Einspruch gegen die Landtagswahl 2018

Von Dr. Manfred C. Hettlage und Dr. Ursula Offergeld-Hettlage

Nibelungenstr. 22,   80639 München

T: (089) 1665386, Mobil 0170 89 13 102, <mail@manfredhettlage.de>

 

An den  Bayerischen Landtag

80097 München

Mit Rückschein, vorab per Fax: 5597-3178

 

E i l s a c h e

dem Präsidenten der konstituierenden Sitzung des Bayerischen Landtags sofort auf den Tisch

Wahlstreitigkeit nach Art. 33 Satz 1 BV:

Erstens: Eilantrag auf einstweilige Anordnung durch den Landtag

Zweitens: Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl, insbesondere im Fall der 15 Abgeordneten des Bayerischen Landtags mit sogenanntem „Ausgleichsmandat“

 

Hiermit legen wir,

Dr. Manfred C. Hettlage, Beteiligter zu 1.),

und Dr. Ursula Offergeld-Hettlage, Beteiligte zu 2.),

beide Nibelungenstr. 22, 80639 München,

nach Art. 33 Satz 1 der Bayerischen Verfassung beim Bayerischen Landtag schriftlich Ein­spruch gegen Gültigkeit der Landtagswahl v. 14. 10. 2018 ein. Der Einspruch stellt darauf ab, die 15 Abgeordneten mit sog. „Ausgleichsmandaten“ vorläufig von der Willensbildung im Landtag auszuschließen. (Eilsache) Er geht aber darüber hinaus und erfasst auch alle Abge­ordneten des Bayerischen Landtags, die nicht unmittelbar gewählt worden sind. (Hauptsache)

Dem Einspruch gegen die Gültigkeit der Landtagswahl werden voraussichtlich weitere Be­teiligte beitreten.

Vollmacht

 Bis auf weiteres ist der Beteiligte zu 1.), Dr. Manfred C. Hettlage, mit Einwilligung der son­stigen Beteiligten vorläufiger Verfahrensbevollmächtigter.

 

Antrag

Die Beteiligten beantragen beim Landtag, vertreten durch den Präsidenten der konstituieren­den Sitzung, danach vertreten durch den gewählten Landtagspräsidenten:

….. die 15 Abgeordneten mit sogenanntem „Ausgleichsmandat“

noch vor der Wahl des Landtagspräsidenten, hilfsweise noch vor der Wahl des Ministerpräsidenten

aus der parlamentarischen Willensbildung des Landtags vorläufig auszuschließen. Dieser An­trag auf einstweilige Anordnung wird mit höchster Dinglichkeit gestellt. (Eilsache)

….. die Vorschrift des Art. 14 Abs. (1) Satz 6 der Bayerischen Verfassung für unvereinbar mit der in Art. 28 Grundgesetz garantierten Unmittelbarkeit und Freiheit der Wahl zu erklären, zu verwerfen und eine Wahlwiederholung unter einem verfassungskonformen Landeswahlrecht ohne Überhang- und ohne Ausgleichsmandate durchzuführen. (Hauptsache)

 

Begründung des Eilantrags

Bei der Wahl der 205 Mitglieder des Bayerischen Landtags v. 14.10.2018 sind nach dem amt­lichen Endergebnis 10 sog. „Überhangmandate“ und 15 sog. „Ausgleichsmandate“ entstan­den. Die Einspruchsführer bestreiten die Zulässigkeit, über die Sperrklausel hinausgreifend, erneut in das Wahlergebnis einzugreifen, es zu verbessern und „auszugleichen“, und zwar ohne konkret auch über die 15 Mitglieder des Landtags, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden, ein Votum der Wähler herbeizuführen. Denn Abgeordnete wer­den grundsätzlich gewählt. Eine Nachwahl über die 15 nachgeschobenen Aufstockungsman­date hat es aber nicht gegeben und ist auch gar nicht vorgesehen.

„Ausgleichsmandate sind Zusatzmandate.“ (Vgl. Strelen in: Scheiber, BWahlG/Kommentar, 9. Aufl. 2013, § 6, Rdnr. 29.) Das muss mit höchster Dringlichkeit die Frage aufwerfen, ob die 15 Mitglieder des Landtages, die lediglich ein nachgeschobenes Aufstockungsmandat be­kleiden, an der schon für Dienstag den 6. November 2018 anberaumten Wahl des Landtags­präsidenten und danach an der Wahl des Bayerischen Ministerpräsidenten mitwirken dürfen. Es kann den Einspruchsführern nicht zugemutet werden, dass darüber erst dann endgültig ent­schieden wird, wenn die Wahl des Landtagspräsidenten bzw. des Bayerischen Ministerpräsi­denten bereits vollzogen ist. Die Entscheidung in der Hauptsache käme viel zu spät.

Die Akzeptanz der Demokratie als Staats- und Regierungsform würde schweren Schaden neh­men, sollten an der Konstituierung des Landtags mit der Wahl eines Landtagspräsidenten und insbesondere an der nachfolgenden Wahl des Bayerischen Ministerpräsidenten 15 Mitglieder des Landtages teilnehmen, die zur Vertretung der Bürger des Freistaates gar nicht befugt sind, weil eine konkrete Abstimmung über die Zusatzmandate durch das Wahlvolk, d.h. durch den Souverän des Freistaates fehlt.

Unter den öffentlichen Angelegenheiten ist die parlamentarische Wahl des Landtagspräsiden­ten wie die des Ministerpräsidenten von herausgehobener Bedeutung. Das ist unstreitig. Es gibt nur wenige Gründe unter den Geschäften des Landtags, die noch wichtiger wären. Ein besonders wichtiger Grund für eine einstweilige Anordnung liegt also vor. Die Nachteilsab­wägung liegt auf der Hand: Es ist besser, 15 Abgeordnete mit strittigem Ausgleichsmandat zu Unrecht von den beiden Wahlen des Landtags und des Ministerpräsidenten und der nachfol­genden parlamentarischen Willensbildung einstweilig auszuschließen als sie zu Unrecht daran teilnehmen zu lassen. Auch im ungünstigsten Fall bleibt der Landtag voll funktionsfähig.

Die Einspruchsführer bitten den Bayerischen Landtag höflich, aber mit dem geboten Nach­druck antragsgemäß um vorläufigen Rechtschutz, nämlich die 15 Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Aufstockungsmandat bekleiden, so lange von der Willensbildung im Landtag, insbesondere von der Wahl des Landtags- wie des Ministerpräsidenten auszuschie­ßen, bis die Angelegenheit in der Hauptsache entschieden ist.

Teil A:    Regularien

1. Zuständigkeit und Zulässigkeit

Der Landtag ist zuständig. Der Wahleinspruch gegen die Gültigkeit der Landtagswahl v. 14. Oktober 2014 ist zulässig. Beides geht aus Art. 33 Satz 1 der Bayerischen Verfassung hervor.

1. Einspruchsbefähigung

Die Einspruchsführer sind natürliche Personen. Als solche sind sie durch das Grundgesetz und die Verfassung des Freistaates Bayern geschützt und daher einspruchsbefähigt.

2. Einspruchsgegenstand

Gegenstand des Einspruchs ist die Gültigkeit der Landtagswahl vom 14. Oktober 2018. Es handelt sich also um eine Wahlstreitigkeit im Sinne von Art. 33 Satz 1 der Bayerischen Ver­fassung.

3. Einspruchsbefugnis

Die Einspruchsführer waren berechtigt, an der Landtagswahl v. 14. Oktober 2018 teilzuneh­men, sie waren im Wählerverzeichnis eingetragen und haben tatsächlich an der Wahl teilge­nommen. Sie sind also gegenwärtig und unmittelbar in ihren Rechten verletzt, die im Grund­gesetz und in der Verfassung des Freistaates Bayern garantiert werden.

4. Form und Frist

Form und Frist wurden eingehalten.

 

Teil B:  Begründung des Antrags in der Hauptsache

Das bayerische Wahlgesetz spricht von 91 Stimmkreisen, in denen 91 Abgeordnete unmittel­bar gewählt werden. Davon zu unterscheiden sind die sieben Regierungsbezirke für die Listen der Parteien, die im Gesetz als „Wahlkreise“ bezeichnet werden und aus denen bei normaler Besetzung 89 nur mittelbar gewählte Mitglieder des Landtages hervorgehen. Das Gesetz weicht damit vom gewöhnlichen Sprachgebrauch ab. Zur Vermeidung von Verwechslungen wird daher nachfolgend das irreführende Wort „Wahlkreis“ so gut es eben geht vermieden.

Wie in den meisten Bundesländern und im Bund ist auch in Bayern das duale Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme in Gebrauch (personalisierte Verhältniswahl). Die Wahl mit der Erst­stimme wird allgemein als „Mehrheitswahl“ und die Wahl mit der Zweitstimme als „Verhält­niswahl“ bezeichnet. Diese Unterscheidung hat sich nicht bewährt. Denn die 89 Abgeordne­ten ziehen schon wegen der Sperrklausel, aber auch wegen der Ausgleichsmandate eben ge­rade nicht im Verhältnis der Zweitstimmen in den Landtag ein, weil der Anteil an den Man­daten den Anteil an den Stimmen durch beide Eingriffe in das Wahlergebnis zwangläufig übersteigt (accidental bias). Auch ist die Verhältniswahl natürlich keine Minderheitswahl. Zu­dem haben beide Verfahren dem Grundsatz des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Bayerischen Verfas­sung zu folgen: „Mehrheit entscheidet“.

Eine Wahl ist gerecht, wenn sie den Wahlrechtsgrundsätzen folgt, die in Art. 28 GG nieder­gelegt sind: „In den Ländern (…) muss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist.“ Der bayerische Gesetzgeber gibt sich damit nicht zufrieden und verlangt in Art 14 der Verfassung des Landes eine „verbesserte Verhältniswahl“. Dieser sehr zwielichtige Rechtsbegriff kann auf keinen Fall bedeuten, das Wahlergebnis müsse verändert, „verbessert“ oder ausgeglichen werden. Eine in diesem Sinne „verbesserte Wahl“ wäre eine manipulierte Wahl. Wahlen sind außer­parlamentarische, basisdemokratische Urwahlen. „Nur wenn der Wähler das letzte Wort hat, hat er auch das entscheidende Wort.“ (Vgl. Schmidt-Bleibtreu, Hofmann, Hopfauf, Grund­gesetz, Kommentar, 12. Aufl., 2008, § 38, Rdnr. 14.)

1.

Die Wahlbevölkerung ist nur zu einem sehr geringen Teil von etwa 2 Prozent Mitglied einer politischen Partei. Trotzdem stellen die Parteien 100 Prozent der Abgeordneten des Bayeri­schen Landtags. Dieses offenkundige Missverhältnis macht den Schluss unabweisbar, dass die Landtagswahl v. 14.10.2018 nicht hinreichend allgemein war. Bayern ist kein Parteienstaat. „Bayern ist ein Volksstaat. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (Vgl. Art. 2 der Bayeri­schen Verfassung.) Daraus folgt, dass diejenigen Bürger, die sich zu Parteien zusammenge­schlossen haben für sich „kein Nominierungsmonopol bei Wahlen“ beanspruchen können. (Vgl. Strelen in: Schreiber BWahlG, 2013, Einführung Rdnr. 16.) „Die Wahl ist keine Partei­enwahl, sondern eine Volkswahl. Sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht sind allgemein. Wer wählen darf, muss grundsätzlich auch wählbar sein.“ (Vgl. M. Hettlage, BWahlG Gegenkommentar, 2. Auf.. 2018, Seite 15.)

Anders als das Bundeswahlgesetz lässt das Gesetz für die Landtagswahl in Bayern nicht zu, dass aus der Mitte der Stimmkreise heraus von wahlberechtigten Bürgern parteilose Einzel­bewerber für die Stimmkreise als „Bürgerkandidaten“ nominiert werden können. Wer im Stimmkreis zur Wahl antritt, muss sich auch für eine Liste in einem von sieben Regierungsbe­zirken bewerben. Umgekehrt ist die Bewerbung auf einer Liste der Parteien nicht zwingend mit einer Kandidatur für einen Stimmkreis verbunden. Die Kandidatur für einen Sitz im Land­tag setzt also die Mitgliedschaft in einer Partei oder einer parteiähnlichen Gruppierung vor­aus.

Man kann also „cum grano salis“ sagen: Wer nominiert, der regiert. Das bayerische Wahl­recht verletzt den Grundsatz der allgemeinen Wahl, es räumt den Parteien eine monopolartige Sonderstellung bei der Nominierung der Bewerber ein und erschwert die parteiunabhängige „Bürgerkandidatur“ in den Stimmkreisen. Das Landeswahlgesetz hat also von vorne herein einen verfassungsrelevanten Konstruktionsfehler.

 

2.

Der Landtag hat in normaler Besetzung 180 Mitlieder, aufgeteilt in 91 Direktmandate und 89 Listenplätze. Schon bei der Landtagswahl von 2008 wich die tatsächliche von der regulären Zahl der Mitglieder ab. Auch bei der jüngsten Landtagswahl von 14.10.2018 zogen nicht 180, sondern 205 Abgeordnete in den Landtag ein. Das waren 25 mehr als bei normaler Besetzung, ein Zuwachs also von deutlich mehr als 10 Prozent über normal. Das hat es in dieser Größen­ordnung bisher noch nie gegeben. Die Zahl der 91 Direktmandate ist konstant d.h. unverän­derlich. „Überhänge“ können also keine überzähligen und damit unzulässigen Direktmandate sein.

„Überhangmandate sind (…) keine Direktmandate, sondern Listenmandate.“ Vgl. Ralph Backhaus, Marburg Law Review (ML) 1/2015, S.18 ff. (20 und 22): „Die Überhangmandate vor dem Bundesverfassungsgericht“; ähnlich zuvor schon Hans Meyer: „Die Zukunft des Bundestagswahlrechts“, 2010, S. 44; besonders ausführlich im Internet: M. Hettlage: „Die verkannte Rechtsnatur der Überhangmandate>“, (Link: https://www.europolis-online.org/wp-content/uploads/2018/06/BeitrReNatur_Hettlage.pdf .)

Tabelle I:  Überhang- und Ausgleichsmandate nach Regierungsbezirken

Bezirke Überhänge Ausgleichsmandate
CSU SPD FreieW. Grüne FDP AfD Summe
Oberbayern 3 1 1 2 1 5
Niederbayern 1 1 1 2 2
Oberpfalz 1 1 1
Oberfranken 1 1 1 1
Mittelfranken 2 1 1 1 3
Unterfranken 0 0
Schwaben 2 1 3
Summe 10 4 5 4 1 1 15

Quelle Landeswahlleiter: Sitzberechnung nach Regierungsbezirken; (Link: https://www.landtagswahl2018.bayern.de/sitzeberechnung_wahlkreise.html).

 Der Schlüssel zum tieferen Verständnis der Aufblähung des Landtags um 25 Sitze liegt also in den fälschlich sogenannten „Überhangmandaten“. Sie ziehen die z.T. sogar überpropor­tionale Aufstockung der Listenplätze durch nachgeschobene Bonus-Mandate hinter sich her. Die Verkennung der Rechtsnatur der Überhangmandate ist weit verbreitet. „Überhangman­date“ heißen zwar so, sind tatsächlich aber keine überzähligen Direktmandate und schon gar nicht Direktmandate, die einem ordnungsgemäß und unmittelbar gewählten Stimmkreis-Sieger in Wahrheit gar nicht zustehen, wie das landauf landab zu Unrecht unterstellt wird. Die sog. „Überhänge“ sind Abstände, Unterschiedszahlen, also Differenzen.

Die Abstände bei den Mandaten aus der Erst- und der Zweitstimmen-Wahl entstehen durch die Missachtung der personalisierten Verhältniswahl. Denn es kommt zu einem systemwid­rigen Aufwuchs an Sitzen, wenn eine Partei in einem der sieben Regierungsbezirke, d.h. im Bereich der personalisierten Verhältniswahl Listenplätze erzielt, die dazugehörenden Direkt­mandate aber verfehlt. Es steigen also nicht die Direktmandate, sondern die Listenplätze an, die durch die Erststimme zu personalisieren waren, aber nicht personalisiert wurden. Beide Stimmen wurden nicht im Verbund abgegeben. Stattdessen wurde mit beiden Stimmen ge­trennt abgestimmt. Aus der verbundenen Doppelwahl entsteht nur ein Mandat, aus der unver­bundenen dagegen zwei: das eine mit der Erststimme, das andere mit der Zweitstimme. Die gespaltene Abstimmung, das sog. Stimmensplitting ist also die Hauptursache für die sog. „Überhänge“. Es kommen aber noch andere Ursachen hinzu, z.B. die Sperrklausel. Wie das Stimmensplitting stört auch sie den Gleichschritt in der Parallel- oder Zwillingswahl mit Erst- und Zweitstimme, den „pas de deux“ der personalisierten Verhältniswahl.

Tabelle II: Missachtung der personalisierten Verhältniswahl:  Splittingwähler bei der bayerischen Landtagswahl 2018

CSU Freie Grüne SPD FDP AfD
Erststimmen 809.666 1.196.575 680.190 701.384
Zweitstimmen 763.126 1.195.781 628.898 687.238
Splittingwähler   46.540          794    51.292    14.146
Zweitstimmen 2.550.895 353.800
Erststimmen 2.495.186 363.699
Splittingwähler      55.709     17.101

Quelle Landeswahlleiter: amtliches Endergebnis 2018. Ohne „Splitterparteien“Link: https://www.wahlen.bayern.de/lw2018/B72413%20201851.pdf

Das Stimmensplitting ist die Hautursache für die sog. „Überhänge“. Es entstanden zunächst 10 von den Direktmandaten abgespaltene Listenplätze bei Parteien, denen es nicht gelang, das dazugehörende Direktmandat zu erzielen. Diese überzähligen Listenplätze-ohne-Direktman­date wurden „ausgeglichen“, aber nicht durch 10, sondern durch 15 nachgeschobene „Aufsto­ckungsmandate“. Der Ausgleich war also größer als der vermeintliche „Überhang“ an Direkt­mandaten. Durch den nachgeschobenen Mandatsausgleich war man „vom Regen in die Trau­fe“ geraten. „Überhänge“ sind keine Direktmandate, sondern systemwidrige Listenplätze. Daran wird man sich noch gewöhnen müssen. Zu allem Überfluss hat der bayerische Wahl­gesetzgeber die sog „Überhänge“ keineswegs missbilligt und verworfen, sondern in Art. 44 Abs. 2 ausdrücklich anerkannt.

Dort heißt es: „In den Stimmkreisen errungene Sitze verbleiben dem Wahlkreisvorschlag auch dann, wenn sie die nach § 42 Abs. 2 ermittelte Zahl der Sitze übersteigen (Überhangmanda­te).“ Sieht man von der stark verbesserungsfähigen Rechtstechnik ab, dann muss die rechtli­che Anerkennung der sog. „Überhänge“ natürlich zum Wegfall des Rechtsgrundes für den Ausgleich führen. Wenn dagegen ein Abgeordneter sein Direktmandat zu Unrecht erhalten haben sollte – was tatsächlich nicht der Fall ist – müsste der Landesgesetzgeber dagegen ein­schreiten. Das tut er aber nicht. Stattdessen nimmt er den unterstellten Missstand hin, um ihn trotz Billigung nachträglich sogar überproportional „auszugleichen“.

Der Mandatsausgleich fußt nicht nur auf einer Verkennung der Rechtsnatur der sog. „Über­hänge“, er beruht in sich auch auf einem fundamentalen Wertungswiderspruch.

3.

Die Landtagswahl in Bayern ist eine sog. „Grabenwahl“. Insgesamt sind 205 Abgeordnete in den Landtag eingezogen. Davon wurden 91 Männer und Frauen in Stimmkreisen unmittelbar gewählt wie es das Grundgesetz in Art. 28, aber auch die Verfassung des Freistaates Bayern in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 verlangen. An diesem Teil der Wahl ist nichts zu kritisieren. Insge­samt werden 91 Landtagsabgeordnete in 91 Stimmkreisen mit einfacher Mehrheit nach dem althergebrachten „Westminster-Modell“ gewählt, das in den Urkunden Großbritanniens seit 1429 nachgewiesen werden kann.

Anders als im Vereinigten Königreich von Großbritannien weicht in den meisten Bundeslän­dern und im Bund die reguläre Zahl der Sitze in den Parlamenten von der Zahl der verfügba­ren Stimmkreise jedoch in hohem Maße ab. So auch in Bayern. Zieht man von den 205 Mit­gliedern des Landtags die 91 direkt gewählten Abgeordneten ab, verbleiben 114 Volksvertre­ter, die nicht in Stimmkreisen unmittelbar gewählt worden sind, sondern über die Listen der Parteien in den sieben Regierungsbezirken Abgeordnete wurden. Auf diesen Listen, über die „en bloc“ entschieden wird, steht grundsätzlich eine Mehrzahl an Personen zur Wahl.

Für die Überschreitung der Kontingente an Listenplätzen für die einzelnen Regierungsbezirke ergibt sich das in Tabelle III dargestellte Bild. Umgangssprachlich formuliert wird der Pro­porz zwischen den sieben Regierungsbezirken „über den Haufen“ geworfen, und zwar in Oberbay­ern um 8 auf 38; in Niederbayern um 3 auf 12; in der Oberpfalz um 2 auf 10; in Oberfranken um 2 auf 10; in Mittelfranken um 5 auf 17; in Unterfranken um Null gleichblei­bend bei 9; und in Schwaben um 5 auf 18. Gleiches gilt für den Proporz zwischen den Par­teien, was hier aber nicht weiter dargelegt werden kann.

Nach bayerischem Wahlrecht kann mit der Zweitstimme eine einzige Person aus den Listen in den sieben Regionen namentlich ausgewählt werden. Dies wird als Wahl mit offenen Listen bezeichnet. Das trifft so aber nicht zu. Zwar kann auch mit der Zweitstimme aus der Mehrzahl der gelisteten Personen eine einzelne unmittelbar und frei ausgewählt werden. Gleichwohl werden alle anderen zwangsläufig mitgewählt. Die „Grabenwahl“ für die 205 Mitglieder des Bayerischen Landtags ist also nur zu einem kleinen Teil unmittelbar und frei. Mit der Erst­stimme werden 91 Personen in 91 Stimmkreisen unmittelbar gewählt. Beim verbleibenden Rest von 114 Mitgliedern des Landtags ist das nur sehr bedingt, bzw. gar nicht der Fall. Klammert man die Vorzugsstimme aus, mit der auch bei der Zweitstimme eine Direktwahl ermöglicht wird, stimmen die Wähler über die verbleibenden Listenplätze „en bloc“ ab. Die Liste wird demnach als ganze zwangsläufig mitgewählt, ohne dass ansonsten daraus eine unmittelbare Auswahl der Abgeordneten erfolgt. Insoweit handelt sich bei weitem überwie­gend um eine mittelbare Wahl, die insoweit mit dem verfassungsrechtlich garantierten Grund­satz der unmittelbaren Wahl unvereinbar ist.

Tabelle III:   Überschreitung der Kontingente für die Regierungsbezirke

Stimm- kreise Listen- pätze Sitze Soll „Über-hänge“ Auf-stockung Sitze Ist
Oberbayern 31 30 61 3 5 69
Niederbayern 9 9 18 1 2 21
Oberpfalz 8 8 16 1 1 18
Oberfranken 8 8 16 1 1 18
Mittelfranken 12 12 24 2 3 29
Unterfranken 10 9 19 0 0 19
Schwaben 13 13 26 2 3 31
Summe 91 89 180 10 15 205

Quelle Landeswahlleiter: Sitzberechnung nach Regierungsbezirken; (Link: https://www.landtagswahl2018.bayern.de/sitzeberechnung_wahlkreise.html).

Die Landtagswahl v. 14.10.2018 war also nur in Teilen unmittelbar. Bei den 10 sog. „Über­hängen“ wurde die Doppelwahl mit beiden Stimmen gesprengt und zu zwei von einander getrennten Wahlen umfunktioniert, so dass daraus nicht ein Mandat entsteht sondern zwei. Schlussendlich wurden die 15 Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichs­mandat bekleiden, nicht in allgemeiner, nicht in unmittelbarer, nicht in gleicher Wahl, nicht in geheimer, und schon gar nicht in freier Wahl gewählt. Denn sie wurden in Wahrheit über­haupt nicht gewählt. Und das geht gar nicht.

4.

Im Schrifttum wird die „Grabenwahl“. die bei den jüngsten Landtagswahlen zum Einsatz kam, mit überraschender Heftigkeit kritisiert. Erst Gottfried Mahrenholz hat seinen Beitrag zur Festschrift für Winfried Hassemer, (2010, S. 111) unter den Titel gestellt: „Bigamie im Wahlrecht? Zweifel am Grabensystem.“ Und in der Tat ist die Grabenwahl ungleich. Für eine gleiche Wahl wäre von vorneherein schon die Zahl der Wahlkreise viel zu klein. Wenn die Zahl der 91 Stimmkreise hinter der Regelzahl der 180 Sitze im Landtag zurückfällt, dann bleibt die personalisierte Verhältniswahl, also die Doppe2lwahl mit beiden Stimmen zwangs­läufig ein Bruchstück, ein Fragment, also ein Torso.

Dann wird das Wahlgeschehen auf der anderen Seite des Grabens von der Listenwahl domi­niert, bei der über die Person der Volksvertreten nicht unmittelbar abgestimmt werden kann. In Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG wird dagegen angeordnet. „In den Ländern (…) muss das Volk eine Vertretung haben, die aus (…) unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist.“ Höchstrichterlich hat das Bundesverfassungsgericht in der Nachrücker-Entscheidung, BVerfG v. 26.2.1998 (BVerfGE 97, 317 (323)) festgehalten: „Eine bloße Par­teienwahl schließt die Verfassung aus.“ Die gleiche Auffassung findet sich schon in der Vier-zu-Vier-Grundsatzentscheidung, BVerfG v. 10.4.1997 (BVerfGE 95, 335).1

Das ganze Elend der „verbesserten Verh1ältniswahl“ in Bayern wird schlagartig an einem Bei­spiel sichtbar, dass auch die Presse be3schäftigt hat. (Vgl. Anlage I) Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 18.0 Oktober 2018 mit dem Titel: „Rechenspiele“, hat Benjamin Adjei (Grüne) das Direktmandat in München Moosach mit einem sehr knappen Vorsprung von nur 88 Stimmen vor Mechthilde Wittmann (CSU) gewonnen. Wäre Mechthilde Wittmann als Stimmkreis-Siegerin aus der Erstimmenwahl hervorgegangen, hätte das zu einem weiteren sog. „Überhang“ bei der CSU im Regierungsbezirk Oberbayern geführt. Statt 3 hätte es dort 4 sog „Überhänge“ gegeben.

Weil Überhänge – über den Kopf der Wähler hinweg – durch nachgeschobene Zusatzmandate „ausgeglichen“ werden, hätte das zur Folge gehabt, dass Isabell Zacharias (SPD), die mit 209 Erststimmen im Stimmkreis Schwabing nur knapp unterlag, trotzdem in den Landtag eingezo­gen wäre, weil sie ein Ausgleichsmandat erhalten hätte. Der Landtag wäre von 205 um ein sog. „Überhangmandat“ und ein Aufstockungsmandat auf 207 Mandate angewachsen. Wür­den 89 Wähler in Moosach mit der Erststimme die Kandidatin der CSU wählen, hätten sie gleichzeitig eine in Schwabing unterlegene Stimmkreisbewerberin der SPD zu einem Sitz im Landtag verholfen. – Viel widersinniger geht es wirklich nicht!

5.

Fasst man alles zusammen ergibt sich folgendes Bild. Das duale Wahlverfahren mit zwei Stimmen für die außerparlamentarische und basisdemokratische Urwahl der Mitglieder des Landtags ist ein „mixtum compositum“, um das Wort Mischmasch zu vermeiden. Zwei Stim­men sind zwei Wahlen und bleiben zwei verschiedene Willenserklärungen. Wer mit zwei Stimmen wählt, und beide im Verbund abgibt, votiert zweimal für die gleiche Sache. Mit der Erststimme hat er eine Person gewählt, die sich von der Partei, der sie angehört, nicht abtren­nen lässt. Die Zweitstimme für die Partei des direkt gewählten Abgeordneten ist daher über­flüssig, aber nicht zwingend verfassungswidrig. Wenn die Wähler beide Stimmen gegenein­ander richten, wird ihre doppelte Willenserklärung jedoch zweideutig und in sich wider­sprüchlich.

Wird ein- und derselbe Abgeordnete nach dem Verfahren der personifizierten Verhältniswahl mit der Erst- und mit der Zweitstimme, im Ergebnis also zweimal gewählt, ist das umständ­lich und obsolet, aber nicht unzulässig. Ganz anders liegt die Sache, wenn beide Stimmen getrennt und damit im Ergebnis zwei verschiedene Abgeordnete gewählt werden, einer mit der Erststimme und ein anderer mit der Zweitstimme (gespaltene Abstimmung, Stimmen­splitting). Die Antwort auf die Vielzahl dieser hochkomplizierten Fragen würde jedoch ob­solet, wenn die Zahl der Stimmkreise und der Sitze im Parlament vollkommen identisch wäre, die Zweitstimmen also lückenlos und vollständig durch die Erststimmen personifiziert werden könnten, wie es der verfassungsrechtlich garantierte Grundsatz der unmittelbaren und der gleichen Wahl der Mitglieder der Parlamente verlangt.

Eine Wahl mit zwei Stimmen ist umständlich und überflüssig. Sie muss im Ergebnis deck­ungsgleich sein, wenn sie nicht zu system- und sinnwidrigen „Überhängen“ führen soll. Wür­de man nur mit einer Stimme, der Erststimme, wählen, wäre der ganze Spuk auf einen Schlag verschwunden: Kein Stimmensplitting, keine Überhänge, keine Ausgleichsmandate, keine Sperrklausel, keine negativen Stimmengewichte, keine Nachbesetzung von Direktmandaten aus den Listenplätzen und auch keine komplizierte Verteilung der Stimmen auf die Listen der Parteien nach d’Hondt, Hare/Niemeyer, Sainte-Lague/Schepers oder Puckelsheim I, Puckels­heim II oder Puckelsheim III usw. usf.

Das alles würde entfallen, wenn man nur mit einer Stimme, der Erststimme wählen würde. Doch das Gericht ist kein Ersatzgesetzgeber. Das Wahlrecht entsteht nicht im Gerichtssaal, es entsteht im Parlament. Dessen unbeschadet ist das Gericht sehr wohl befugt, vom Gesetzgeber ein Wahlrecht zu verlangen, in dem die zur Vertretung des Volkes bestimmten Männer und Frauen aus einer unmittelbaren, freien und gleichen Wahl hervorgegangen sind, und in dem es keine mit diesen Wahlrechtsgrundsätzen unvereinbaren Überhänge und erst recht keine Aus­gleichsmandate gibt.

Das wird durch die Streichung von Art. 14 Abs. 1 Satz 6 der Bayerischen Verfassung erreicht. Die Einspruchsführer bitten daher höflich, aber unnachgiebig um antragsgemäße Entschei­dung durch den Bayerischen Landtag.

München, den 28. Oktober 2018, gezeichnet Dr. Manfred C. Hettlage, Beteiligter zu 1) und vorläufiger Prozessbevollmächtigter;  wie  Dr. Ursula Offergeld-Hettlage, Beteiligter zu 2); und andere

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