Die Wähler haben gesprochen, aber nicht entschieden

Überlegungen zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen

Genau genommen gibt es Nordrhein-Westfahlen keine wirklichen Wahl-Sieger. Die CDU ist bei der Landtagswahl von 15. Mai 2022 mit 35,9 Prozent der Zweitstimmen wohl stärkste Partei geworden, konnte aber nur etwas mehr als ein Drittel der aktiven Wähler hinter sich bringen, um von der erschreckend niedrigen Wahlbeteiligung (56 Prozent) gar nicht zu reden. Fast die Hälfte der Wähler nahm an der Abstimmung gar nicht teil. In NRW zeigt sich einmal mehr: Die parlamentarische Demokratie ist nur im Ausnahmefall eine Herrschaft von (absoluten) Mehrheiten. Fast immer wird der Volkswille irgendwie aus Bündnissen von Minderheiten „zusammengewürfelt“. Die Stimme des Volkes wird zur „Koalitionslotterie“. Dabei kann auch die stärkste Kraft des Wahlvolkes auf der Strecke bleiben. – In NRW war auch das durchaus im Bereich der Möglichen.

Dementsprechend ist die Frage, wer mit wem in NRW die Regierung stellen kann, offen geblieben. Das Wahlvolk hat gesprochen. Doch eine endgültige Entscheidung ist dabei nicht gefallen. Hier zeigt sich erneut, dass die Abstimmung über die Landeslisten der Parteien keineswegs „besser und gerechter“ ist als die klassischen Direktwahl der Abgeordneten in Wahlkreisen. Denn die sog. „Verhältniswahl“ führt nur selten zu absoluten Mehrheiten der Mandate einer Partei. Hier wie dort herrscht also das Prinzip der einfachen Mehrheit: „Gewinner der Wahl“ ist, wer die meisten Stimmen hat. – Selbst das ist in der Verhältniswahl keineswegs sicher.

Erschwerend kommt noch etwas hinzu: Ähnlich wie im Bund wird auch in NRW „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ mit zwei Stimmen gewählt, mit der Erst- und der Zweitstimme. Zwei Stimmen sind aber immer auch zwei Wahlen, die beide zu verschiedenen Wahlergebnissen führen. Es handelt sich bei den meisten Abgeordneten allerdings um eine verbundene Doppelwahl, die auch als „personalisierte Verhältniswahl“ bezeichnet wird. Obwohl niemand physisch zweimal im Parlament sitzen kann, wird ein Teil der Abgeordneten zweimal gewählt: einmal mit der Erst- und noch einmal mit der Zweitstimme. Man kann insoweit auch von einer Hybrid-Wahl sprechen.

Kurzum, der Landtag in Düsseldorf besteht regulär aus 181 Mitgliedern. Das gesamte Wahlgebiet ist aber nur in 128 Wahlkreise aufgeteilt. Es verbleiben also von vorne herein 53 Abgeordnete, die gar nicht über beide Stimmen, sondern nur über die Zweitstimme in den Landtag gelangen. Für eine unverkürzte Doppelwahl gibt es nicht gar nicht genug Wahlkreise. Man kann also auch in NRW von vorne herein nur von einer „teilpersonalisierten“ Verhältniswahl sprechen. Werden darüber hinaus beide Stimmen von vorne herein gar nicht im Verbund abgegeben, sondern von einander getrennt, können – im Extremfall – zu den 181 Mitgliedern des Landtags noch einmal maximal 128 Listenplätze hinzukommen, die von den 128 Direktmandaten abgespalten wurden. Die Doppelwahl aus Erst- und Zweitstimme löst sich in ihre beiden Bestandteile auf: Neben den 53 gewöhnlichen Listenplätzen können – natürlich nur im Extremfall – zusätzlich bis zu 128 Listenplätze entstehen, die von den 128 Direktmandaten systemwidrig abgetrennt wurden. – Aus diesem „Stimmensplitting“ ergeben sich mal mal mehr mal weniger sog. „Überhänge“. – Klingt hochkompliziert und das ist es auch.

In NRW sind es konkret aber „nur“ 195 Mitglieder geworden, die nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis vermutlich in den Landtag von NRW einziehen werden. Zu den 181 Mandaten kommen also „nur“ 14 weitere hinzu, unter denen es aber keine zusätzlichen Direktmandate mehr geben kann, weil die Zahl der 128 Wahlkreise eine konstante Größe ist. Bei den 14 Mandaten handelt es sich zusammengenommen um die sog. „Überhänge“ und um Ausgleichsmandate. Erlangt eine Partei mit den Erststimmen mehr Direktmandate als Listenplätze mit den Zweitstimmen, wird der Unterschied durch Bonusmandate für diejenigen Parteien ausgeglichen, die weniger Direktmandate als Listenplätze errungen haben. Die sog. „Überhangmandate“ sind also keine zusätzlichen Direktmandate und schon gar keine Zusatzsitze, die einem direkt gewählten Abgeordneten in Wahrheit gar nicht zustünden. Überhänge sind vielmehr „Unterschiedszahlen“, wie es im Gesetz heißt, die sich aus der gespaltenen Doppelwahl ergeben. Und bis 2013 wurde dies bei den Bundestagswahlen noch allgemein akzeptiert. Aber das hier nur nebenbei.

Wie der Landeswahlleiter festgehalten hat, erlangte die CDU 76, die SPD 45 und die Grünen 7 der insgesamt 128 Direktmandate aus den Erststimmen. Bei den Zweitstimmen kam die CDU ebenfalls auf 76 Listenplätze. Hier gab es also keine Unterschiedszahl. Bei der SPD fielen 56 bei den Grünen 39 Listenplätze an. Die Direktmandate waren also in beiden Fällen gar nicht in der Überzahl, sondern in der Unterzahl. Und das muss stutzig machen. Denn so gesehen wäre für Überhänge gar kein Raum. Gibt es keine Überhänge, macht auch der Ausgleich von vorne herein keinen Sinn.

Wie auch immer, die dringliche Verfassungsfrage , ob es überhaupt möglich ist, das Wahlergebnis ohne weiteres Zutun der Wähler nachträglich zu verändern, zu verbessern oder „auszugleichen“ kann man vernachlässigen. Die Abgeordneten werden vom Wahlvolk in unmittelbarer, freier und gleichen Urabstimmung ausgewählt. Wer nach der Wahl das Wahlergebnis über den Kopf der Wähler hinweg nachträglich ausgleicht, der verfälscht es auch. Leider ist niemand dazu bereit, sich mit dieser Verfassungsfrage auseinanderzusetzen: die Wahlleiter nicht, der Gesetzgeber nicht, aber auch die Verfassungsgerichte nicht.

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