rdnr. 13) geht dar­über noch hinaus und hält unbeirrbar an „dem in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verbürgten Prinzip der Per­sonenwahl“ fest.

Die Wirklichkeit ist eine andere. Mit der Zweitstimme wird auf den Stimmzetteln keine Person son­dern eine Partei gekennzeichnet. Doch Parteien sind als solche gar nicht wählbar. Diesen Missstand räumt der Bundestag in seinen Entscheidungsgründen (I, 2, a) jedenfalls anfangsweise selbst ein wie folgt: „Naturgemäß können nur natürliche Personen Abgeordnete sein.“ Wenn also auf den Stimm­zetteln mit der Zweitstimme gleichwohl eine Partei gekennzeichnet – d.h. angekreuzt – wird, die selbst nicht Abgeordnete sein kann, ist das nur dann zulässig, wenn mit der Erststimme zeitgleich eine Perso­nifizierung stattfindet, die den Makel heilt. Die Parteienwahl muss durch eine simultane Personenwahl ausgefüllt werden. Beide Entscheidungen sind also im Verbund zu treffen und können nicht von ein­ander separiert werden. Der gesetzlich angeordnete Verbund von Erst-und Zweitstimme wird beim Vollzug der Wahlhandlung mit zwei Stimmen tatsächlich jedoch „contra legem“ auseinandergerissen.

Wohlgemerkt geht es hier nicht um eine Kritik am Bundeswahlgesetz. Das Gesetz schreibt „de lege lata“ die Verbundabstimmung vor. Es geht vielmehr um den gesetzwidrigen Vollzug der hybriden Zwillingswahl in der Praxis, bei der beide Stimmen gegeneinander gerichtet werden und deshalb die Willenserklärung des Wählers ihre Eindeutigkeit verliert. Eine Stimme ist genug. Wenn aber partout mit zwei Stimmen gewählt werden soll, ist das zulässig, wenn der Verbund der beiden Stimmen ge­wahrt bleibt, im Endergebnis also ein und derselbe Abgeordnete zweimal gewählt wird.

Niemand kann physisch zweimal im Bundestag sitzen. Wenn ein Abgeordneter mit beiden Stimmen gewählt wurde, ist das umständlich, geht aber in Ordnung, solange beide Stimmen im Ergebnis nur zu einem Mandat führen. Anders liegt der Fall bei der gespaltenen Abstimmung. Hier führen beide Stim­men nicht zu einem Mandat, weil ein und derselbe Abgeordnete zweimal gewählt wurde. Hier wird die Verbindung zwischen Erst- und Zweitstimme auseinandergerissen und richtet sich auf zwei ver­schiedene Mandate. Das eine entsteht aus der Erststimme, das andere aus der von der Erststimme systemwidrig abgetrennten Zweitstimme. Es wird also nicht ein und derselbe Abgeordnete zweimal gewählt, sondern über zwei verschiedene Abgeordnete jeweils einmal abgestimmt. Durch das Splitting verdoppelt sich also der Erfolgswert beider Stimmen.

Der Bundestag hält trotzdem am Stimmensplitting fest. Er zeigt in seinen Engscheidungsgründen kei­nerlei Bereitschaft, die offensichtliche Verdoppelung des Erfolgswertes der Wahl durch die gespaltene Abstimmung mit zwei Stimmen nachzuvollziehen und macht sich dadurch zum Realitätsverweigerer. Er verkennt deshalb auch, dass im Stimmensplitting eine Hauptursache für die Überhangmandate zu finden ist: Aus der verbundenen Abstimmung mit Erst- und Zweitstimme entsteht nur ein Mandat, bei der unverbundenen sind es dagegen zwei.

Nach Auffassung von Strelen/Schreiber (BWahlG 2017 § 4, Rdnr 5) kann „das Auseinanderklaffen von Erst- und Zweitstimme“ nur im Wege der repräsentativen Wahlstatistik – d.h. durch Stichproben – quantifiziert werden. Das trifft aber nicht zu. Das Stimmensplitting lässt sich durch Subtraktion sehr einfach ermitteln. Dabei kommt ans Licht, dass die Wähler davon millionenfach Gebrauch machen. Sei es dass sie die fälschlich sog. „Leihstimmen“ – die man nicht zurückbekommt – verschenken. Sei es dass der Transfer der Erststimmen den örtlichen Wahlkreis-Bewerber einer Wunschkoalition dem Wahlsieg näher bringt, weil er nicht von den Anhängern einer, sondern von zwei Parteien gewählt wurde. Und dass dadurch Überhänge entstehen können, gehört mit zum Kalkül. Doch man darf sich nichts vormachen: Das ist keine Petitesse, das kommt millionenfach „contra legem“ vor. Insgesamt 3,8 Mio. Erststimmen-Wähler gaben 2017 der Landesliste ihrer Partei nicht die Zweitstimme. Und rund 3,3 Mio. Zweitstimmen-Wähler gaben dem örtlichen Wahlkreis-Kandidaten ihrer Partei nicht die Erststimme. Vgl. Anlage Nr. 4 (mit tabellarischer Darstellung und Rechenweg).

Das Stimmensplitting widerspricht „den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Ver­hältniswahl“, die in § 1 BWahlG angeordnet wird, und zwar fundamental. Es stört den Gleichschritt –– den „pas de deux“ – zwischen Erst- und Zweitstimme und ist die Hauptursache für die sog, Über­hangmandate. Ohne Stimmensplitting könnten die Überhänge in den einstelligen Bereich zurückge­drängt werden. Der Mandatsausgleich wäre dann obsolet.

Zum Schrifttum vgl. auch „BWahlG Gegenkommentar“ (2. Aufl. 2018): zu § 1 Abs. (2), (S. 47).

Zu I, 2, c der Entscheidungsgründe:

Der Antragsgegner könnte speziell für die Ausgleichsmandate gar keine Stimmzettel beibringen. Es gab sie nicht, weder 2017 noch 2013. Wenn die Zahl der Mandate zum Ausgleich für die Überhänge – warum auch immer – aufgestockt werden soll, dann erfordert das auf jeden Fall eine nachträgliche Wahlentscheidung durch den Souverän des Staates: das Wahlvolk. Diese lehnt der Antragsgegner jedoch ab. Volksvertreter wird man durch Wahl und nur durch Wahl. Es gab aber 2017 weder eine Eventualstimme für die Ausgleichsmandate, noch eine richtige Nachwahl mit allem was dazugehört. Insbesondere gab es keinen amtlichen Stimmzettel, mit dem entschieden worden wäre, wer von welcher Partei – oder als Parteiloser? – in welchem Bundesland denn ein Aufstockungsmandat erhalten soll. „Die Wahl erfolgt auf amtlichen Stimmzetteln.“ (Vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) Die Form­pflicht ist zwingend. Gab es keine Stimmzettel, dann gab es auch keine Wahl. Vgl. dazu im Internet: „Die Figur des nicht-gewählten Abgeordneten im Deutschen Wahlrecht“, PDF (26.2.2018), www.europolis.org.

„Ausgleichssitze sind Zusatzsitze.“ So zutreffend Strelen/Schreiber, BWahlG 2010, § 6, Rdnr. 29. Sie werden den Wählern nachträglich oktroyiert. Bei Überhangmandaten ist das nicht der Fall. Sie ent­stehen nicht nach der Wahl, sondern in der Wahl, und zwar durch die gespaltene Abstimmung mit Erst- und Zweitstimme, also durch die Verletzung der personalisierten Verhältniswahl, die das sog. Stimmensplitting zwangsläufig nach sich zieht. Das verkennt der Bundestag. Er geht von der irrigen Annahme aus, es genüge, wenn die Wähler lediglich die Quoten bestimmen, mit denen die Fraktionen in das Parlament einziehen, während die Zahl der Abgeordneten – aus welchen Gründen auch immer – über den Kopf der Wähler hinweg nachträglich in beliebiger Höhe obrigkeitlich aufgestockt werden könne. Der Bundestag kann in dem Urteil zur Deckelung der Überhänge v. 25.7.2012, (BVerfGE 131, 316), keine Fundstelle ausfindig machen, in der das höchstrichterlich gebilligt wurde. Das behauptet er aber.

Wer das Wahlergebnis nachträglich ausgleicht, der verfälscht es auch. Niemand ist befugt – über die Sperrklausel hinausgreifend – zum zweiten Mal in des Ergebnis der Wahl einzugreifen, um es zu deckeln, zu bereinigen, zu verbessern oder auszugleichen. Ein solcher Eingriff in die Volkssouveräni­tät ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Der Antragsgegner wendet in den Entscheidungsgründen (Ziff. I 2 c) ein, das Verfassungsgericht habe „einen Ausgleich von Überhangmandaten durch die Zu­teilung von Ausgleichsmandaten nahegelegt. (BVerfG 131, 316. (357, 365 f))“. Daraus folge geradezu der „gesetzgeberische Auftrag“ zur Erhöhung der Sitzzahlen. Tatsächlich ist das nicht der Fall. Das Gericht ist bisher noch nie zu den Ausgleichsmandaten angerufen worden. Es hat allein zu den Über­hängen geurteilt und diese gedeckelt. Das genannte „obiter dictum“, auf die der Bundestag abzielt, ist eine Randbemerkung, keine höchstrichterliche Anordnung. Diese Randbemerkungen gibt es, das ist unstreitig. Umgangssprachlich formuliert hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber wohl „den klei­nen Finger gereicht. Doch der nahm die ganze Hand“.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Ausgleich größer ist als der Überhang. Es gab 46 Überhänge – mehr als je zuvor! Das obwohl das Verfassungsgericht eine Deckelung bei mehr 15 durchsetzen woll­te. Diese Überschreitung der höchstrichterlich gezogenen Obergrenze wurde aber nicht durch 46, son­dern durch 65 Ausgleichsmandate egalisiert, was immer das bedeuten soll. Es gibt insgesamt also 19 überhanglose Ausgleichsmandate, eine Strapaze für jede Logik in der Jurisprudenz. Der Bundestag geht in seinen Entscheidungsgründen darauf gar nicht näher ein. Hätte er es getan, könnte er nicht be­haupten, das Verfassungsgericht habe auch das nahegelegt. Der Ausgleich kann niemals größer sein als der Überhang. Eine darauf abzielende Fundstelle gibt es in der Entscheidung zur Deckelung der Überhänge nicht. Das Verfassungsgericht hat den überproportionalen Mandatsausgleich weder ver­langt noch irgendwie angedeutet. An anderer Stelle hat das Verfassungsgericht vielmehr gesagt: „Ein Wahlsystem, auf dem die Mandatsverteilung beruht, muss grundsätzlich frei sein von sinnwidrigen Effekten.“ (Vgl. BVerfG 121, 216.)

Den 65 nachgeschobenen Aufstockungsmandaten fehlt die demokratische Legitimation. Sie sind des­halb grob verfassungswidrig. Werden Aufstockungsmandate nachgeschoben, muss auch die freie Ent­scheidung der Wählerschaft nachgeschoben werden, wer, von welcher Partei, in welchem Land ein solches Zusatzmandat erhalten soll. Sie fehlt und das begründet einen hochgradig mandatsrelevanten Wahlfehler.

Zu I, 2, d) der Entscheidungsgründe:

Der Bundestag wendet in seinen Entscheidungsgründen ein, es genüge, wenn der Wahlleiter das Wahlgesetz fehlerfrei anwenden könne. Er setzt sich damit über die ausdrückliche Anordnung des BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266 (316) hinweg, dass nicht nur für den Wahlleiter, sondern für „die Wähler“ mehr Normenklarheit und Verständlichkeit zu schaffen sei. Diese fehlt nach wie vor. Das hat die empirische Sozialforschung schon früher kritisiert. So kam schon Heiko Gothe in einer repräsentativen Umfrage, die von „infratest dmap“ im April 2013 durchgeführt und unter den Titel: „Wahlsystem ohne Wissen“ veröffentlicht wurde, zu dem Ergebnis, knapp die Hälfte der Be­fragten könne die Erst- und die Zweitstimme nicht zutreffend auseinanderhalten. Die Wahlen würden „von einem uninformierten Elektorat entschieden“. Unter dem Titel „Denn sie wissen nicht, was sie tun (…)“ beklagte lange zuvor schon Rüdiger Schmitt-Beck (ZParl 7/1993, S. 393 ff) die fehlende Transparenz des deutschen Wahlrechts.

Auf die zahlreichen Details des völlig überfrachteten „Regelungsgeflechts“ mit zwei Stimmen ging „infratest dimap“ gar nicht ein. Die gewöhnlich anzutreffenden Wähler wissen nicht was eine „perso­nalisierte“ Verhältniswahl ist. Auch das Stimmensplitting (§ 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG) durchschauen viele Wähler nicht oder nur sehr bedingt. Ebenso ergeht es ihnen mit dem Zweitstimmen-Abzug (§ 6 Abs. 1 Satz 2 BWahlG); mit der Verteilung der Stimmen auf die Sitze der Parteien nach Sainte-Lague/Shepers (§ 6 Abs. 2 BWahlG), mit der Auswirkung der Grundmandatsregelung auf die Zweit­stimme (§ 6 Abs. 3 BWahlG); mit den Überhangmandaten (§ 6 Abs. 4 Satz 2 BWahlG); mit den Aus­gleichsmandaten bei der Ober- und Unterverteilung (§ 6 Abs. 5 und 6 BWahlG); mit den Ergänzungs­mandaten (§ 6 Abs. 7 BWahlG); mit dem Privileg der Listenwahl für die Parteien (§ 27 Abs. 1 Satz 1 BWahlG); wie mit den Regelungen für die Berufung von Listennachfolgern und Ersatzwahlen (§ 48 BWahlG) etc.. Auch das ominöse „negative“ Stimmengewicht spielte bei der Befragung von „infratest dimap“ keine Rolle.

Das Verfassungsgericht hat es verlangt, die Einspruchsführer insistieren, der Bundestag lehnt es ab: „das für die Wähler nicht mehr nachvollziehbare Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzvertei­lung im Deutschen Bundestag auf eine neue und normenklare Grundlage zu stellen.“ (Vgl. BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266 (316). Dabei hat kein Geringerer als Bundestagspräsident, Norbert Lam­mert, schon in der 18. Legislaturperiode den Volksvertretern vorgehalten, dass überhaupt „nur eine Handvoll Abgeordneter“ die Sitzverteilung „unfallfrei“ erklären könne. So im politischen Magazin „Cicero“ 3/2015. Vgl. im Schrifttum auch, BWahlG Gegenkommentar: zu § 6, Vorbemerkung, S. 59 mit Hinweis auf H. Meyer, DÖV, 8/2015, S. 700.

Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Ein Teil der Wähler erkannte die Verdoppelung des Stimmener­folgs durch die gespaltene Abstimmung sofort. So fußten die berühmten Beschlüsse von Kreuth aus dem Wahljahr 1976 auf der Idee, in ausgewählten Wahlkreisen außerhalb Bayerns Kandidaten der CSU zur Wahl antreten zu lassen, in denen die CDU bisher nicht erfolgreich war. Die CDU sollte dort auf eine Kandidatur für die Erststimme verzichten und stattdessen den CSU-Bewerber unterstützen. Außerhalb Bayerns wollte die CSU ausdrücklich keine Landeslisten aufstellen. Ein Wahlkreis-Sieger der CSU hätte also immer zu einem Überhangmandat geführt. Seit Einführung der Ausgleichsmandate sollte es damit eigentlich vorbei sein. Trotzdem hält das Stimmensplitting unvermindert an, weil die Wähler das Verfahren ganz offensichtlich nicht durchschauen.

„Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl fordert ein Wahlverfahren, in dem die Wähler erkennen können (…) wie sich die eigene Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber aus­wirken kann.“ (BVerfG 121, 266) Unter dem geltenden Bundeswahlgesetz ist das offensichtlich nicht der Fall. Denn durch die neu geschaffenen Ausgleichsmandate ist das Gesetz noch komplizierter ge­worden als es ohnehin schon war. Das Wahlvolk weiß in der Wahl nicht, ob es zu Überhängen kommt und wie viele Ausgleichsmandate notwendig werden, um das auszugleichen. Das liegt in der Natur der Sache. Vollends überfordert sind aber auch die meisten der außergewöhnlich gut informierten Wähler, wenn sie z.B. erklären sollen, was ein „negatives“ Ausgleichsmandat ist, also eine Partei zum Aus­gleich ein Mandat abgeben muss, statt eines zu erhalten, wie die CDU 2017 in NRW. (Vgl. Bundes­wahlleiter, Endgültige Wahlergebnisse 2017, Heft 3, Seite 394 unter: „CDU“ und „NRW“.)

Die Aufforderung des Gerichts, für mehr Normenklarheit und Verständlichkeit zu sorgen, hat der Bun­destag bisher ignoriert und ist seit über 10 Jahren damit im Verzug. Schlimmer noch, in seinen Ent­scheidungsgründen gibt er sinngemäß zu erkennen, dass er die höchstrichterliche Anordnung auch in Zukunft ignorieren wird.

Zu II. Entscheidungsgründe:

Der Bundestag hält den Antrag auf vorläufigen Rechtschutz für „unzulässig“, den die Ein­spruchsführer im April 2018 an ihn gerichtet haben. Anders als das Bundesverfassungsgerichts-Gesetz sehe das Wahlprüfungs-Gesetz „keine Entscheidung im Wege einer einstweiligen Anordnung vor“. Der Beschluss des Bundestages über einen Wahleinspruch könne nur als endgültige Entscheidung ge­troffen werden. Der Antragsgegner weist in diesem Zusammenhang auf BT-Drucksache 11/7209, An­lage 11 hin. Eine analoge Anwendung von § 32 BVerfGG komme nicht in Betracht.

Verwunderung löst der Bundestag mit der „contradictio in adjecto“ aus, dass „keine Regelungslücke“ vorliege, der Gesetzgeber in § 9 WahlPrüfG jedoch „die Lückenhaftigkeit der Regelung erkannt und – wo notwendig – durch Verweis geschlossen“ habe. Anders als der Bundestag unterstellt, gibt es im Wortlaut von § 9 WahlPrüfG keinen Hinweis, dass die darin anzutreffende Aufzählung erschöpfend ist und schon gar nicht, dass die Vorschriften in §§ 935 bis § 942 ZPO auf die Wahlprüfung keine Anwendung finden sollen. Die Beschwerdeführer gehen daher davon aus, dass § 9 WahlPrüfG die Anwendung der ZPO-Vorschriften über den vorübergehenden Rechtsschutz nicht ausschließt sondern einschließt.

Die Wahlprüfung ist ein Grundrecht, bleibt aber nach Auffassung des Antraggegners in der Eingangs­instanz des Deutschen Bundestages ohne vorübergehenden Rechtschutz. Das kann es nicht sein. Die in § 9 WahlprüfG getroffene Regelung enthält nach Auffassung der Beschwerdeführer keine abgeschlos­sene Aufzählung. Daher liegt es nahe, die Bestimmungen in §§ 935 bis § 942 ZPO zur Anwendung zu bringen. Ist das nicht der Fall, wird eine Lücke im Wahlprüfungsgesetz sichtbar, muss sie nach den Grundsätzen der lückenschließenden Rechtsauslegung geschlossen werden.

Deshalb bitten die Beschwerdeführer das Gericht, hier Klarheit zu schaffen und zu entscheiden, ob das Grundrecht der Wahlprüfung in der Eingangsinstanz des Bundestages – für die Dauer von mehr als einem Jahr – tatsächlich auch weiterhin ohne vorläufigen Rechtsschutz bleibt.

Zu III. der Entscheidungsgründe:

Mit dem Antrag vom 9. Januar 2019 haben die Antragssteller gerügt, dass in Baden-Württemberg nach dem Ausscheiden von Prof. Stephan Harbarth aus dem Bundestag das Direktmandat in seinem Wahlkreis Nr. 227 (Rhein-Neckar) vakant wurde und deshalb die Sollzahl von 299 mit der Erststimme in Wahlkreisen zu wählenden Abgeordneten auf Dauer unterschritten wird. Der Antrags­gegner hat die Befassung mit diesem Wahleinspruch zugelassen, aber für unbegründet erklärt. Die Beschwerdeführer widersprechen dem und können zur Begrünung auf die Veröffentlichung hinwei­sen, die im Internet am 7.3.2019 unter dem Titel: „Harbarth und das Wahlrechtswirrwarr“ publiziert wurde. (Vgl. Publicus – Der Online-Spiegel des öffentlichen Rechts, Ausgabe 2019-03.) Die darin ausgeführte Argumentation entspricht dem bisherigen Vortrag der Einspruchsführer. Es ist daher zulässig, daraus den nachfolgenden Auszug zitieren:

„Ausgerechnet der Wechsel von Prof. Stephan Harbarth zum Bundesverfassungsgericht spielt den Beteiligten des Wahleinspruchs WP 193/17 ein neues Argument in die Hand: Nach dem Ausscheiden des neuen Verfassungsrichters aus dem Bundestag gibt es im Wahlkreis 277 (Rhein-Neckar) keinen direkt gewählten Abgeordneten mehr. Denn die Nachrückerin, Nina Warken, ist über die Landesliste der CDU, d.h. über die Zweitstimmen in den Bundestag eingezogen, also nicht mit den Erststimmen gewählt worden. Das Gesetz hält in § 1 BWahlG dagegen fest, dass im Bundestag 299 direkt gewählte Abgeordnete Sitz und Stimme haben. Diese Sollzahl wird nach den Ausscheiden von Harbarth unter­schritten. Sein Direktmandat bleibt vakant.

Das Verfassungsgericht hatte in der sog. Nachrücker-Entscheidung (BVerfG v. 26.2. 1998, BVerfGE 97, 317) die sog. Listennachfolge in Überhangmandate untersagt. Darüber hat sich der Gesetzgeber bei der Reform des Wahlrechts vom 3. Mai 2013 (BGBl I S. 1082) hinweggesetzt und stattdessen die Ausgleichsmandate geschaffen. Wird ein Direktmandat vakant, sinkt die Zahl der Überhänge, nicht aber die Zahl der Ausgleichsmandate. Und das kann es nicht sein. Mindestens ein Abgeordneter aus Baden-Württemberg muss den Bundestag wieder verlassen. Der Präsident des Bundestags, Wolfgang Schäuble, hat im Berliner Parlament für Recht und Ordnung zu sorgen. Er muss den Abgeordneten, der ein überzähliges Ausgleichmandat bekleidet vom Ältestenrat ermitteln und nach Hause schicken lassen. Vgl. §§ 46 Abs. 1 Ziff. 2 und 47 Abs. 1 Ziff. 2 und Abs. 3 BWahlG. – So steht es im Gesetz!

Schon ein Jahr zuvor hat es einen ähnlichen Fall gegeben. Dr. Carola Reimann (SPD), hatte im Wahl­kreis Nr. 050 (Braunschweig) den Sieg errungen. Sie legte am 21.11.2017 Ihr Direktmandat nieder, war also nicht länger als zwei Monate Mitglied des Bundestages. Ihr Wahlkreis blieb vakant, weil am 23.11.2017 Marja Liisa Völlers nachrückte, die auf der Landesliste der SPD in Niedersachsen stand und noch nicht zum Zuge gekommen war. Zwar ist auch in diesem Fall ein Direktmandat durch einen Listenplatz ausgetauscht worden. Aber die SPD blieb in Niedersachsen ohne Überhangmandat. Daher gibt es in diesem Fall keinen Anlass, den Ausgleich zu verkürzen.

Wer den Überblick über diese hochkomplizierte Materie noch nicht verloren hat, der muss feststellen, dass inzwischen zwei Direktmandate vakant sind. Die Sollzahl der 299 direkt gewählten Abgeordneten ist also schon um zwei Köpfe gesunken. Dadurch ist aber nur in einem der beiden Fälle ein über­zähliges Ausgleichsmandat entstanden.

Der Fall Harbarth ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Wahlrechts-Wirrwarr ist viel größer als es scheint. Es geht nicht nur um das eine oder andere Ausgleichsmandat, das überzählig geworden ist. Es geht um die viel tiefer gehende Frage, ob das Ergebnis der Wahl über den Kopf der Wähler hinweg durch 65 nachgeschobene Zusatzmandate überhaupt „ausgeglichen“ werden darf. Um gar nicht davon zu reden, dass ja nur 46 Überhänge bei der Bundestagswahl 2017 entstanden sind, der Ausgleich also den Überhang zu allem Überfluss auch noch übersteigt. Und das ist „das Tüpfelchen auf dem i“, das in dem ganzen Tohuwabohu noch gefehlt hatte.

Das Volk tut seinen Willen in der unmittelbaren Wahl seiner Volksvertreter kund. Und niemand ist befugt über die Sperrklausel hinausgreifend noch einmal nachträglich in das Wahlergebnis einzugrei­fen, es erneut zu „verbessern“ oder irgendwie „auszugleichen“. Wer den Willen der Wähler aus­gleicht, der verfälscht ihn auch.“

Gestützt auf dieses Zitat bitten die Beschwerdeführer das Gericht höflich um Klarstellung, dass die in § 1 Abs. 2 BWahlG vorgeschriebene Zahl von 299 Direktmandaten im Laufe einer Legislaturperiode nicht dauerhaft unterschritten werden darf und bei einer Vakanz von Direktmandaten nachgewählt werden muss, wie das im Präzedenzfall des § 48 Abs. 2 BWahlG schon jetzt der Fall ist.

 Schlussbemerkung

Der Bundestag sei überfüllt. Das hat zutreffend der „zweite Mann“ des Staates, Bundestagspräsident, Wolfgang Schäuble, MdB, gegenüber Presse und Medien wiederholt zum Ausdruck gebracht. (Zuletzt: 151 ZDF v 27.7.2018). Schon sein Vorgänger im Amt des Bundestagspräsidenten, Prof. Norbert Lam­mert, MdB, kritisierte, der gewöhnlich anzutreffende Wähler könne das geltende Wahlrecht nicht mehr durchschauen. Beide, sowohl Schäuble als auch Lammert, schreckten aber davor zurück, von sich aus nach § 2 Abs. 2 WahlprüfG Einspruch gegen die Wahl einzulegen.

Auch hat sich der Deutsche Bundestag bei der Überprüfung der Wahl gegen beide Präsidenten gestellt und alle Wahleinsprüche ohne Aussprache und ohne Gegenstimmen geschlossen zurückgewiesen. Es ist daher nicht zu erwarten, dass der parlamentarische Gesetzgeber die oben aufgezeigten Missstände im BWahlG beseitigt.

Die mehr als 190 Beteiligten dieser Wahlprüfungs-Beschwerde bitten das Bundesverfassungsgericht – auch unter höflichem Hinweis auf die amtliche Beweiserhebung nach § 26 BVerfGG – mit dem gebo­tenen Nachdruck um antragsgemäße Entscheidung,

München, 3. Juni 2019, gezeichnet von Dr. Manfred C. Hettlage, Beteiligter zu 2.) und Gruppenbevollmächtigter i.S.v. § 2 WahlPrüfG). Die Bestätigung der Gruppenvollmacht weiterer Beteiligter folgt mit gesonderter Post.

 

Verzeichnis der Anlagen

Anlage Nr. 1:

Zehn Beitrittserklärungen mit Bevollmächtigung des Gruppenvertreters.

Anlage Nr. 2

Beschluss des Bundestages v. 9.5.2019, samt Beschlussempfehlung, BT-Drucksache 19/9450 v. 23.4.2019, Anlage Nr. 13, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/094/1909450.pdf

Anlage Nr. 3:

Ursprünglicher Schriftsatz, der dem Bundestag zur Begründung als Wahleinspruch WP 193/17 vorlag.  https://www.manfredhettlage.de/wahleinspruch-wp-19317/

Anlage Nr. 4:

Stimmensplitting 2017, 2013, 2009 / tabellarische Darstellung und Rechenweg; (entnommen aus „Gegenkommentar“, 2. Aufl. 2018, Tabelle Nr. 1 und Nr. 2 (S. 108 ff.)).

Anlage Nr. 5: 

Zum jüngsten Schrifttum:

Christoph und Sophie Schönberger, FAZ v. 9. Mai 2019: „Die Lebenslüge des deutschen Wahlrechts“; (ferner auchSophie Schönberger, https://verfassungsblog.de/auf-dem-weg-zum-nationalen-volkskongress-warum-die-geschichte-der-personalisierten-verhaeltniswahl-auserzaehlt-ist/);  und

Hettlage Manfred, C., Schrifttum zum Wahlrecht 2017 – 2019. https://www.manfredhettlage.de/schrifttum-zum-wahlrecht-2017-2019/

 

 

 

Wahleinspruch WP 193/17

Publiziert am 16. März 2018 von Manfred C. Hettlage

 

 

Anlage Nr. 3

 

 

Betreff: Wahleinspruch v. 20.11.2017 – WP 193/17

An den Deutschen Bundestag zu Hd. des Bundestagspräsidenten Platz der Republik 1, 11011 Berlin (Vorab per Fax: 030 227-36097) Per Einschreiben mit Rückschein

 

 

Einspruch gegen die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag gemäß Art. 41, Abs. 1, Satz 1 Grundgesetz

 

der Damen und Herren:

1.) Axel Schlicher, An der Neuwiesen 20 a), 67677 Enkenbach-Alsenborn;
2.) Dr. Manfred Hettlage, Nibelungenstr. 22, 80639 München, (Gruppenbeauftragter) 3.) Marena Bowden, Außerhalb Nieder­saulheim 4, 55291 Saulheim; 4.) Friedrich Schaffarth, Höhenweg 17, 50129 Bergheim;
5.) Oliver Krauss, Carlo-Mierendorff-Str. 25, 67574 Osthofen;
6.) Thomas Wolf, Hauptstr. 37, 67724 Höringen; 7.) Stefan Schmidt, Hinter den Gärten 37, 66287 Quierschied; 8.) Angela Mayer, Keltenweg 73, 67663 Kaiserslautern;
9.) Christian Kiefer, Potzemergarten 9, 54450 Freudenburg;
10.) Daniela Gmeiner, Meißenerstr. 41 a, 90522 Oberasbach; 11.) Michaela Gmeiner, Meißenerstr. 41 a, 90522 Oberasbach; 12.) Thomas Vogler, Rumfordstr. 17, 80469 Mün­chen; 13.) Ingo Klein, Ermlandstr. 3, 75181 Pforzheim;
14.) Rolf Lindner, Calandrellistr 15, 12247 Berlin;
15.) Stefanie Bauer, An den Neuwiesen 20, 67677 Enkenbach-Alsenborn; 16.) Kurt Frühauf, Randsiedlung 20, 67677 Enkenbach-Alsenborn;
17.) Günter Appel, Hohlstr, 22, 67724 Gonbach
18.) Rolf Heiss, An der Neuwiesen 20, 67677 Enkenbach-Alsenborn; 19.) Dr. Annelie Grasbon, Am Rain 15, 85767 Hettenshausen; 20.) Dr. Jürgen Frohwein, Dorfstr. 17, 14913 Hohengörsdorf;

und andere.

Die vorgenannten Wahlberechtigten legen hiermit beim Deutschen Bundestag (Einspruchsgegner), vertreten durch den Parlamentspräsi­denten, gegen die am 24.9.2017 abgehaltene Wahl zum 19. Deutschen Bundestag nach Art. 41 Abs. 1 Grundgesetz bzw. § 2 Abs. 1 und Abs. 2 WahlprüfG gemeinsam Einspruch ein. Gruppenbeauftragter im Sinne von § 2 Abs. 3 WahlprüfG ist Dr. Manfred Hettlage.

I. Zulässigkeit

Alle Einspruchsführer haben ihren Wohnsitz in Deutschland und sind beim Einwohneramt gemeldet. Zur Wahl des Deutschen Bundestages vom 24.9.2017 waren sie als Wahlberechtigte im Wählerver­zeichnis eingetragen.

Der Einspruch gegen die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag ist somit nach § 2 Abs. 2 WahlprüfG zulässig.

Antrag

Die Einspruchsführer beantragen gemeinsam, die Wahl zum 19. Deut­schen Bundestag zu verwerfen und mit den bereits aufgestellten Kandidaten unter einem verfassungskonformen Wahlgesetz zu wie­derholen. Das neu zu schaffende Wahlgesetz des Bundes muss insbe­sondere die unverbundene Wahl mit Erst- und Zweitstimme aus­schließen und den Eingriff in das Wahlergebnis durch nachgescho­bene Aufstockung der Listenplätze unterbinden.

III. Begründung im Überblick

In den Deutschen Bundestag sind 709 Abgeordnete eingezogen. Die exorbitante Aufblähung des Par­laments, das im Normalfall nur 598 Mitglieder hat, stößt auf allgemeine Ablehnung. „Viele teilen die Kritik, dass der Bundestag zu groß geworden ist“, bedauerte der designierte Bundestagspräsident, Wolfgang Schäuble, MdB, der „Bild am Sonntag“, die am Tag der Deutschen Einheit (3.10.17) er­schienen ist. Geht man der Sache auf den Grund, stellt sich heraus: Das 22. Wahlrechts-Änderungs­gesetz des Bundes ist eine in weiten Teilen verfassungswidrige Fehlkonstruktion. Hinzu kommt ein tw. ungesetzlicher Vollzug.

 

  1. Das duale Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme ist ein überfrachtetes Konstrukt, das allgemein als „personalisierte Verhältniswahl“ bezeichnet wird. Niemand kann 598 Sitze in Parlament durch eine simultane Direktwahl der Abgeordneten personalisieren, wenn es nur 299 Wahlkreise gibt. Es verblei­ben mindestens 299 Listenplätze, bei denen eine Personalisierung der Zweitstimme durch die Erst­stimme gar nicht möglich ist, also die blanke Verhältniswahl zum Zuge kommt. Dazu hat das Verfas­sungsgericht in der Nachrücker-Entschei­dung festgehalten: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Vgl. BVerfG v. 1998 BVerfGE 97, 317 (323).

 

  1. Die „negativen“ Stimmengewichte hat das Gericht in Karlsruhe zweimal höchstrichterlich verur­teilt. Vgl. BVerfG vom 3.7.2008, BVerfGE 121, 266; und BVerfG v. 25.7.2012, BVerfGE 131, 316. Bei der Bundestagswahl vom 24.9.2017 sind 46 Überhangmandate ent­standen. Sie wurden ausge­glichen, aber nicht durch 46, sondern durch 65 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich ist größer als der Überhang. 2017 entstanden bei der SPD 3 Überhänge und sie erzielte selbst 19 Ausgleichsmandate. Das „negative“ Stimmengewicht beim Mandatsausgleich liegt somit klar auf der Hand. Bei der Bundestagswahl v. 22.9.2013 waren 4 Überhangmandate entstanden. Sie wurden ausge­glichen, aber nicht durch 4, sondern durch 29 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich fiel also noch schwerer ins Gewicht als der Überhang. Die 4 Überhänge, die damals alle bei der CDU anfielen, führten bei eben dieser Partei zu 13 Ausgleichsmandaten.
  2. Die unverbundene Abstimmung mit beiden Stimmen – das sog. „Stimmensplitting – ist ungesetz­lich, gehört aber millionenfach zum gewohnten Erscheinungsbild aller Wahlen, ausgenommen die erste Bundestagswahl von 1949, als der Stimmzettel nur einmal gekenn­zeichnet wurde und das Stimmensplitting ausgeschlossen war. Zwei Stimmen sind zwei Wahlen, die nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG mit­einander verbunden werden sollen. Stattdessen wurden 2017 wie­derum beide Stimmen „contra legem“ millionenfach unverbunden ab­gegeben.
  3. Die Abgeordneten werden gewählt. So steht es im Grundgesetz. Niemand ist befugt, das Wahlergebnis nachträglich zu korrigieren, zu verbessern oder “auszugleichen“. Es kann nicht sein, dass die Wähler ihre Stimme abgeben und danach das Wahlergebnis abgeändert wird, aus welchen Gründen auch immer. Stimmen werden ausgezählt, nie­mals aber ausgeglichen. Werden Mandate nachgeschoben, muss auch eine Wahl darüber nachgeschoben werden, wer, von welcher Partei, in welchem Bundesland ein Aufstockungsmandat erhalten soll. Weil eine solche unmittelbare und freie Wahlhandlung fehlt, ist der Mandatsaus­gleich nicht demokratisch legitimiert. Ausgleichsmandate sind deshalb grob verfassungswidrig!
  4. Das Verfassungsgericht in Karlsruhe hat in der Nachrücker-Ent­scheidung v. 3.7.2008 BVerfGE 121, 266 (316) angeordnet „das für den Wähler nicht mehr nachvollziehbare Regelungsgeflecht der Be­rechnung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue und normenklare Grundlage zu stellen.“Diese höchstrichterliche An­ordnung hat der Gesetzgeber zu befolgen. Der Deutsche Bundestag hat das aber nicht getan. Er hat mehr Normenklarheit und Verständ­lichkeit herzustellen, ist damit aber seit 2008 im Verzug.

 

  1. Erweiterte Begründung

 

In den Bundestag, der im Normalfall 598 Mitglieder hat, zogen 709 Abgeordnete ein. Diese exorbi­tante Aufblähung der Mandate trifft in einer breiten Öffentlichkeit auf Unverständnis und Ablehnung. Insbe­sondere hat Bund der Steuerzahler dagegen Front gemacht und schon in der 18. Legislaturperi­ode beim Deutschen Bundestag vorsorglich eine Petition mit mehr als 87.000 Unterschriften einge­reicht, mit dem Ziel einen „XXL-Bundestag“ zu verhindern. Selbst Otto Hermann Solms hat in seiner Rede als Präsident der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestags am 24. Oktober 2017 die Aufblähung des Bundestages mit Blick auf die steigenden Personalkosten kritisiert und eine Rück­kehr zum früheren Wahlgesetz vorgeschlagen, in dem es noch keine Ausgleichsmandate gab.

Das Verfassungsgericht hatte in seiner Grundsatz-Entscheidung v. 25. 7. 2012 (BVerfGE 131, 316) die sog. „Überhänge“ gedeckelt: „Die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleich­heit der Parteien sind bei einem Anfall von Überhangmandaten von mehr als etwa einer halben Frak­tionsstärke verletzt.“ Mehr als 15 Überhang­mandate sind demnach unzulässig. Bei der Wahl vom 24.9.2017 sind 46 Überhänge entstanden, ein nie dagewesener Rekord. Der Überhang wurde ausge­glichen, aber nicht durch 46, sondern durch 65 nachge­schobene Ausgleichsmandate. Der Ausgleich ist also größer als der Überhang.

 

Inwieweit die Überschreitung der Zulässigkeitsgrenze von 15 Überhängen durch nachgeschobene Aufstockungsmandate geheilt werden kann, ließ das Gericht offen. Nirgendwo und niemals hat es jedoch seine Zustimmung gegeben, dass die nachgeschobene Aufstockung der Mandate den Überhang sogar noch übersteigt. Schon gar nicht hat das Gericht in Karlsruhe gebilligt, dass für diesen nachträglichen und über jedes Ziel hinausschießenden Eingriff in das Wahlergebnis eine konkret auf den Ausgleich bezogene Nachwahl fehlt, weil die Wähler gar nicht über den Ausgleich abgestimmt haben.

 

Zu Ziff. III/1

 

  1. a) Das duale Wahlsystem mit zwei Stimmen, die miteinander verbun­den sind, aber auch 2017 wie­derum millionenfach unverbunden ab­gegeben wurden, ist ein vollkommen überfrachtetes Konstrukt: Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Beide sind miteinander verbunden. So­weit die Doppelwahl nicht durch die unmittelbare Personenwahl ge­deckt ist, kann sie vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben. Denn die unmittelbare, d.h. namentliche Wahl der Abgeordneten gehört zu den in Erz gegos­senen Grundsätzen der Abstimmung über die personelle Besetzung des Deutschen Bundestages, wie sie in Art. 38 Abs. 1 GG garantiert wird. Die gewählten Abgeordneten sind „nur ihren Gewissen unterworfen“. Im zweiten Absatz der gleichen Verfassungsnorm heißt es ausdrücklich: „ (…) wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“Steine oder Tiere können nicht zu Abgeordneten gewählt werden. Es müssen volljährige, zu einer Gewissensentscheidung befähigte Personen sein, die auf dem amtlichen Stimmzetteln namentlich gekennzeichnet werden.

 

Das Wahlgesetz des Bundes führt in § 15 Abs. 1 BWahlG näher aus: „Wählbar ist, wer am Wahltag erstens Deutscher im Sinne des Arti­kels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist und zweitens das 18. Le­bens­jahr vollendet hat.“ Wählbar ist also nur eine natürliche Person, die das Alter der Volljährigkeit erreicht hat, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, zu einer Gewissensentscheidung befähig ist und die ihrer Aufstellung als Kandidat zustimmt. Das alles kann auf politische Parteien auch dann nicht zutreffen, wenn sie als eingetragene Parteien juristische Personen sind, die im Übrigen nur durch ihre Organe, d.h. den Vorsitzenden und den Vorstand handeln könnten. Kurzum erfolgt die persönliche Wahl, wie sie das Grundgesetz garantiert, auf amtlichen Stimmzetteln durch unmittelbare Kennzeich­nung einer natürlichen Person. (Personenwahl)

 

  1. b) Der Deutsche Bundestag besteht regulär aus 598 Mitgliedern. Da­von werden 299 mit der Erst­stimme unmittelbar gewählt. Insoweit ist auch in Deutschland die klassische Direktwahl in 299 über­schaubaren Wahlkreisen nach dem sog. „Westminster-Modell“ verwirklicht und so im Wahlgesetz verankert. Mindestens 299 Abgeordnete gelangen jedoch über die Landeslisten in den Bundestag, die von den Parteien in 16 Bundesländern aufgestellt werden. Sie werden nicht unmittelbar, sondern mit­telbar gewählt. Über die Listen der Parteien wird „en bloc“ abgestimmt. Aus ihnen kann keine na­mentliche Auswahl der Abgeordneten getroffen werden (geschlossene Listen). Die Listen sind un­vollständig. Auf ihnen werden nur die Namen der ersten fünf Listenbewerber aufgeführt. Die rest­lichen Bewerber sind den gewöhnlich anzutreffenden Wählern unbekannt.

Auf den Stimmzetteln wird mit der Zweitstimme der Name einer Partei gekennzeichnet. (Parteien­wahl) Und dazu hat das BVerfG in der Nachrücker-Entscheidung v. 26.2.1998, BVerfGE 97, 317 (323) festgehalten: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Diese Rechtsauffassung ist schon in der Vier-zu-vier-Grundsatzentscheidung des BVerfG v. 10.4.1997, BVerfGE 95, 335 an­zutreffen. Die Rechtsfolge liegt auf der Hand: Die Zweitstimme ist für sich alleine genommen nicht verfassungskonform. Sie bedarf der Personalisierung durch eine vorgeschobene Entscheidung mit der Erststimme. Doch niemand kann 598 Listenplätze, die sich aus den Zweitstimmen ergeben, durch eine gleichzeitige Erststimmen-Wahl personifizieren, wenn es nur 299 Wahlkreise gibt. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.

 

  1. c) Auch bei einer Doppelwahl mit zwei Stimmen muss die Zahl der Sitze im Parlament zwingend mit der Zahl der Wahlkreise deckungsgleich sein. Das war bei der Bundestagswahl vom 24.9.2017 offen­sichtlich nicht der Fall: 299 Abgeordnete wurden namentlich mit den Erststimmen in 299 überschau­baren Wahlkreisen gewählt. Der verbleibende Rest der Abgeordneten gelangte 2017 wiederum allein über die bloße Zweitstimme in das Parlament oder kam in den Genuss eines nachgeschobenen Aus­gleichsmandats, worauf unter Ziff. III/4 noch näher einzugehen ist. Im Deutschen Bundestag besteht also zur Zeit eine verfassungswidrige Personalisierungslücke von 410 Listenplätzen. Sie wurde nicht vom Wahlvolk selbst durch eine unmittelbare Personenwahl geschlossen wie sie das Grundgesetz verlangt. Diese Lücke wurde vielmehr durch die bloße Listenwahl ausgefüllt, bei der die politischen Parteien das Nominierungsmonopol für sich beanspruchen. 410 Abgeordnete werden also mittelbar gewählt. Den Wählern wird somit das Grundrecht auf unmittelbare Direktwahl der Volksvertreter aus der Hand gewunden. Die Volksvertretung wird zur Parteienvertretung degradiert.

 

Zu Ziff. III/2

 

Das Verfassungsgericht hat die sog. „negativen“ Stimmengewichte schon zweimal untersagt. Vgl. BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266; und BVerfG v. 25.7.2012, BVerfGE 131, 316. Trotzdem ist dieses paradoxe Phänomen beim Mandatsausgleich, der 2013 auch im Bund eingeführt wurde, regel­mäßig anzutreffen. Vgl. Hettlage, DÖV, 12/2016, S. 983 (985).

2017 hat die SPD in zwei Bundesländern zusammen drei „Überhänge“ (Direktmandat ohne Listen­platz) erzielt, zwei in Hamburg und eines in Bremen. Gleichwohl wurden der Partei insgesamt 19 nachgeschobene Aufstockungsmandate zugeteilt, ein „Verfahrensgewinn“ von 16 Sitzen. 2013 hatte die CDU in vier Bundesländern – in Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und im Saarland – je­weils einen Überhang erzielt und ging als alleinige Verursacherin der 4 Überhänge mit 13 von insge­samt 29 Aufstockungsmandaten zugleich als der größte Ausgleichsprofiteur aus der Wahl hervor. Das waren „netto“ 9 Zusatzmandate.

Zwei Stimmen sind zwei Wahlen, und zwar mit unterschiedlichen Wahlergebnissen. Es kann aber nicht sein, dass der Wahlgesetzgeber das schlechte Abschneiden einer Partei bei den Zweitstimmen durch einen nachgeschobenen Bonus an Listenplätzen belohnt. Weil das 2017 bei der SPD und 2013 bei der CDU der Fall war, ist das Paradox der „negativen“ Stimmengewichte offensichtlich nicht ausgeschlossen worden, wie es das Verfassungsgericht höchstrichterlich angeordnet hat. Wenn auch in anderer Gestalt als zuvor, tritt das „negative“ Stimmengewicht nach der Wahlrechtsreform von 2013 beim Mandatsausgleich deutlicher in Erscheinung als je zuvor. Und das ist mit dem Urteil v. 3.7.2008 unvereinbar.

 

Zu Ziff. III/3

 

  1. a) Die unverbundene Abstimmung, also das sog. Stimmensplitting, ist ungesetzlich. Nach dem Wort­laut von § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG wer­den die Abgeordneten, „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt“. Das schließt die unverbundene, die gespaltene, die getrennte Vergabe beider Stimmen natürlich aus. Trotzdem gehört die gespaltene Abstimmung seit 1953 millionenfach zum gewohnten Erscheinungsbild aller Wahlen und ist die Hauptursache für die leidigen Überhangmandate. Vgl. Hettlage, Publicus / Der Online-Spiegel des Öffentlichen Rechts, und Ausg. 2017-9 und Ausg. 2017-11:

https://publicus.boorberg.de/zwei-stimmen-ein-mandat/;

Zieht man die Erststimmen von den Zweitstimmen ab, (bzw. umge­kehrt) ergibt sich für die Bundestagswahl v. 22.9.2017 das nachfol­gende Bild: 1.581.972 CDU-Erststimmen-Wähler wählten die CDU nicht mit der Zweitstimme; 385.860 CSU-Erststimmen-Wähler ver­weigerten der CSU die Listenwahl; 1.888.2465 SPD-Erststimmen-Wähler gaben der SPD nicht die Landesstimme.

330.727 Zweitstimmen-Wähler der Linken wählten den örtlichen Wahlkreiskandidaten der Linken nicht mit der Erststimme;
440.128 Zweitstimmen-Wähler der Grünen verweigerten dem örtlichen Wahlkreisbewerber der Grünen die Personenwahl; 748.433 FDP-Zweit­stimmen-Wähler gaben dem örtlichen Wahlkreisbewerber der FDP 2013 nicht die Wahlkreis-Stimme:
560.999 AfD-Zweitstim­men-Wähäler verweigerten der Partei die Erststimme.

  1. b) Rechtshistorisch taucht das Phänomen der gespaltenen Abstim­mung überhaupt erst bei der zweiten deutschen Bundestagswahl im Jahre 1953 auf. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 konnte der Stimm­zettel nur einmal gekennzeichnet werden. Die unverbundene Abstimmung war 1949 ausgeschlossen.
  2. c) Das „negative“ Stimmengewicht hat das Gericht uneingeschränkt verworfen. Es könne nicht sein, dass die Wähler gemeinschaftlich mit weniger Stimmen mehr Mandate erlangen. Stimmen und Man­date dürften nicht negativ korrelieren. Vgl. BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266. Das aber ist überhaupt nur bei einer gespaltenen Abstim­mung möglich. Die Quintessenz des Urteils muss daher lauten: Es widerspricht dem Grundgedanken der Demokratie, wenn die Abgeordneten einer Partei daraus einen Vorteil erlangen, dass sie nicht mit beiden, sondern nur mit einer von beiden Stimmen gewählt werden. Bei näherer Betrachtung ist also die höchstrichterliche Urteilsliteratur zur gespaltenen Abstimmung keineswegs auf einen Nenner zu brin­gen, der gegen die Einspruchsführer spricht. Es gibt auch andere höchstrichterliche Entscheidungen, die für sie sprechen. Das gilt nicht nur für beide Urteile zum „negativen“ Stimmengewicht, sondern schon für das Urteil BVerfGE 7, 63 (74 f), das nachfolgend unter lit. d) näher beleuchtet wird.
  3. d) Niemand kann physisch zweimal im Bundestag sitzen. Wer mit bei­den Stimmen, also zweimal gewählt wurde, hat kein doppeltes Mit­wirkungsrecht an der parlamentarischen Willensbildung. Werden bei­de Stimmen unverbunden abgegeben, richtet sich die gespaltene Ab­stimmung im Endergebnis nicht mehr auf ein Mandat sondern auf zwei. Die unverbundene Abstimmung führt zu einer Verdoppelung des Stimmenerfolgs, und das ist die Hauptursache für die leidigen Überhänge. Diesen Sachverhalt hat das BVerfG schon 1957 (BVerfGE 7, 63 (74 f)) missbilligt, allerdings hinzu­gefügt, die damit verbundenen „Manipulationsmöglichkeiten“müssten „im Falle des Missbrauchs angezweifelt werden“. Dies ist mit der vorliegenden Wahlanfechtung geschehen.

 

Zu Ziff. III/4

 

  1. a) Der Mandatsausgleich, der mit dem 22. Wahlrechts-Änerungsgesetz auch im Bund eigeführt wurde, ist grob verfassungswidrig. Bei der Wahl v. 24.9.2017 sind 46 sog. „Überhänge“ entstanden. Sie wur­den ausgeglichen, aber nicht durch 46 sondern durch 65 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich ist also größer als der Überhang. Insgesamt sind 19 überhanglose Ausgleichsmandate entstanden. In diesen Fällen stand dem Ausgleich – unsinnigerweise – gar kein Überhang gegenüber. Die 65 Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Aufstockungsmandat bekleiden, sind nicht in allgemeiner, nicht in unmit­telbarer, nicht in gleicher, nicht in geheimer und schon gar nicht in freier Wahl gewählt worden. Sie sind überhaupt nicht gewählt worden. Und das ist grob verfassungswidrig.
  2. b) „Ausgleichsmandate sind Zusatzmandate“.Strelen in: Schreiber, BWahlG 2013, § 6 Rdnr. 29. Über sie kann nicht in, sondern erst nach der Wahlhandlung entschieden werden. Erst wenn die Stim­men ausgezählt wurden und sich gezeigt hat, dass sog. „Überhänge“ (Direktmandate ohne Listenplatz) entstanden sind, können diese ausgeglichen werden. Es gibt aber 299 direkt gewählte Mandatsträger, keinen weni­ger vor allem aber auch keinen mehr. Und gewählt ist gewählt. Die Zahl der Direktman­date steigt also gar nicht um irgendwelche gesetzwidrig gewählten Mandatsträger an.

 

Direkt gewählte Abgeordnete, denen ihr Mandat in Wahrheit gar nicht zusteht, die gibt es nicht. Das Überhangmandat ist kein konkretes Mandat, und schon gar nicht ein Mandat, das einem bestimmbaren Abgeordneten in Wahrheit gar nicht zusteht. Das Überhangmandat ist eine Differenz. Deshalb hat sogar der Wahlgesetzgeber selbst die sog. „Überhänge“ (in § 6 Abs. 4, Satz 2 BWahlG) auch dann uneinge­schränkt für zulässig erklärt, wenn eine Partei in einem Bundesland mit den Zweitstimmen weniger Listenplätze erreicht als sie mit den Erststimmen Direktmandate erzielen konnte. Es liegt daher gar kein gesetzlicher Rechtsgrund für den Mandatsausgleich vor. Vgl. dazu auch Hettlage, BWahlG – Gegenkommentar, 2017, zu § 6 Abs. 4 und Abs. 5.

  1. c) Dem nachgeschobenen „Ausgleich“ der Wahlergebnisse – wie er in der 2013 novellierten Vor­schrift des § 6 Abs. 1, Abs. 5 und Abs. 6 BWahlG angeordnet wird – fehlt die demokratische Legiti­mation einer unmittelbaren und freien Wahlentscheidung durch das Wahlvolk. Die Abgeordneten werden gewählt. So steht es im Grundgesetz. Mitglied des Parlaments wird man durch Abstimmung. So sieht es auch das Verfassungsgericht. Vgl. BVerfG v. 26.2.1998, BVerfGE 97, 317 (323). Werden Aufstockungsmandate nachgeschoben, nachdem die Wahllokale schon geschlossen sind, muss auch die Abstimmung darüber nachgeschoben werden, wer, von welcher Partei, in welchem Bundesland denn eines der Zusatzmandate bekommen soll. Dazu hätte es wenigstens eine Eventualstimme oder eine vollständige Nachwahl speziell über den Ausgleich geben müssen, mit gesonderten Kandidaturen, eigenen Stimmzetteln und allem, was zu einer Nachwahl dazu­gehört. Beides gab es 2017 nicht und hat es schon 2013 nicht gegeben. Und ohne unmittelbar wählten Kandidat kein Mandat, auch kein Aus­gleichsmandat.

 

Zu Ziff. III/5

 

Der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag fehlt die erforderliche Normenklarheit und Verständlich­keit Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung zum „negativen“ Stimmengewicht vom 3. Juli 2008, (BVerfGE 121, 266 (316)) angeordnet, „das für den Wähler nicht mehr nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue und normenklare Grundlage zu stellen“. Diese höchstrichterliche Anordnung muss der Gesetzgeber befolgen, hat es aber nicht getan. Er ist damit seit nunmehr 10 Jahren im Verzug.

 

Zu allem Überfluss hatte schon Bundestagspräsident, Norbert Lammert, MdB, noch in der 18. Legis­laturperiode gegenüber der Presse vorgetragen, „nicht einmal eine Handvoll Abgeordneter ist in der Lage, unfallfrei die Mandatsverteilung zu erklären“. Vgl. Welt am Sonntag, 2.8.2015: „Der deutsche Volkskongress“. Das geltende Wahlrecht habe „die Mindestanforderungen an Transparenz“ nicht er­füllt, so Lammert. Vgl. das politische Magazin „Cicero“, 3/2015: „Kein Fortschritt der Demokratie“.

 

Der „Nestor“ unter den Wahlrechtsexperten, Professor Hans Meyer, Berlin, sieht in der bestehenden Regelung der Sitzverteilung geradezu „eine Verhöhnung des Gerichts“ und hat speziell die Vorschrif­ten des § 6 BWahlG, also das Herzstück der Wahlrechtsreform von 2013, als „legislatorisches Mon­ster“ kritisiert. Vgl. DÖV 8/2015, S. 700. Hans Meyer schreckt auch nicht davor zurück, dort die ge­troffene Regelung als „wahlrechtlichen Irrsinn“ zu bezeichnen.

 

KennW: WP193.docx

 

 

Anlage Nr. 5

 

 

Die Lebenslüge des deutschen Wahlrechts

Die personalisierte Verhältniswahl braucht einen Neustart

 

Erschienen in der FAZ v. 9. Mai 2019

 

Von Christoph und Sophie Schönberger *)

 

E

s war ein Scheitern mit Ansage: Kürzlich ging eine von Bundestagspräsident Schäuble einbe­rufene Kommission aus Abgesandten aller sieben im Bundestag vertretenen Parteien auseinander, ohne sich auf eine Reform des Bundestagswahlrechts einigen zu können. Damit droht die Gefahr, dass auch bei der nächsten und vermutlich auch übernächsten Bundestagswahl nach dem geltenden Wahl­recht gewählt wird. Schon bei der vergangenen Bundestagswahl vom 24. September 2017 führte dieses Wahlrecht dazu, dass der Deutsche Bundestag auf eine Größe von 709 Abgeordneten anwuchs. Er bildet inzwischen das mit Abstand größte nationale Parlament der demokratischen Welt. Würde heute gewählt, ergäbe sich bei Zugrundelegung der Ergebnisse der Sonntagsfrage der großen Mei­nungsforschungs-institute sogar ein Bundestag mit über 800 Mitgliedern. Ein immer weiter aufge­blähtes Parlament stellt aber Legitimität und Funktionsfähigkeit des Parlaments grundlegend in Frage. Das Plenum droht, zur bloßen Kulisse und Staffage zu werden. Um den Reformbedarf richtig einzu­schätzen, muss man freilich einen Schritt zurücktreten und sich klarmachen, wie sehr die Probleme der Gegenwart auf dem bisher praktizierten personalisierten Verhältniswahlrecht beruhen.

 

Der Fall Kerstin Lorenz

 

Alles begann am 5. September 2005. Wenige Tage vor der Bundestagswahl erlitt Kerstin Bärbel Lorenz, die Direktkandidatin der NPD im Wahlkreis Dresden I, auf einer Wahlkampfveranstaltung einen Hirnschlag und starb zwei Tage später. Um der betroffenen Partei in einem solchen Fall die No­minierung eines neuen Kandidaten zu ermöglichen, sieht das Bundeswahlgesetz vor, dass in diesem Wahlkreis dann nicht am Tag der Bundestagswahl, sondern an einem späteren Termin innerhalb der folgenden sechs Wochen gewählt wird. Diese Nachwahl machte einen paradoxen Effektes seit 1953 geltenden Wahlrechts sichtbar, der nun erstmals strategisch genutzt werden konnte: das sogenannte negative Stimmgewicht.

 

Durch die damalige Regelung zu Überhangmandaten konnte es dazu kommen, dass mehr Zweit­stimmen für eine Partei zu weniger Gesamtmandaten dieser Partei im Bundestag führten. Wahlrechts­spezialisten berechneten schnell, dass der CDU, wenn sie den Dresdner Wahlkreis gewönne und dort zugleich ein bestimmtes Zweitstimmenergebnis überschritte, ein Überhangmandat im Bundestag ver­lorengehen würde. Um das zu verhindern, griff die CDU zu der drastischen Maßnahme, zur Wahl der FDP mit der Zweitstimme aufzurufen. Dieser Plan ging zwar zunächst auf, rief aber zwei engagierte Wähler auf den Plan, die den Vorgang mit Hilfe einer Wahlprüfungsbeschwerde vor das Bundesver­fassungsgericht brachten.

 

Das Gericht erklärte die Möglichkeit des negativen Stimmgewichts wegen Verstoßes gegen die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl im Jahr 2008 für verfassungswidrig und räumte dem Gesetz­geber eine großzügige dreijährige Frist zur Neuregelung ein. Die daraufhin nach langem Zögern von der damaligen schwarz-gelben Koalition verabschiedete Änderung wurde vom Bundesverfassungsge­richt im Sommer 2012 abermals für verfassungswidrig erklärt und kam nie zur Anwendung. In Reak­tion auf die inzwischen deutlich angestiegene Zahl von Überhangmandaten verschärfte das Gericht die Anforderungen und erklärte, dass mehr als fünfzehn nicht ausgeglichene Überhangmandate im Rah­men des Verhältniswahlrechts unzulässig seien.

 

 

Mit heißer Nadel

 

In der verbleibenden Zeit bis zur Bundestagswahl 2013 wurde mit heißer Nadel das bis heute geltende Wahlrecht gestrickt. Die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts erfüllte der Gesetzgeber, in­dem er erstmals einen vollständigen Verhältnisausgleich für alle Überhangmandate vorsah, der die Zahl der Bundestagsmandate nach oben öffnete. Alle systemimmanenten Probleme des geltenden Rechts wurden durch eine unbegrenzte Vergrößerung des Bundestages „gelöst“. Dabei ignorierte der Gesetzgeber den Wandel des Wählerverhaltens vollständig. Auch das Parteiensystem hat sich verän­dert und stark ausdifferenziert – zunächst auf der Linken mit der Entstehung von Grünen und Links­partei, zuletzt auch auf der Rechten mit dem Aufkommen der AfD. Die Zweitstimmenergebnisse der früheren Volksparteien Union und den letzten Jahren entsprechend kontinuierlich gesunken, ohne dass es den kleineren Parteien bisher in nennenswertem Umfang gelungen wäre, Wahlkreise für sich zu erobern. Die Situation hat sich in jüngerer Zeit nochmals dadurch verschärft, dass die SPD bei den Zweitstimmen in weitem Abstand hinter der Union liegt. Resultat dieser Gesamtentwicklung ist, dass fast alle Wahlkreise inzwischen von der CDU/CSU gewonnen werden, obwohl diese gleichzeitig weit davon entfernt ist, 50 Prozent der Zweitstimmen zu erringen. Nach dem früheren Recht hätte das zu einer beachtlichen Zahl von Überhangmandaten geführt. Im geltenden Recht, in dem jedes errechnete Überhangmandat durch Ausgleichsmandate kompensiert wird, wird demgegenüber die Gesamtzahl der Abgeordneten immer weiter erhöht. Das Ende nach oben ist offen.

 

So war es aber nie

 

Die jüngste dramatische Entwicklung macht bei genauerer Betrachtung freilich nur Probleme sichtbar, die in dem seit 1949/1953 praktizierten System des personalisierten Verhältniswahlrechts seit jeher schlummerten. Schon immer gaukelte das System nur vor, dass mit der Zweitstimme eine Parteien­wahl, mit der Erststimme hingegen eine Personenwahl stattfinde. Zu erreichen wäre das nur mit einem sogenannten Grabenwahlsystem, in dem die 299 Wahlkreismandate isoliert nach relativer Mehrheits­wahl vergeben und nur die verbleibenden 299 Mandate nach dem Zweitstimmenanteil der Parteien verteilt würden. So war es im bundesdeutschen personalisierten Verhältniswahlrecht aber nie, weil dort die errungenen Wahlkreismandate auf die einer Partei nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen­den Sitze angerechnet werden. Erst- und Zweitstimme werden also für die Mandatszuteilung ver­knüpft, was die Wahlentscheidung im Ergebnis äußerst paradox erscheinen lässt. Der Wähler entschei­det nämlich mit seiner Erststimme nicht nur, ob Direktkandidat A oder B in den Bundestag einzieht, sondern auch darüber, ob die Mandate, die der A-Partei nach dem Ergebnis der Zweitstimmen zu­stehen, durch den Direktkandidaten oder durch einen Listenkandidaten besetzt werden sollen. Gibt ein Wähler seine beiden Stimmen der A-Partei, so bringt er mit seiner Zweitstimme zunächst seinen Willen zum Ausdruck, dass die A-Partei möglichst viele Sitze im Bundestag erhalten soll. Mit seiner Erststimme drückt er demgegenüber zweierlei aus: Zum einen erklärt er, dass er lieber den Direkt­kandidaten der A-Partei als einen anderen Direktkandidaten im Bundestag vertreten wissen möchte. Über den Aussagegehalt seiner Zweitstimme geht dies nicht hinaus, denn er hat hier schon zum Ausdruck gebracht, dass die A-Partei möglichst viele Mandate erhalten soll. Zum anderen – und hier kommt der Erststimme eigenständige Bedeutung gegenüber der Zweitstimme zu – erklärt der Wähler damit aber auch, dass er lieber den Direktkandidaten als einen Listenkandidaten für die A-Partei im Bundestag sehen möchte. Diese Präferenzentscheidung ist ihm freilich nicht bewusst. Er könnte sie ohnehin auch nicht bewusst treffen, da bei der Stimmabgabe nicht vorhersehbar ist, mit welchem der Listenbewerber der Wahlkreiskandidat innerparteilich konkurriert.

 

B

eim sogenannten Stimmensplitting, wenn also ein Wähler seine Zweitstimme der A-Partei gibt, mit der Erststimme aber für den Wahlkreiskandidaten der B-Partei stimmt, ist die Entscheidung des Wählers nochmals komplexer und widersprüchlicher. Zunächst einmal bringt er mit seiner Zweitstimme auch hier seinen Wunsch zum Ausdruck, dass die A-Partei möglichst viele Sitze im Bundestag erhalten soll. Hierzu setzt sich seine Erststimme dann aber in offenen Widerspruch. Als nachvollziehbare Wahlentscheidung lässt sich dieses Verhalten nur rekonstruieren, wenn man die wahlrechtliche Verquickung beider Stimmen in die Betrachtung einbezieht. Im Stimmensplitting liegt dann nämlich eine – dem Wähler wiederum unbewusste – „Wenn schon, dann aber“ Entscheidung: Der Wähler will zwar eigentlich, dass die A-Partei und nicht die B-Partei möglichst viele Sitze im Bun­destag erhält. Wenn die B-Partei aber schon ein Mandat erringen kann, so soll dieses lieber von dem Direktkandidaten als von einem Listenkandidaten besetzt werden. Der Wähler entscheidet hier also über die personelle Zusammensetzung einer Bundestagsfraktion, deren Zustandekommen er mit seiner Stimme gar nicht unterstützt. Aufgrund der Verquickung von Erst- und Zweitstimme trifft der Wähler mithin sowohl bei einer „einfarbigen“ Stimmabgabe als auch beim Stimmensplitting letztlich eine Auswahlentscheidung zwischen den von einer Partei nominierten Kandidaten, die ihm nicht bewusst ist und die er am Wahltag auch nicht bewusst treffen könnte. Zugleich wird ihm durch die übliche Erzählung von der Kombination aus Parteienwahl und Persönlichkeitswahl eine Entscheidungsfreiheit vorgegaukelt, die er in Wirklichkeit gar nicht besitzt.

 

Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die Bevölkerung das geltende Wahlsystem nie verstanden hat und vor jeder Bundestagswahl bei den Wählern grundlegende Unklarheiten zutage treten. Die übliche Wahlrechtspädagogik beschränkt sich denn auch darauf, beide Stimmen isoliert zu präsentieren und – zutreffend – darauf zu verweisen, die Zweitstimme sei für die Zusammensetzung des Bundestages entscheidend. Wie beide Stimmen zusammenhängen, wird hingegen nicht, könnte auch gar nicht überzeugend erläutert werden. Das geltende Wahlrecht nimmt die Aufblähung des Bun­destages bis zur Funktionsunfähigkeit also in Kauf, um dem Wähler eine Entscheidung über die personelle Zusammensetzung der Bundestagsfraktion einer von ihm unterstützten oder nicht einmal unterstützten Partei zu ermöglichen, die ihm in den allermeisten Fällen in keiner Weise bewusst sein wird.

 

Die Ursache für die Wahlrechtsmisere

 

Trotz dieser offenkundigen Paradoxien des geltenden Wahlrechts beschränkte sich die gescheiterte Schäuble-Kommission auf das Herumdoktern an Symptomen. Mantrahaft erklärten alle Parteien, sie wollten im Grundsatz am überkommenen personalisierten Verhältniswahlrecht mit seinem Zwei-Stimmen-System festhalten, obwohl es unter den Bedingungen des gegenwärtigen Wählerverhaltens die zentrale Ursache für die Wahlrechtsmisere ist. Am Ende lagen zwei Vorschläge auf dem Tisch: Die Oppositionsfraktionen Linke, Grüne und FDP sowie die SPD wollten die Zahl der Wahlkreise auf 270 reduzieren und die Sollgröße des Bundestages auf 630 erhöhen. Zugleich sollte auf ein Mindest­kontingent von Sitzen je Bundesland verzichtet werden. Demgegenüber sah der – ohne Rücken­de­ckung der Unionsparteien vorgelegte – Vorschlag des Bundestagspräsidenten vor, die Zahl der Wahl­kreise auf 270 zu reduzieren und die ersten fünfzehn anfallenden Überhangmandate unausgeglichen zu lassen. Beide Vorschläge sind aber nicht geeignet, das Problem der Vergrößerung des Bundestages wirklich zu lösen, sie würden lediglich dessen Ausmaß abmildern. Als politischer Kompromiss sind sie zudem nicht tragfähig. Die Reduzierung der Wahlkreise würde in der Union, die nach der letzten Bundestagswahl lediglich 15 Abgeordnete über Landeslisten, alle anderen jedoch über die Wahlkreise ins Parlament entsandte, einen parteiinternen Machtkampf um die neuen Wahlkreise auslösen, der eine große innerparteiliche Zerreißprobe bedeuten könnte. Unausgeglichene Überhangmandate kämen ihrerseits vor allem der Union zugute und sind deshalb für die anderen Parteien inakzeptabel. Das hielt die Unionsfraktion zuletzt nicht davon ab, in Anknüpfung an ein Modell des früheren Bundestags­präsidenten Lammert, vorzuschlagen, den Ausgleich von Überhangmandaten ab einer Zahl von 630 Bundestagsabgeordneten zu deckeln. Eine derartige Obergrenze ließe jedoch unausgeglichene Über­hangmandate in unbestimmter Zahl entstehen. Deshalb wäre sie nach der Rechtsprechung des Bundes­verfassungsgerichts offen verfassungswidrig, das allenfalls 15 unausgeglichene Überhangmandate für mit der Wahlrechtsgleichheit vereinbar hält.

 

V

or diesem Hintergrund bietet das Scheitern der Kommission die Chance, das Wahlsystem jetzt wirklich grundlegend zu reformieren. Erforderlich ist dabei der Übergang zu einer anderen Form des personalisierten Verhältniswahlrechts, welche die Entstehung von Überhangmandaten schon im Ansatz verhindert. Unser Vorschlag entwickelt dabei in loser Anlehnung an das Landtagswahlrecht von Baden-Württemberg Ideen weiter, die der Berliner Journalist Albert Funk und der Friedrichsha­fener Politikwissenschaftler Joachim Behnke formuliert haben.

 

Das Bundestagswahlrecht würde folgendermaßen aussehen: Es würde weiterhin 299 Wahlkreise geben, daneben würden die Parteien wie bisher Landeslisten aufstellen. Jeder Wähler hätte eine einzi­ge Stimme, die er an den Wahlkreiskandidaten einer Partei und gleichzeitig an deren Landesliste vergeben würde. Ein solches Einstimmensystem wäre in Deutschland nicht einmal neu. Bei der ersten Bundestagswahl im Jahr 1949 wurde noch so gewählt, über Jahrzehnte hinweg bis zum Jahr 2005 auch in Nordrhein-Westfalen. Nach dem von uns befürworteten Einstimmensystem würden die Stim­men der Partei nach der Wahl zunächst bundesweit zusammengerechnet werden. Hieraus würde sich der Anteil an den 598 Bundestagsmandaten ergeben, welcher der einzelnen Partei bundesweit zuste­hen würde. Jeweils die Hälfte dieser Mandate würde dann auf die Wahlkreisbewerber verteilt, die andere Hälfte nach den Landeslisten vergeben werden. Dabei würde, anders als bisher, nicht mehr automatisch der Kandidat mit der relativen Mehrheit der Stimmen das Wahlkreismandat erhalten. Vielmehr würde in jedem Land nach der Wahl eine Rangliste der nach ihrer Stimmenzahl „Wahlkreis­besten“ zusammengestellt werden, aus der in absteigender Reihenfolge die Mandate besetzt werden würden. Die Verteilung der Mandate zwischen den Ländern würde – wie im bis 2013 geltenden Recht – der Gesamtzahl der im Land abgegebenen Stimmen folgen.

 

Die Vorteile dieses Systems wären zahlreich: Der Bundestag hätte eine feste Größe von 598 Abgeord­neten. Alle Wahlkreise würden mit dem bisherigen Zuschnitt erhalten bleiben. Das territoriale Element des Wahlrechts würde sogar gestärkt werden, weil nun regelmäßig auch die kleineren Parteien Wahl­kreisabgeordnete stellen könnten. Das Wahlrecht würde auch eine offene Personalisierung erhalten, weil der Gewinn eines Wahlkreislistenmandats in allen Parteien von einem möglichst guten Ergebnis der jeweiligen Wahlkreiskandidaten abhängen würde. Der Wähler könnte das System sogar verstehen. Nach dem von uns befürworteten Einstimmensystem würden die Stimmen der Partei nach der Wahl zunächst bundesweit zusammengerechnet werden. Hieraus würde sich der Anteil an den 598 Bun­destagsmandaten ergeben, welcher der einzelnen Partei bundesweit zustehen würde. Jeweils die Hälfte dieser Mandate würde dann auf die Wahlkreisbewerber verteilt, die andere Hälfte nach den Landes­listen vergeben werden. Dabei würde, anders als bisher, nicht mehr automatisch der Kandidat mit der relativen Mehrheit der Stimmen das Wahlkreismandat erhalten. Vielmehr würde in jedem Land nach der Wahl eine Rangliste der nach ihrer Stimmenzahl „Wahlkreisbesten“ zusammengestellt werden, aus der in absteigender Reihenfolge die Mandate besetzt werden würden. Die Verteilung der Mandate zwischen den Ländern würde -wie im bis 2013 geltenden Recht – der Gesamtzahl der im Land abge­gebenen Stimmen folgen.

 

Die Vorteile dieses Systems wären zahlreich: Der Bundestag hätte eine feste Größe von 598 Abge­ordneten. Alle Wahlkreise würden mit dem bisherigen Zuschnitt erhalten bleiben. Das territoriale Ele­ment des Wahlrechts würde sogar gestärkt werden, weil nun regelmäßig auch die kleineren Parteien Wahlkreisabgeordnete stellen könnten. Das Wahlrecht würde auch eine offene Personalisierung erhalten, weil der Gewinn eines Wahlkreislistenmandats in allen Parteien von einem möglichst guten Ergebnis der jeweiligen Wahlkreiskandidaten abhängen würde. Der Wähler könnte das System sogar verstehen.

 

Der Median lag bei 38,3 Prozent

 

Gegenüber dem geltenden System hätte das skizzierte Einstimmensystem freilich den Nachteil, dass nicht mehr automatisch sichergestellt wäre, dass jeder Wahlkreis mit einem Abgeordneten vertreten ist. Das wäre aber durchaus zu verschmerzen. Die meisten Wahlkreise werden heute mit vergleichs­weise schwachen relativen Mehrheiten gewonnen, der Medianwert lag bei der letzten Bundestagswahl bei 38,3 Prozent. Die Vorstellung, dass der Wähler sich dem direkt gewählten Abgeordneten seines eigenen Wahlkreises auch dann besonders nahe fühlt, wenn er dessen Partei bei der Wahl nicht unter­stützt hat, näher sogar als dem Abgeordneten eines benachbarten Wahlkreises, welcher der vom Wähler tatsächlich unterstützten Partei angehört, dürfte sich längst überholt haben, falls sie denn je­mals der Wirklichkeit entsprochen haben sollte. Dass regionale Bindungen parteipolitische Präferen­zen derart überlagern können, ist mehr als unwahrscheinlich. Schon jetzt leisten überdies auch die nicht direkt gewählten Abgeordneten intensive Wahlkreisarbeit, so dass die in der Erzählung vom personalisierten Verhältniswahlrecht hochgehaltene Unterscheidung zwischen Wahlkreiskandidaten und Listenkandidaten für die praktische Arbeit der Abgeordneten vor Ort ohne Bedeutung ist. Die tatsächlichen Veränderungen wären für den Wähler im Ergebnis also gar nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte.

 

Allen Parteien würde die Umstellung auf ein Einstimmenwahlrecht freilich Anpassungen in der innerparteilichen Machtbalance abverlangen, die aber im Ergebnis sogar zu einer größeren Ausgewo­genheit zwischen den Parteien führen würden. Die kleineren Parteien wären gezwungen, stärker in der Fläche, präsent zu sein. Die Union würde einen Teil ihrer derzeitigen Wahlkreismandate verlieren und an deren Stelle wieder eine größere Zahl von Listenmandaten gewinnen. Dadurch wäre es ihr wie in früheren Zeiten möglich, Kandidaten durch aussichtsreiche Listenplätze abzusichern. Im September 2017 gelang nicht einmal dem CSU-Spitzenkandidaten der Einzug in den Bundestag über die Landes­liste, weil die Partei mit einem historisch schlechten Zweitstimmenergebnis in allen Wahlkreisen obsiegäte. Auch die Union würde durch eine Reform also erhebliche Gestaltungsspielräume zurück­gewinnen.

 

Jede Wahlrechtsreform kämpft gegen die unvermeidlichen Beharrungskräfte des Bestehenden, die sich mit mythischen Erzählungen aus der Zeit der Bonner Republik verbinden. Die offene Dysfunktiona­lität des geltenden Bundestagswahlrechts zwingt nun aber endgültig zum Handeln. Das hier skizzierte Einstimmenwahlrecht würde das unbedachte Herumbasteln am Wahlrecht beenden und diesem Be­ständigkeit und Verständlichkeit verschaffen.

 

 

 

*) Autoren: Professor Dr. Christoph Schönberger lehrt öffentliches Recht, Europarecht, Verglei­chende Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Universität Konstanz. Professor Dr. Sophie Schönberger lehrt Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Universität Düsseldorf.

 

Vgl. auch:  Schönberger, Sophie: Auf dem Weg zum Nationalen Volkskongress – warum die Geschich­te der personalisierten Verhältniswahl auserzählt ist, VerfBlog, 2019/4/05, https://verfassungsblog.de/auf-dem-weg-zum-nationalen-volkskongress-warum-die-geschichte-der-personalisierten-verhaeltniswahl-auserzaehlt-ist/.

 

 

 

Noch Anlage Nr. 5

 

Schrifttum zum Wahlrecht 2017 – 2019:

von Hettlage, Manfred C.

 

 

„Alles zerfließt / Die ‚obiter dicta’ der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum BWahlG“, unveröffentlicht.

 

„Grundrecht ohne vorläufigen Rechtsschutz: die Wahlprüfung“,

Erscheint demnächst in: Neue Juristische Online Zeitschrift (NJOZ).

 

„Harbarth und das Wahlrechtswirrwarr“, Publicus / Der Online-Spiegel für das öffentliche Recht, Ausgabe 2019-03. https://publicus.boorberg.de/harbarth-und-das-wahlrechts-wirrwarr/ .

 

„Landtag in Hessen – Hoffnungslos überfüllt“, Neue Juristische Online Zeitschrift (NJOZ) Ausgabe 1/2019, S. 41.

 

„One man one vote – Eine Stimme ist genug“ (Taschenbuch) 2019, ISBN 978-3-96138-100-5.

 

 

2018

 

„Wie verfassungswidrig war die Hessenwahl?“ Publicus – Der Online-Spiegel für das öffentliche Recht, Ausgabe 12/2018, https://publicus.boorberg.de/wie-verfassungswidrig-war-die-hessenwahl.

 

„Die Fünf-Prozent-Hürde ist nicht alternativlos“, Neue Juristische Online-Zeitschrift, NJOZ 2018, S. 1721.

 

„Die verkannte Rechtsnatur der Überhangmandate“, Europolis 2018, (PDF-Datei), https://www.europolis-online.org/wp-content/uploads/2018/06/BeitrReNatur_Hettlage.pdf .

 

„Die Figur des nicht-gewählten Abgeordneten im deutschen Wahlrecht“, Europolis v. 26.2.2018 (PDF-Datei) https://www.europolis-online.org/allgemein/legitimitaet-gegen-legalitaet-ist-der-deutsche-bundestag-demokratisch-legitimiert/ .

 

“Im Deutschen Bundestag gibt es 65 blinde Passagiere“, Tichys Einblick v. 27.4.2018,https://www.tichyseinblick.de/meinungen/im-deutschen-bundestag-gibt-es-65-blinde-passagiere/

 

„BWahlG Gegenkommentar“, (Taschenbuch) 2. Aufl. 2018, (ISBN 978-3-96138-053-4) mit allen Hinweisen und Links zu den früheren Beiträgen des Autors. (Vgl. http://www.manfredhettlage.de/zum-wahlrecht-literatur-und-links/ )

 

 

2017

 

„Das Wahlrecht geht so lange zum Brunnen, bis es bricht“, Tichys Einblick v. 11.11.2017, https://www.tichyseinblick.de/meinungen/das-wahlrecht-geht-so-lange-zum-brunnen-bis-es-bricht/

 

 

 

 

(Alle funktionsfähigen Links auch unter: http://www.manfredhettlage.de/neues-schrifttum-zum-wahlrecht/ )

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