Wahlrecht / Verfassungsbeschwerde 2020

An das Bundesverfassungsgericht, Zweiter Senat, Postfach 1771,

76006 Karlsruhe

Es gilt das Datum der Zustellung

AktenZ. 2 BvR 2253/20. Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Ziff 4a) Grundgesetz der Damen und Herren:

1.)   Dr. Wolfgang Goldmann, Zuccalistr 25,   80639 München

2.)   Dr. Robert Mertel, (parteiloser Wahlkreisbewerber 2017), Kindermannstr. 1,   80637 München;

3.)   Joachim Kampka,  Nürnberger Str. 24,   80637 München;

4.)   Dr. Manfred C. Hettlage, Nibelungenstr. 22,   80639 München;

5.)   Dr. Ursula Offergeld-Hettlage, Nibelungenstr. 22, 80639 München;

6.)   Gero von Braunmühl,  Taxisstr. 25,   80637 München;

7.)   Dr. Annelie Grasbon,  Am Rain 15,   85267 Hettenshausen;

8.)   Dr. Winfried Grasbon,  Am Rain 15,  85267 Hettenshausen;

9.)   Dr. Felix Grasbon, August-Horch-Str. 3a)   80999 München;

und weiterer Damen und Herren durch gesonderte Beitrittserklärungen.

Der Verfassungsbeschwerde können nach den Erstunterzeichnern innerhalb der Jahresfrist nach § 93 Abs. 3 BVerfGG vor der Entscheidung noch weitere Beschwerdeführer beitreten. Ihre Beitrittserklär­ungen sind Bestandteil dieses Schriftsatzes.

Hiermit legen alle Beschwerdeführer, beim Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts nach § 93 Abs. 1 Ziff. 4a GG

Verfassungsbeschwerde

ein. Die Beschwerde richtet sich gegen das Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, das am 18. 11.2020, im Bundesgesetzblatt I, Nr. 52, S. 2395, verkündet wurde.

Zulässigkeit

Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde geht aus Art. 93 Abs. 1 Ziff. 4a GG und aus §§ 90 ff BVerfGG unmittelbar hervor. Im Grundgesetz heißt es: „Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über Verfassungsbeschwerden, die von Jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt (…) in einem seiner in Art. 38 enthaltenen Rechte verletzt zu sein.“ Im Bundes­verfassungsgerichtsgesetz heißt es: „Jedermann kann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt (…) in einem seiner in (…) Art. 38 des Grundgesetzes enthaltenen Rechte verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben.“

Nach §§ 93 a) und b) BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung „anzunehmen, soweit ihr eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt“. Das Bundesverfassungs­gericht kann „über eine vor Erschöpfung des Rechtsweges eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist“ oder wenn den Beschwerdeführern „ein schwe­rer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls sie zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würden“.

Rechtswegverkürzung

Die Rechtswegverkürzung wird hiermit beantragt und wie folgt begründet: Die Verfassungsbeschwerde betrifft die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Bundestages. Wie in der nachfolgenden Be­gründung dargelegt wird, ist sie in hohem Maße mandatsrelevant und deshalb von herausragender, allgemeiner Bedeutung. Wenn das Verfassungsgericht zeitnah entscheidet, können die verfassungsrechtlich gebotenen Korrekturen noch für die 20. Legislaturperiode umgesetzt und damit ein schwerer und unabwendbarer Nachteil abgewendet werden, der den Beschwerdeführern dadurch entsteht, dass die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag nicht verfassungskonform war.

Die beantragten Korrekturen im Wahlrecht lassen keinen Raum, um noch vor der nächsten Wahl den Rechtsweg auszuschöpfen. Die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag verlangt eine zeitnahe Entschei­dung durch das Verfassungsgericht. Die Verfassungsbeschwerde gegen das neue Gesetz käme zu spät. Die beteiligten Beschwerdeführer müssten schwere und unabwendbare Nachteile hinnehmen. Allein schon die Übergröße der einzelnen Wahlkreise würde bereits den Wahlkampf unzulässig erschweren. Das beeinträchtigt schon die Kandidaturen.

Es besteht also besondere Eilbedürftigkeit. Die Interessen der Wahlkreis-Bewerber, die inzwischen schon nominiert worden sind, müssen zurücktreten.

Beschwerdefähigkeit

Ausnahmslos alle beteiligten Beschwerdeführer sind natürliche Personen, also grundrechts- und damit beschwerdefähig.

Beschwerdegegenstand

Die Beschwerde richtet sich gegen das neue Bundeswahlgesetz (Bundesgesetzblatt I, Nr. 52, S. 2395; im Internet zugänglich unter: www.bgbl.de). Beschwerdegegenstand sind konkret die in § 1 Abs. 2; in § 6 Abs. 5 und Abs. 6; wie in § 48 Abs. 1 BWahlG (n.F.) getroffenen Änderungen des neuen Wahlrechts, aber auch die anzutreffenden Unterlassungen des Wahlgesetzgebers. Auch durch sie werden die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 38 GG verletzt. (Vgl. dazu § 92 Abs. 2 a) und Abs.2 b) BVerfGG.)

Beschwerdebefugnis

Sämtliche Beschwerdeführer sind wahlberechtigte Staatsbürger. Sie waren 2017 (nach § 12 BWahlG) in den Wählerverzeichnissen als Wahlberechtigte eingetragen. Sie werden durch Verstöße gegen Art. 38 Abs. (1) GG in ihren Grundrechten selbst, gegenwärtig und unmittelbar verletzt.

Form und Frist

Die Beschwerde erfolgte in Schriftform. Die in § 93 Abs. 3 BVerfGG angeordnete Jahresfrist wurde eingehalten. Eine ausführliche Begründung des Antrags liegt vor.

Prozessvertretung

Der Beteiligte zu 4) wird dem Verfassungsgericht unverzüglich einen Prozessvertreter im Sinne des Verfahrens benennen, der hiermit bevollmächtigt wird, im Falle einer mündlichen Verhandlung zu dieser Verfassungsbeschwerde im Namen aller Beteiligten vor dem Verfassungsgericht aufzutreten und zu handeln.

Alle Beschwerdeführer stellen gemeinsam den

Antrag,

die in § 1 Abs. 2 BWahlG; in § 6 Abs. 5 und Abs. 6 BWahlG; sowie in § 48 Abs. 1 BWahlG getroffenen Abänderungen rechtzeitig, noch vor der ordentlichen Wahl zum 20. Deutschen Bundestag wieder aufzuheben und im Einzelnen anzuordnen:

1.) Die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag ist nach „den Grund­sätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ abzuhalten. Diese in § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG niedergelegte Rechts­norm ist als zwingendes Recht zu verstehen. Die Wahl ist daher – nach dem Vorbild von 1949 – mit Stimmzetteln durchzuführen, die das sog. Stimmensplitting ausschließen (zwingende Verbundabstim­mung).

2.) Für den 20. Deutschen Bundestag ist die Zahl der 299 Wahlkreise auf die Zahl der 598 gesetzlichen Mitglieder des Bundestages anzuheben. Die nur mittelbare Verhältnis- bzw. Parteienwahl ist durch eine vorangestellte, unmittelbare Personenwahl in Urwahl durch das souveräne Wahlvolk vollständig zu personifizieren (lückenlos „personalisierte“ Verhältniswahl).

3.) „Das für die Wähler kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht für die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag“ ist „auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen“, wie es das BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121 266 (316) bereits seit mehr als 10 Jahren verlangt.

II. Vorbemerkung

Auf Antrag der beiden Fraktionen CDU/CSU und SPD hat der Deutsche Bundestag am 8.10.2020 in 3. Lesung ein neues Wahlgesetz beschlossen. Am 18.9.2020 fand eine parlamentarische Anhörung statt. Am 5.10.2020 gab es vor dem Innenausschuss eine Anhörung von Sachverständigen. In der zweiten und dritten Lesung gab es keine Änderungen mehr. Das 25. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlge­setzes wurde am 18.11.2020 im Bundesgesetzblatt I, Nr. 52, S. 2395 verkündet.

Der Gesetzgeber „hält am Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl fest“. Die Abstimmung mit Erst- und Zweitstimmen bleibt im Grundsatz erhalten (vgl. BT-DruckS 19/22504, S. 1). „Auch an der 2013 eingeführten Sitzzahlerhöhung zum Ausgleich von Überhängen wird festgehalten“ (aaO. S. 5). Die Zahl der Wahlkreise wird mit Wirkung vom 1. Januar 2024 von 299 auf 280 reduziert (aaO. S. 1). „Mit dem Ausgleich“ wird „erst nach dem dritten Überhang begonnen“ (aaO. S. 1). „Durch die Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern“ will der Gesetzgeber einem weiteren Aufwuchs der Mandate entgegenwirken (aaO. S. 1). Die in § 48 BWahlG angeordneten Listennachfolge in vakante Wahlkreise unterbleibt, wenn die betroffene Landespartei von Überhängen begünstigt wird (aaO. S. 9). „Beim Deutschen Bundestag wird eine Reformkommission eingesetzt.“ Sie soll bis zum 30. Juni 2023 weitere Vorschläge ausarbeiten.

Lässt man die bloßen Absichtserklärungen des Gesetzgebers weg, gibt es nur drei ins Gewicht fallende Änderungen, von denen aber nur eine schon zur Bundestagswahl 2021 in Kraft tritt, nämlich dass drei Überhänge bei den Landesparteien ohne Ausgleich bleiben. Das wurde schon in der Aussprache zur 1. Lesung des Gesetzentwurfs, die am 18.9.2020 stattfand, als völlig unzureichend kritisiert, um die Überfüllung des Parlaments mit Überhang- und Ausgleichsmandaten zeitnah und rechtswirksam zu beseitigen.

III. Kurzgefasste Begründung der Beschwerde

1. Das Stimmensplitting ist „die Mutter der sog. Überhänge“. Denn die zwingende Personalisierung der indirekten Verhältniswahl durch eine vorangestellte Personenwahl tritt außer Kraft und wird zu einem Verfassungsproblem. Diesen Verstoß gegen den in Art. 38 GG verankerten Wahlrechtsgrundsatz der unmittelbaren und gleichen Wahl aller Abgeordneten ignoriert der Wahlgesetzgeber seit 1953. Das Verfassungsgericht hat aber schon 1957 klargestellt: „Gewiss eröffnet das Institut der Überhänge Manipulationsmöglichkeiten. Deren Verfassungsmäßigkeit müsste aber im Falle eines Missbrauchs angezweifelt werden“ (BVerfGE 7, 66 (75)). – Sind Überhänge also ein Missbrauch?

Das Stimmensplitting ist der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des dualen Wahlsystems mit zwei Stimmen. Es verletzt das Verfahren der „personalisierten“ Verhältniswahl und ist schon „de lege lata“ untersagt: Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG ist „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ abzustimmen. Das schließt die getrennte, die gespaltenen, die unverbundene Abstimmung – also das Stimmensplitting – natürlich aus. Ist das Splitting schon „de lege lata“ ungesetzlich, trifft das auch die daraus hervorgehenden Überhänge. Und ohne Splitting verringern sich die Abweichungen der Erst- von den Zweitstimmen. Können beide Stimmen nicht länger voneinander separiert werden, gibt es weniger oder gar keine Unterschiedszahl zwischen Direktmandaten und Listenplätzen einer Landespartei.

Die Abgeordneten werden in freier, gleicher und geheimer Wahl auf Stimmzetteln namentlich gekennzeichnet. „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ (BVerfG v. 26.2.1998, BVerfGE 95, 335 (349)). Deshalb muss die Zweitstimme durch die Erststimme personifiziert werden. Die im Gesetz angeordnete Verbundabstimmung wird durch das Stimmensplitting in ihr Gegenteil verkehrt. Aus der verbundenen Wahl mit zwei Stimmen entsteht nur ein Mandat. Wenn man beide Stimmen voneinander separiert, sind es zwei. Es ist also ein großer Unterschied, ob man einen Abgeordneten zweimal oder zwei verschiedene Volksvertreter je einmal wählt. – Aus der Doppelwahl wird durch das Splitting eine Verdoppelung der Wahl und es kommt zu den leidigen Überhängen.

2. Die Zahl der Wahlkreise muss zwingend mit der Zahl der 598 Mitglieder des Bundestages übereinstimmen, damit die indirekte Verhältniswahl mit der unmittelbaren Personenwahl verbunden und dadurch vollständig personifiziert werden kann. Das folgt aus dem Verfassungsprinzip der unmittelbaren Wahl aller Abgeordneten, das in Art. 38 GG garantiert wird. Die personalisierte Verhältniswahl war aber von Anfang an ein Bruchstück, ein Fragment, ein Torso. Seit 2002 gibt es regulär insgesamt 598 Parlamentarier, aber nur 299 Wahlkreise. Also können von vorne herein höchstens 299 Abgeordnete mit beiden Stimmen gewählt worden sein. Es verblieben also 2017 insgesamt 410 Mandate, bei denen die verfassungsrechtlich gebotene Personifizierung der Zweitstimmen durch die Erststimmen gefehlt hat.

Gleiches Recht für alle. Entweder werden alle Volksvertreter mit der Erst- und mit der Zweitstimme, also zweimal gewählt oder keiner. Dem Verfassungsprinzip der gleichen Wahl hätte der Wahlgesetzge­ber Rechnung tragen müssen, hat es aber nicht getan. Im Gegenteil! Durch die Herabsetzung der Wahlkreise von 299 auf 280 wird die ohnehin nur teilpersonalisierte Verhältniswahl nicht etwa gestärkt, sondern sogar noch weiter geschwächt.

3.) In § 6 Abs. 5 letzter Satz BWahlG wird neu angeordnet, dass nur 3 Überhänge vom Ausgleich freizustellen sind. Die nicht-personalisierte Verhältniswahl wird dadurch nur um 3 Mandate verringert. Das ist zwar richtig und gut, wurde nach 46 Überhängen und 65 Ausgleichsmandaten, die 2017 entstanden sind, jedoch schon in der parlamentarischen Aussprache vom 18.9.2020 als völlig unzureichend kritisiert, ja sogar als vollkommen lächerlich bezeichnet. Es wären 2017 immer noch 62 sog. Ausgleichsmandate verblieben, bei denen eine unmittelbare Urwahl der Abgeordneten durch das souveräne Wahlvolk fehlt, in Art. 38 GG aber verlangt wird.

Das Recht, die Abgeordneten selbst zu bestimmen, wird dem souveränen Wahlvolk aus der Hand gewunden. Die nachträgliche Aufstockung der Mandate kommt ohne unmittelbare Kennzeichnung eines Stimmzettels zustande. Eine verfassungsrechtlich unerlässliche Nachwahl, wer, von welcher Partei, in welchem Bundesland ein Ausgleichsmandat erhalten soll, gab es bisher nicht und ist auch weiterhin nicht vorgesehen. Die gewöhnlich anzutreffenden Wähler können nach wie vor nicht erkennen, wie sich ihre beiden Stimmen auf die Überhang- und vor allem auf die nachgeschobenen Aufstockungsmandate auswirken. Denn die Aufstockung erfolgt erst nach der Wahl. Dadurch entsteht die grundrechtlich unhaltbare Figur des nicht gewählten Abgeordneten. (Vgl. europolis, 26.2.2018 www.europolis-online.org/allgemein/…)

Die Staatsgewalt wird vom Volke in Wahlen ausgeübt. Weil die Zahl der Mitglieder des Bundestages von vorne herein eine unbestimmte Größe ist, können die Wähler nicht hinreichend erkennen, wie sich ihre Stimmabgabe konkret auswirkt. Eine basisdemokratische Urabstimmung des Wahlvolkes über die nachgeschobenen Aufstockungsmandate fehlt. Und das ist eine grobe Verletzung der Volkssouveräni­tät, die durch Art. 20 Abs. 2 GG garantiert wird.

4. Die in § 6 Abs. 5 und Abs. 6 WahlG erfolgte Neufassung der Vorschriften über die Wahl nach Landeslisten kommt weiterhin nicht den Anforderungen des BVerfG v. 3.7.2008 (BVerfGE 121, 266 (316)) nach, „das für die Wähler kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht für die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen“. Damit ist der Wahlgesetzgeber seit mehr als 10 Jahren im Verzug. Im Gegenteil kranken auch und gerade die Neuerungen in § 6 Abs. (5) und Absatz (6) BWahlG am Mangel der verfassungsrechtlich gebotenen Normenklarheit und Verständlichkeit. – Schon ein flüchtiger Blick auf § 6 BWahlG zeigt es: In Deutschland gilt ein Wahlrecht, dass die gewöhnlich anzutreffenden Wähler nicht mehr hinreichend durchschauen.

IV. Begründung der Beschwerde im Detail

Die Personenwahl ist ein Gebot der Verfassung. Wahlen sind „Personenauswahl-Entscheidungen“, so Karl-Ludwig Strelen (in: Schreiber 2017, Einführg. Rdnr. 4). Auch Johann Hahlen spricht (in: Schreiber 2017, § 48, Rdnr. 13) von dem „in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verbürgten Prinzip der Personenwahl“. Die in Art. 22 der Weimarer Reichsverfassung angeordnete Verhältniswahl wurde nicht in das Grundgesetz übernommen. Die indirekte Parteienwahl mit der Zweitstimme muss also durch die direkte Personenwahl mit der Erststimme vollständig personifiziert werden, wenn das duale Wahlsystem mit zwei Stimmen vor dem Grundgesetz Bestand haben soll. Die Zahl der 299 Wahlkreise ist konstant. Entstehen sog. „Überhänge“ nimmt die Zahl der Wahlkreise dadurch weder zu noch ab. Ein Zuwachs an unzulässigen Direktmandaten ist nicht auszumachen. Ein Überhang ist kein konkretes Mandat, sondern ein Abstand, eine Unterschiedszahl, also eine Differenz. Die Zahl der Listenplätze einer Landespartei bleibt hinter der Zahl der von ihr im Land erlangten Direktmandate zurück. Die personalisierte Verhältniswahl wird durch die gespaltene Abstimmung, also durch das sog. Stimmensplitting abgeschwächt, im Extremfall sogar ganz ausgelöscht

Zu § 1 Abs. 1 und Abs. 2 BWahlG

1. Wie der Gesetzgeber selbst bekundet, will er am Verfahren der personalisierten Verhältniswahl festhalten. Damit befindet er sich im Einklang mit dem Grundgesetz. Tatsächlich tut das der Gesetzgeber nach wie vor aber nur sehr mangelhaft. Er hat in § 1 Abs. 2 BWahlG (n.F.) verfügt, dass – mit dem Stichtag des 1. Januar 2024, also während der nächsten Legislaturperiode – die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 abzusenken ist. Dem Wortlaut nach müssen also 19 direkt gewählte Mitglieder des Bundestages das Parlament wieder verlassen, weil es für sie am Stichtag keinen Wahlkreis mehr gibt. Das tun sie aber nicht, wenn die Abgeordneten über die Zweitstimmen-Wahl „abgesichert“ worden sind. Ab 2024 sinkt zwar die Zahl der Direktmandate. Die Zahl der über die Zweitstimme abgesicherten Mitglieder des Bundestages bleibt unberührt. Eine Absenkung der Wahlkreise führt nicht zu einer Minderung der Mitglieder des Bundestages, wenn das Splitting nicht verschwindet.

Außerdem wurde 2002 die Zahl der Wahlkreise schon einmal von 328 auf 299 abgesenkt. Trotzdem entstanden 2017 ein Rekordwert von 46 Überhängen und 65 Ausgleichsmandaten. Es gibt also keine Gewähr, dass eine Verringerung der Wahlkreise tatsächlich zur Sollzahl der Mitglieder des Bundestages führt. Wohlgemerkt: Auch bei 280 Wahlkreisen sind im Extremfall immer noch 280 Überhänge möglich, nämlich dann, wenn alle Wähler ohne Ausnahme vom Stimmensplitting Gebrauch machen. Hinzu kämen noch einmal mindestens 280 Ausgleichsmandate.

Jahr 1998 2002 2013 2017
MdB’s: Soll  656  598  598  598
Wahlkreise*)  328  299  299  299
Überhang    13     5   4   46
Ausgleich   –   –   19   65
MdB’s: Ist  669  603 631  709

Quelle: Bundeswahlleiter.

*) Durch Überhänge nimmt die Zahl der Wahlkreise weder zu noch ab.

Wenn die Zahl der Volksvertreter verringert werden soll, muss der Gesetzgeber das Problem „an der Wurzel packen“, das ungesetzliche und verfassungswidrige Stimmensplitting erfolgswirksam unterbin­den, also die Trennung der Erststimmen von den Zweitstimmen verhindern, statt den Anteil der bloßen Listenplätze durch nachgeschobene Aufstockungsmandate noch weiter zu erhöhen. Je weniger Ausgleichsmandate umso kleiner die Personalisierunglücke. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll diese Lücke ab 2021 durch den Wegfall von lediglich drei Ausgleichsmandaten nur geringfügig verkleinert werden. Vor 2013 hat es im Bund noch gar keine nachgeschobenen Aufstockungsmandate gegeben. – Nach altem Wahlrecht vor 2013 hätte es 2017 insgesamt 65 Ausgleichsmandate weniger gegeben. Warum also Ausgleich? Wahlen werden ausgezählt, niemals aber ausgeglichen.

2. Das neue Gesetz soll auch in Zukunft der „personalisierten“ Verhältniswahl folgen (BT-DruckS. 19/22504, S. 1), bleibt aber nach wie vor auf halben Weg stehen. In Wahrheit kann nur von einer teil­personalisierten Verhältniswahl die Rede sein: Weil es 598 reguläre Mitglieder des Bundestages gibt, aber nur 299 Abgeordnete direkt gewählt werden können, verbleibt hier ein gewaltiger, verfassungs­rechtlich gebotener Personalisierungsbedarf. Er wird durch die Absenkung auf 280 Wahlkreise nicht kleiner, sondern noch größer als er es ohnehin schon ist. Daraus entsteht ein schwerwiegendes Verfas­sungsproblem: Es können höchstens 299, ab 2024 sogar nur 280 Abgeordnete – mit zwei verbundenen Stimmen – unmittelbar gewählt werden, wie es das Grundgesetz verlangt. Beim verbleibenden Rest von 410 Mitgliedern des Bundestages kam 2017 jedoch allein die mittelbare Wahl über die Landeslisten der Parteien zum Zuge.

Einer puren Listenwahl steht das Verfassungsgericht ablehnend gegenüber: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ (Vgl. BVerfG v. 10.4. 1997, BVerfGE 95, 335 (349).) Und: „Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verbietet (…) die indirekte Wahl (…).“ (Vgl. BVerfGE 47, 253 (279).) Über die starren Listen der Parteien wird „en bloc“ abgestimmt. Die Wähler können aus den Listen nicht einmal eine Auswahl treffen und haben keinen Einfluss auf die alles entscheidende Reihenfolge. Sie müssen gleichsam „die Katze im Sack wählen“. Nicht nur ein Teil, sondern alle Volksvertreter werden namentlich gewählt, und zwar unmittelbar, frei und gleich. So will es das Grundgesetz. Deshalb muss die indirekte Wahl mit den Zweitstimmen durch eine vorangestellte Direktwahl mit den Erststimmen lückenlos personifiziert werden. Eine Zwei-Stimmen-Wahl ist kompliziert und umständlich, aber verfassungsrechtlich machbar, solange die eine Stimme nicht zur Gegenstimme für die andere wird und der wirkliche Wählerwille deshalb nicht mehr zu erkennen ist.

3. Das Verfassungsgericht hat schon 1957 festgehalten: „Gewiss eröffnet das Institut der Überhangmandate Manipulationsmöglichkeiten. Deren Verfassungsmäßigkeit müsste im Falle eines Missbrauchs angezweifelt werden.“ (BVerfGE 7, 66 (75)). Für eine solche Manipulation gibt es ein beeindruckendes Fallbeispiel: die bundesweite Ausdehnung der CSU. Das verfassungswidrige Stimmensplitting spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle. Über die bundesweite CSU ist es in den Wahlen 1972 und 1976 zu einem erbitterten Streit mit der CDU gekommen. Die CSU wollte in einigen ausgewählten Wahlkreisen außerhalb Bayerns, in denen die CDU zuvor nicht siegreich war, allein für die Erststimmen Wahlkreisbewerber aufstellen, auf CSU-Landes­listen außerhalb Bayerns aber verzichten. In den ausgewählten Ländern sollten die Wähler für die große Schwesterpartei, also für die CDU, allein mit den Zweitstimmen votieren. Die CDU sollte ihre Wähler dazu aufrufen, Erst- und Zweitstimme zu „splitten“ und mit den Erststimmen die Kandidaten der CSU und mit der Zweitstimme die Listen der CDU zu wählen.

Die CSU verzichtet außerhalb Bayerns auf eine Landesliste, und die CDU schickt gegen die CSU in den außerbayerischen Wahlkreisen keine Gegenkandidaten ins Rennen. So der Plan. Wenn sich die außerbayerischen CSU-Wähler auf die Erststimmen- und die CDU-Wähler auf die Zweitstimmen-Wahl fokussieren, können beide Parteien zusammen Überhänge erzeugen und sich so den Wahlsieg erschleichen. Durch das verfassungswidrige Splitting entstehen bei der CDU „entpersonalisierte“ Listenplätze. Das duale Wahlsystem wird gesprengt. Die CDU-Wähler „verschenken“ ihre Erststimmen. Die von den Erststimmen entblößten Zweitstimmen gehen der CDU aber nicht verloren, sondern verbleiben ihr, obwohl sie die Direktmandate willentlich verfehlt hat. – Die „personalisierte Verhältniswahl“ schafft sich ab. (Vgl. DÖV 4/2015, S. 329.)

Das ist auch heute noch möglich und wurde auch von anderen Parteien tatsächlich praktiziert. So hat die NPD bei den drei Landtagswahlen v. 26. März 2016 ihre Wähler aufgefordert, mit den Erststimmen nicht die NPD, sondern die AfD zu wählen. In späteren Wahlen hat die NPD von vorne herein keine Direktkandidaten mehr aufgestellt. Die gespaltene Abstimmung, das sog. Splitting, ist die Hauptursache für die Überhänge. Man kann aber weder den CSU- noch den CDU-Wählern Vorwürfe machen, solange das Verfassungsgericht das Stimmensplitting zulässt (BVerfGE 5, 7 (82); BVerfGE 7, 63 (73); BVerfGE 79, 161 (167); BVerfGE 95, 335 (362); solange die herrschende Meinung dem folgt (statt aller: Strelen, in: Schreiber, BWahlG 2017, § 4 Rdnr. 5 ff); und der Wahlgesetzgeber an diesem Missbrauch der durch das Splitting provozierten Überhänge im neuen Gesetz nichts ändert.

Der missbräuchliche Zusammenhang zwischen Splitting und Überhängen ist also nicht zu übersehen. Insgesamt gaben 2017 etwa 3,85 Mio. Wähler ihre Erststimme für den gewünschten Wahlkreisbe­werber ab. Sie wählten seine Partei aber nicht mit der Zweitstimme. Umgekehrt wählten 2,08 Mio. Wähler mit der Zweitstimme die gewünschte Partei. Sie verweigerten aber dem von ihr aufgestellten Kandidaten die Erststimme. (Zum Rechengang vgl. Gegenkommentar 2018, Anhang, S. 110, Tabelle 2) Und dieses verfassungsrechtlich unzulässige Splitting genügte 2017 schon für 46 Überhänge und 65 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich war, zu allem Überfluss, sogar größer als der Überhang. Ein solcher Aufwuchs des Bundestages um insgesamt 111 Mitglieder kann aber nicht dadurch geheilt werden, dass 2021 lediglich drei Überhänge vom Ausgleich freigestellt werden, also drei unausgeglichene Überhänge entstehen und ab 2024 die ohnehin viel zu geringe Zahl der Wahlkreise von 299 sogar auf 280 noch weiter abgesenkt wird.

4. In § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG wird „de lege lata“ angeordnet „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ abzustimmen. Das schließt die getrennte, die gespaltene, die unverbundene Abstimmung mit beiden Stimmen natürlich aus. Das Stimmensplitting ist nicht nur ungesetzlich, es ist auch verfassungswidrig, gehört aber seit der Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag im Jahre 1953 zum gewohnten Erscheinungsbild aller Wahlen. Es kann aber nicht darum gehen, das Splitting zu unterbinden. Denn es ist „de lege lata“ ja schon untersagt, wird „contra legem“ aber nicht ernst genommen und sogar als fakultatives Recht behandelt. – Was fehlt ist also der tatsächliche Vollzug der Verbundabstimmung, und zwar als zwingendes Recht.

Der Wahlgesetzgeber hat im Wortlaut des Gesetzes zu verankern, dass die angeordnete Verbundabstimmung lückenlos, vor allem aber auch tatsächlich praktiziert wird. Das kann er mit einer Rückkehr zum Stimmzettel ohne Splitting, wie er 1949 in Gebrauch war, am einfachsten erreichen (Anlage, Stimmzettel von 1949.) Zugleich muss aber auch die Zahl der Wahlkreise auf die der Mitglieder des Bundestages angehoben werden. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 wurde der Stimmzettel nur einmal gekennzeichnet, aber zweimal ausgewertet. Das Splitting war ausgeschlossen, und es kam nur zu zwei Überhängen: einer davon in Bremen, der andere in Baden-Württemberg. Einen neuen Stimmzettel ohne Splitting wird es nach den Willen des Wahlgesetzgebers aber nicht geben. Denn er hält am ungesetzlichen und verfassungswidrigen Stimmensplitting „contra legem“ nach wie vor fest.

Schon 1949 gab es 400 Abgeordnete, aber nur 160 Wahlkreise. Eine lückenlose Personifizierung der Verhältniswahl durch die Direktwahl war schon damals nicht möglich. Deshalb kann man nicht einfach nur zum Stimmzettel von 1949 zurückkehren. Vielmehr muss die Zahl der Wahlkreise mit der Zahl der Mitglieder des Bundestages in Übereinstimmung gebracht werden. Folglich muss die Zahl der Wahlkreise von derzeit 299 auf 598 ansteigen. Und das setzt voraus, dass alle 299 Wahlkreise halbiert und damit verdoppelt werden. Das ist für den 20. Deutschen Bundestag durchaus machbar, wenn die Entscheidung des Verfassungsgerichts mit der gebotenen Eile zustande kommt und dabei die Interessen der bereits nominierten Wahlkreisbewerber hintangestellt werden. Der Wahlgesetzgeber ist an das Grundgesetz gebunden. Er kann es nicht dulden, dass der größere Teil von 410 Abgeordneten nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar – oder wie im Fall der Ausgleichsmandate gar nicht – gewählt wird und die ohnehin schon bestehende Lücke bei der Personifizierung durch die erneute Herab­setzung der Wahlkreise sogar noch vergrößert wird. Die Personenwahl ist ein Verfassungsgebot. Sie kann nicht durch die bloße Parteienwahl substituiert werden.

Bleibt festzuhalten: Das Stimmensplitting ist ungesetzlich. Ohne Splitting weniger oder keine Überhänge. Denn es gibt keine Abweichungen zwischen Erst- und Zweitstimmen mehr. Und ohne Überhänge keine Ausgleichsmandate. Das Kernproblem des dualen Wahlsystems mit zwei Stimmen wäre durch Verwendung eines Stimmzettels ohne Splitting vielleicht nicht vollkommen gelöst, aber deutlich entschärft. Zudem müssen alle 598 Abgeordneten mit beiden Stimmen gewählt werden.

Zu § 6 Abs. 5 und Abs. 6 BWahlG

Wenn ohne Splitting die meisten Überhänge verschwinden und 15 von ihnen sogar noch geduldet werden, erübrigt sich ihre gesetzliche Regelung. Die Vorschriften in § 6 Abs. 5 und Abs. 6 BWahlG gehören jedoch zu den gewohnten Kernstücken des Wahlrechts, an denen der Gesetzgeber leider festhalten will. Deshalb ist es angebracht, sie einer besonderen Betrachtung zu unterziehen. Der verworrene Wortlaut ist auch in der Neufassung des Gesetzes nicht normenklarer und verständlicher geworden. Der Wahlgesetzgeber hat die Aufforderung des Verfassungsgerichts (BVerfGE 121, 266 (316)), Abhilfe zu schaffen, in den Wind geschlagen und ist damit seit mehr als 10 Jahren im Verzug.

Entsteht bei Landesparteien eine Unterzahl an Listenplätzen gegenüber den im Land erreichten Direktmandaten, wird diese nach § 6 Abs. 5 und Abs. 6 BWahlG auf Bundesebene ausgeglichen. Die Listenplätze der Länder werden mit den Überhängen zu Bundesergebnissen zusammengetragen. Danach werden die Listenplätze so lange aufgestockt, bis die Überhänge verschwunden sind. Der Wahlgesetzgeber hält an diesem rabiaten Eingriff in den Länderproporz fest, obwohl die CSU gar nicht bundesweit antritt und es deshalb ein CSU-Bun­deswahlergebnis überhaupt nicht geben kann. Gewählt wird mit Landeslisten (föderatives Wahlverfahren). Bundeslisten sind eine Fiktion. Bundesüberhänge gibt es nicht. Dem steht vor allem aber auch entgegen, dass die Wähler über die nachgeschobene Aufstockung der Listenplätze überhaupt nicht abgestimmt haben. Der Ausgleich einer Unterzahl an Listenplätzen durch ihre nachträgliche Aufstockung kann also gar nicht demokratisch legitimiert sein. Der Wahlgesetzgeber hat es unterlassen, hier Abhilfe zu schaffen und für die nachgeschobenen Aufstockungsmandate wenigstens eine Nachwahl anzuordnen, wer, von welcher Partei, in welchem Land vom Ausgleich profitieren soll. Eine unmittelbare Urwahl durch das souveräne Wahlvolk fehlt bei den Ausgleichsmandaten. – Und das ist grob verfassungswidrig.

Die Verbindung von Landes- zu Bundeslisten, die in § 7 BWahlG noch unterstellt worden war, ist – auf Vorschlag des BVerfG – 2011 gestrichen worden. (Vgl. 19. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes v. 25.11.2011. BGBl. I S. 2313.) Der Gesetzgeber hat jedoch die 2011 abgeschafften Listenverbindungen 2013 in § 6 Abs. 5 und Abs. 6 BWahlG wieder eingeführt und diesen Missgriff wieder aufleben lassen: Vor allem durch die Ausgleichsmandate wird der föderative Charakter der Bundestagswahlen verletzt. Deutschland ist ein Bundesstaat. (Art 20 Abs. 1 GG) Die vorgegebenen Landeskontingente bei den Mandaten der einzelnen Länder können nicht überschritten werden. Dem Bundesland Nordrhein-Westfalen steht z.B. ein Landeskontingent von 128 Sitzen zu. Es gab dort 2017 keine Überhänge, wohl aber 14 Ausgleichsmandate, so dass am Ende 142 Mitglieder des Bundestages aus NRW stammten. Der Wahlgesetzgeber hätte diesen Bruch der föderalen Bundesstaatlichkeit verhindern müssen, hat es 2011 auch getan, sich davon 2013 aber schon wieder verabschiedet.

Zu § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG

In § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG wird erneut angeordnet, dass es keine Listennachfolge in vakante Wahlkreise mehr geben soll, wenn die betroffene Landespartei von Überhängen begünstigt ist. Wenn es weniger als 15 Überhänge gibt, weil das Splitting unterbunden ist, verliert auch diese Vorschrift an Gewicht. Der Gesetzgeber kehrt trotzdem zur ursprünglichen Regelung der Nachrücker-Entscheidung vom 26.2. 1998 (BVerfGE 97, 317) zurück, die mit dem 22. Bundeswahlgesetz v. 3.5.2013 verlassen wurde. Grundsätzlich kann niemand, der in seinem Wahlkreis mit den Erststimmen gewählt wurde, durch einen Nachfolger ersetzt werden, der seinen Listenplatz mit den Zweitstimmen erlangt hat. Dieser Austausch von Direktmandaten durch Listenplätze ist eine willkürliche Vermengung von Erst- und Zweitstimmen, vor allem aber auch eine verfassungswidrige Abschwächung der zu personifizierenden Verhältniswahl.

Eine generelle Listennachfolge in vakante Wahlkreise führt dazu, dass im Laufe einer Legislaturperiode zahlreiche Direktmandate durch Listenplätze ersetzt werden und deshalb ein ins Gewicht fallender Schwund bei den 299 Direktmandaten eintritt. Aus diesem Grund gab es bereits Ende der 18. Legislaturperiode im Deutschen Bundestag keine 299, sondern nur mehr 278 direkt gewählte Abgeordnete. (Vgl. Gegenkommentar 2018, Anhang, S. 109, Tabelle 9.) In der laufenden, der 19. Legislaturperiode sind bis zum 15.8.2020 bereits 10 Direktmandate durch Listenplätze ausgetauscht worden.

In vier Fällen fiel nach der Wahl durch den späteren Austausch sogar ein Überhangmandat weg, ohne dass die Ausgleichsmandate angepasst wurden. Dies geschah 2017 auch beim Ausscheiden des Abgeordneten Stephan Harbarth aus dem Bundestag. Durch die Listennachfolge von Nina Warken wurde der Wahlkreis Nr. 227 von Harbarth vakant. Dadurch fiel in Baden-Württemberg ein Überhang weg. Der Ausgleich blieb jedoch unverändert. Es handelt sich hier nicht um einen Einzelfall. Bei Ausscheiden von M. Mortler (Wahlkreis 246); von M. Stübken (Wahlkreis 065); von Oswin Veith (Wahlkreis 177) und von J. Kahrs (Wahlkreis 016) war ebenfalls zu beobachten, dass ein Wahlkreis vakant wurde, deshalb ein Überhang entfiel, der Ausgleich aber nicht verringert worden ist und inzwischen fünf überhanglose Ausgleichsmandate hinzugekommen sind.

Die in § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG angeordnete Verbundabstimmung mit Erst- und Zweitstimmen darf auch im Fall der Nachbesetzung von Wahlkreisen nicht verletzt und ausgehöhlt werden. Deshalb hat bei einer Vakanz in den Wahlkreisen eine Nachwahl mit den Wahlkreisstimmen zu erfolgen. In § 48 Abs. 2 Satz 1 BWahlG gibt es dafür einen Präzedenzfall. Wenn es keine Landesliste gibt, ist schon jetzt eine Nachwahl in den Wahlkreisen vorzunehmen. Der Wahlgesetzgeber bleibt davon leider unbeeindruckt. Ihm ist daher aufzuerlegen, dass diese nachträgliche Aushöhlung der personalisierten Verhältniswahl unterbleibt.

V. „Keine Alternative

In den Materialien zur Reform des Wahlrechts wird behauptet, Alternativen gebe es „keine“. (Vgl. BT-DruckS. 19/22504, Ziff. III, S. 2) So ist es aber nicht: Der Grundsatz „one man one vote“ ist aus der Geschichte der Demokratie nicht wegzudenken. Die in Art. 22 der Weimarer Reichsverfassung angeordnete Verhältniswahl wurde eben gerade nicht in das Grundgesetz übernommen. Und wenn man nur mit einer Stimme, der Erststimme, wählen würde, gebe es weder Überhang- noch Ausgleichsmandate. Die Sollzahl der Volksvertreter könnte von der Ist-Zahl überhaupt nicht abweichen. Vor allem aber ist der Direktwahl jede Sperrklausel fremd. Die Verhältniswahl mit Sperrklausel ist keineswegs gerechter als die Direktwahl mit einfacher Mehrheit. Das hier aber nur nebenbei.

Niemand kann zweimal zur Wahl gehen: einmal am Vormittag und noch einmal am Nachmittag. Das ist unstreitig und bedarf keiner umständlichen Begründungen. Gleichwohl lässt es das typisch deutsche Wahlrecht zu, zweimal abzustimmen, einmal mit der Erststimme und noch einmal mit der Zweitstimme. Keinem Briten kann man klarmachen, dass man zwei Stimmen braucht, eine für den Wahlkreiskandidaten von Labour und noch eine für den örtlichen Bewerber der Konservativen. Auch in den USA, wo der Präsident in 50 Bundesstaaten direkt gewählt wird, würde man sich an den Kopf greifen, wenn man zwei Stimmen hätte, eine für Donald Trump und noch eine für Joe Biden.

Die Alternative mag überraschen, kann aber nur heißen: Ja, zwei Stimmen sind möglich, wenn das Stimmensplitting ausgeschlossen bleibt. (Vgl. auch NJOZ 42/2020, 1249: „Für ein Mandat zweimal zur Wahlurne gehen?“) Werden alle Abgeordneten zweimal gewählt, ist das umständlich, aber machbar, vorausgesetzt, dass die eine Stimme nicht zur Gegenstimme für die andere wird. – Zwei Stimmen sind wohl irgendwie noch möglich. Aber eine Stimme ist genug!

VI. Zusammenfassung

Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: Die lückenlose Personifizierung der Zweitstimmen durch die Erststimmen ist ein Gebot der Verfassung. Das grundrechtlich relevante Skandalon sind weniger die Überhang- und Ausgleichsmandate. Das auch. Im Vordergrund steht vielmehr die Kritik an der verfassungswidrigen Verletzung der „personalisierten“ Verhältniswahl durch das Stimmensplitting. Verschwin­det das Splitting, verschwinden die Überhänge. Und ohne Überhang kein Ausgleich. – Ohne Splitting löst sich also der gordische Knoten des deutschen Wahlrechts von selbst auf.

Die Verbundabstimmung wird aber millionenfach nicht praktiziert. Die Personifizierung der Zweitstimmen- durch die Erstimmen-Wahl bleibt insoweit auf der Strecke. Das Splitting ist jedoch schon dadurch untersagt, dass in § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG „de lege lata“ eine „mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“ angeordnet wird. Und das schließt die getrennte, die gespaltene, die unverbundene Abstimmung natürlich aus. Die Verbundabstimmung wird leider nicht als grundrechtlich verankertes und deshalb zwingendes, sondern als dispositives Recht verstanden.

Weiter hat der Gesetzgeber im Wortlaut des Gesetzes klarzustellen, dass im Falle einer Doppelwahl nicht nur ein Teil, sondern ausnahmslos alle Abgeordneten mit beiden Stimmen gewählt werden. Es darf bei einer Wahl mit zwei Stimmen keine Personalisierungslücke entstehen, die mit der Unmittelbarkeit der Wahl unvereinbar ist.

Die personalisierte Verhältniswahl darf nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Dem Gesetzgeber ist aufzuerlegen, das Stimmensplitting im Wortlaut des Gesetzes erfolgswirksam zu unterbinden. Wahlen sind daher auf amtlichen Stimmzetteln durchzuführen, die das Splitting ausschließen, wie das bei der ersten Bundestagswahl im Jahre 1949 bereits der Fall war.

Die unverkürzte Doppelwahl mit zwei Stimmen ist umständlich, aber verfassungskonform, solange aus beiden Stimmen nur ein Mandat entsteht, weil alle Abgeordneten zweimal gewählt werden: einmal mit der Erststimme und noch einmal mit der Zweitstimme.

Werden ausnahmslos alle Abgeordneten mit beiden Stimmen gewählt, schließt das eine spätere Listennachfolge in vakante Wahlkreise ebenfalls aus. Der Austausch von Direktmandaten durch Listenplätze ist mit der Unmittelbarkeit der Wahl generell unvereinbar. Er führt dazu, dass während der Legislaturperiode das Prinzip der personalisierten Verhältniswahl einzelfallweise durchbrochen wird. Fehlt die Direkt­wahl oder fällt sie bei der Nachbesetzung weg, wird das in der Verfassung verankerte Prinzip der durch die Direktwahl zu personifizie­renden Zweitstimmen-Wahl verlassen.

München, im Dezember 2020

Gezeichnet von: 1.) Dr. Wolfgang Goldmann; 2.) Dr. Robert Mertel, (parteiloser Wahl­kreisbewerber 2017, Wahlkreis Nr. 220); 3.) Joachim Kampka, 4.) Dr. Manfred C. Hettlage; 5.) Dr. Ursula Offergeld-H.; 6.) Gero v. Braunmühl; 7.) Dr. Annelie Grasbon; 8.) Dr. Winfried Grasbon; 9.) Dr. Felix Grasbon,

Weitere Beitrittserklärungen: siehe Anlagen.

Anlage

Abbildung 2: Stimmzettel Wahl zum ersten deutschen Bundestag v. 14.8.1949 Wahlkreis Nr. 20, Wolfenbüttel / Goslar-Land

                Bild: Stiftung Haus der Geschichte; EB-Nr. 1992/08/603

Dieser Beitrag wurde unter Wahlrecht veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.