22. Wahlrechts-Änderungsgesetz

Auf Kriegsfuß mit der Verfassung

„Die Abgeordneten werden (…) gewählt“, indem das Wahlvolk auf amtlichen Stimmzetteln in unmittel­barer und freier Ur- und Volksabstimmung den Namen einer Person kennzeichnet, die als Volksvertreter in den Bundestag einziehen soll. Damit steht das deutsche Wahlgesetz  jedoch seit je her auf Kriegsfuß. Denn es gibt auf weiten Strecken einer nur mittelbaren Wahl der Abgeordneten über geschlossene Landeslisten der Parteien den Vorzug. Das kollidiert mit Art. 38 GG. Eine Gruppe von mehr als 50 Beteiligten hat deshalb nach Art. 41 GG Einspruch gegen die Bundes­tagswahl v. 24.9.2017 eingelegt. Das Verfahren ist unter den Aktenzeichen WP 193/17 beim Parla­ment in Berlin anhängig. Die 709 Abgeordneten werden im 4. Quartal 2018 im Plenum abstimmen, ob dem Antrag auf Wiederholung der Wahl unter einem verfassungskonformen Wahlgesetz stattgegeben wird oder nicht. Die Beteiligten des Einspruchs rechnen mit einer Zurückweisung ihres Antrags. Dage­gen können sie vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe Wahlprüfungs-Beschwerde einlegen. Die Beteiligten des Verfahrens haben Dr. Manfred C. Hettlage bereits damit beauftragt, die Streitsache vor die Schranken des Verfassungsgerichts zu tragen.

 Der Wahleinspruch (Az. WP 193/17) stützt sich auf die fünf nachfolgenden Gründe:

 1.

Die Doppelwahl mit zwei Stimmen folgt dem sog. „Grabensystem“ mit zwei von einander getrennten Wahlentscheidungen: Erstens wird über 299 Abgeordnete in überschaubaren Wahlkreisen unmittel­bar abgestimmt. Insoweit ist die klassische Direktwahl nach dem „Westminster-Modell“ auch im deut­schen Wahlrecht bereits verwirklicht. Zweitens wird der Rest der Mitglieder des Bundestages nur mittelbar über die Landeslisten der Parteien gewählt. (Vgl. § 1 Abs. 2 BWahlG.) Das verletzt sowohl den Grundsatz der unmittelbaren als auch den der gleichen Wahl. (Vgl. Art. 38 Abs. 1 GG.) Und für die Listenwahl gilt: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ (So das BVerfG v. 26.2.1998, BVerfGE 97, 317 (323) und zuvor schon das BVerfG v. 10.4.1997, BVerfGE 95, 335 (349).)

2.

Obwohl der Widersinn „negativer“ Stimmengewichte seit 2008 zweimal höchstrichterlich unterbunden wurde, (vgl. BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266; und BVerfG vom 25.7.2012, BVerfGE 131, 316) trat dieses paradoxe Pänomen in neuer Gestalt 2017 und zuvor schon 2013 deutlicher an Licht als je zu­vor. In beiden Wahlen war der Ausgleich größer als der Überhang und die Parteien mit Überhängen haben selbst, sogar überproportional vom Mandatsausgleich profitiert. 2017 fielen bei der SPD 3 Überhänge an, sie erhielt selbst aber 19 Aufstockungsmandate. Die CDU ging 2013  mit 4 Über­hängen aus der Wahl hervor und erlangte selbst 13 nachgeschobene Ausgleichsmandate. – Viel widersinniger geht es nicht.

3.

Die „mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ wird in § 1 Abs. 1 BWahlG an­geordnet. Das schließt die unverbundene Abstimmung natürlich aus. Das sog. „Stimmensplitting“ ist also un­gesetzlich, gehört aber „contra legem“ seit 1953 millionenfach zum gewohnten Bild aller Bundestags­wahlen. Die mit der gespaltenen Abstimmung einhergehende Verdoppelung des Stimmenerfolgs hat das BVerfG schon 1957 gerügt. (Vgl. BVerfGE 7, 66.) – Es ist nicht egal, ob man zweimal einen oder je einmal zwei Abgeordnete wählt.

4.

Nachgeschobene Ausgleichsmandate sind grob verfassungswidrige Eingriffe in das Wahl­ergebnis. Die Sitze der Parteien werden ohne unmittelbare und freie Wahlhandlung der Wähler aufge­stockt. Abgeordnete werden den Parteien nicht einfach zugeteilt. „Die Abgeordneten werden (…) ge­wählt.“ (Vgl. Art. 38 Abs. 1 GG.) Das BVerfG hat mit der Fünf-Prozent-Hürde eine verbindliche Obergrenze für Eingriffe in das Wahlergebnis gezo­gen, die durch die nachgeschoben Mandatsaufstockung überschritten wird. (Vgl. BVerfGE 95, 408 (419).)

5.

Dem Wahlgesetz des Bundes fehlt die schon 2008 vom BVerfG vergeblich geforderte Normenklarheit und Verständlichkeit. (Vgl. Entscheidung zum „negativen“ Stimmengewicht, BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266 (316).) Der Gesetzgeber hat diese höchstrichterlich Anordnung in den Wind geschlagen und ist seit nunmehr 10 Jahren damit im Verzug!

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