Nichts dazugelernt

Die Kommission zur Reform des Wahlrechts hat ihre Arbeit aufgenommen

Der Bundestag hat sich „bis auf die Knochen“ blamiert. Es gibt mehr Wahlgesetze als Legislaturperioden. Schlimmer noch sollte er durch die jüngste der vielen, aufeinander folgenden Reformen deutlich verkleinert werden. Das Gegenteil ist eingetreten. Er ist größer als je zuvor. Gegenwärtig hat er 736 Mitglieder. Eigentlich sollten es nur 598 sein.

Der tiefere Grund für den Missstand ist die Doppelwahl mit zwei Stimmen. Denn beiden Wahlentscheidungen kommen unweigerlich miteinander in Konflikt, wenn die Wähler mit den Erststimmen einen Wahlkreis-Kandidaten bestimmen, der Landespartei des Kandidaten aber die Zweitstimmen verweigern und dadurch sog. „Überhänge“ entstehen, die seit 2013 “ausgeglichen“ werden. – Würde man statt mit zwei nur mit einer Stimme wählen, gäbe es das überhaupt nicht!

Zwei Stimmen sind zwei Wahlen

Die typisch deutsche Hybrid-Wahl mit zwei, statt mit einer Stimme führte 2021 zu insgesamt 32 sog. „Überhängen“ bei den Erststimmen. Sie wurden nach geltendem Recht durch 104 Ausgleichsmandate bei den Zweitstimmen „egalisiert“. Der Ausgleich ist also viel größer als der Überhang und begünstigt zudem die Wahlverlierer bei den Erstimmen durch Bonusmandate bei den Zweitstimmen. Das allein muss stutzig machen.

Erschwerend kommt noch etwas hinzu: Wahlen werden ausgezählt, niemals aber „ausgeglichen“. Vor 2013 gab es bei den Bundestagswahlen noch gar keine Ausgleichsmandate. Und das Grundgesetz ist weit davon entfernt, einen Ausgleich zu verlangen, wenn die Wahlergebnisse aus den entsprechenden Wahlkreisen und aus den Landeslisten voneinander abweichen, genauer gesagt, wenn eine Landespartei mehr Direktmandate erlangt als Sitze über ihr Landesliste.

Grundsätzlich ist es daher sehr zu begrüßen, wenn sich der Wahlgesetzgeber – endlich! – dazu durchringen sollte, den Überhängen samt Ausgleich den Garaus zu machen. Das wollen die Koalitionsparteien in der Kommission zur Reform des Wahlrechts offenbar durchsetzen. Jedenfalls haben die drei Obleute des Gremiums – Sebastian Hartmann (SPD), Konstantin Kuhle (FDP) und Dr. Till Steffen (Grüne) – vorgeschlagen, dass „Überhangmandate nicht entstehen“ und Ausgleichsmandate „nicht mehr erforderlich“ sind. (Vgl. „Aktuelles. So will die Ampel den Bundestag verkleinern“, im Netz 5/2022 auf der Webseite www.konstantinkuhle.de.) Diese politische Kehrtwende ist jedenfalls im Grundsatz gut und richtig.

Wie die drei Obleute aus den Reihen der Koalition, Hartmann, Kuhle und Steffen betonen, soll jedoch „das Grundprinzip der personalisierten Verhältniswahl“ nicht angetastet werden. Und dieses Prinzip hat einen gravierenden Konstruktionsfehler: Es gibt im Normalfall 598 Mitglieder des Bundestages, aber nur 299 Wahlkreise. Von dem nur vermeintlichen „Grundprinzip“ – einer Personalisierung der Zweit- durch die Erststimmen – wird also im besten Fall überhaupt nur die Hälfte der 598 Abgeordneten erfasst. Die sog. „personalisierte“ Verhältniswahl ist als nichts Halbes und nichts Ganzes. Das Prinzip bleibt also ein Fragment. Außerdem ist die Doppelwahl kein zwingendes Recht. Man kann also höchstens 299 Abgeordnete mit beiden Stimmen wählen, muss aber nicht. Es ist also möglich, die „personalisierte“ Verhältniswahl aufzuspalten: Und hier liegt der springende Punkt.

Mehr als 299 Wahlkreises gibt es nicht. Deshalb können maximal überhaupt nur 299 der 598 Abgeordneten mit beiden Stimmen, der Erst- und der Zweitstimme, gewählt werden. Es gibt also höchsten 299 zweimal gewählte Abgeordnete, mehr nicht. Werden beide Stimmen voneinander separiert – die Abgeordneten also nicht mit beiden Stimmen gewählt – zerfällt die Zwillingswahl, und zu den 299 Direktmandaten aus den Erststimmen können maximal 299 separierte Listenplätze aus den Zweitstimmen hinzutreten. Aus der Doppelwahl wird insoweit eine Verdoppelung der Wahl. Genauer gesagt können durch das Splitting im eingeengten Bereich der 299 Wahlkreise bis zu 299 von den Direktmandaten abgetrennte Listenplätze hinzukommen: die sog. „Überhänge“. Sie werden durch 299 möglichen Ausgleichsmandate egalisiert, die zu allem Überfluss die sog. „Überhänge regelmäßig übersteigen. – Im Extremfall wären das, alles zusammen genommen, mehr als 1196 mögliche Mitglieder des Bundestages.

Das hier etwas nicht stimmen kann, liegt auf der Hand. Die genannte Kommission will Abhilfe schaffen und hat sich im April 2022 konstituiert. Neben den drei genannten Obleuten der Koalitionsparteien gehören ihr zehn weitere Parlamentarier aus allen Parteien an. Hinzu kommen 13 externe Sachverständige, die keine Mitglieder des Bundestages sind. Unter den Sachverständigen findet man die Namen großer Juristen, darunter der ehemalige Verfassungsrichter Prof. Rudolf Mellinghoff, Prof. Bernd Grzeszick, Prof. Sophie Schönberger, u.a. (Vgl. Hasso Suliak: „Neue Wahlrechtskommission beginnt mit Streit“, Legal Tribune Online (LTO) www.lto.de.) Ende August 2022 soll es einen Zwischenbericht geben. Auf der Agenda stehen die in der Bundestagsdrucksache 20/1023 v. 15.3.2020 aufgeführten Problembereiche: Verlängerung der Legislaturperiode, Amtszeitbegrenzung, Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, Steigerung des Frauenanteils und Absenkung der Mitgliederzahl des Deutschen Bundestages.

„Ausgleichssitze sind Zusatzsitze“

Gewiss ist das graue Theorie: In der Praxis werden durch Ausgleich und Überhang solche schwindelerregenden Zahlen nicht erreicht. Es bleibt aber dabei: Es gibt 598 Abgeordnete, aufgeteilt in 299 Direktmandate und 299 gewöhnlichen Listenplätze. Soweit durch das Stimmensplitting die Doppelwahl im Bereich der 299 Wahlkreise aufgelöst wird, entstehen mal mehr mal weniger sog. „Überhänge“ und diese werden durch überproportional anfallenden Ausgleichsmandate kompensiert. Und “Ausgleichssitze sind Zusatzsitze“. (Vgl. Schreiber BWahlG „2017, § 6, Rdnr. 29.) Die sog. „Überhänge“ sind das nicht. „Überhangmandate“ sind überhaupt keine konkreten Mandate und schon gar nicht Mandate, die einem ordnungsgemäß direkt gewählt Abgeordneten nicht zustehen, wie landauf, landab fälschlich unterstellt wird. Überhänge sind „Unterschiedszahlen“, wie es im Bundeswahlgesetz heißt. (Vgl. § 6 Abs. 5 und Abs. 7 BWahlG.) Sie beziffern den Abstand zwischen den mit den Erstimmen erlangten Direktmandaten einer Landespartei und den dahinter zurückbleibenden Sitzen aus ihren Landeslisten, über die mit den abgespaltenen Zweitstimmen entschieden wurde.

Das alles klingt hochkompliziert und ist es ja auch. Wie frühere Umfragen ergaben, wird das duale Wahlsystem mit zwei Stimmen von etwa der Hälfte der gewöhnlich anzutreffenden Wähler nicht hinreichend durchschaut. (So schon R. Schmitt-Beck, „Denn sie wissen nicht, was sie tun“, ZParl v. 3.7. 1993.) Das allein ist Grund genug, sich von dem dualen Wahlsystem der „personalisierten“ Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstimme zu verabschieden und nur noch mit einer Stimme zu wählen. Doch so ist es leider nicht. Vielmehr halten alle Bundestagsparteien an der hybriden Zwei-Stimmen-Wahl mit großer Verbissenheit fest. Und das heißt: Der „Störenfried“, die sog. „Überhänge“, die es (außer 1965, 1969, 1972 und 1976) immer gegeben hat, bleiben auch in Zukunft im Bereich hoher Wahrscheinlichkeit. Um dem entgegenzutreten und zugleich dem Ausgleich den Boden entziehen, sollen nach dem Willen der Regierungskoalition künftig alle entstehenden Überhangmandate – über den Kopf der Wähler hinweg – nachträglich gestrichen werden, ein rabiater Eingriff in den Grundsatz der freien Wahl.

Der Gesetzgeber ordnet die „personalisierte“ Verhältniswahl an Wahl an, akzeptiert aber auch das Stimmensplitting und verlangt anschließend von den Wahlleitern, den freien Willen der Splitting-Wähler zu ignorieren, falls er zu sog. „Überhängen“ führt. Die Wähler stimmen ab, und zwar mit zwei Stimmen statt mit einer. Die Wahlleiter kassieren einen Teil der gültig abgegebenen Erststimmen wieder ein. Sie sortieren dabei die betroffenen Wahlkreis-Sieger nach der Menge der von ihnen erzielten Erststimmen und folgen dem Grundsatz: „Den Schwächsten beißen die Hunde.“ – Für die CSU in Bayern würde das bedeuten, dass sie 11 von insgesamt 45 gültig gewählten Direktmandaten nachträglich verliert und sich mit 34 erzielten Listenplätzen zufriedengeben muss. Das ist fast ein Viertel der CSU-Abgeordneten des Bundestages! – Spätestens hier stellt sich daher die Verfassungsfrage.

Ersatzstimmen: klare Absage

Um die Sache auf die Spitze zu treiben, soll nach den Vorstellungen der Koalitionsparteien eine „Ersatzstimme“ neu eingeführt werden. Die bisherige Zwei-Stimmen-Wahl würde dadurch zu einer bedingten Drei-Stimmen-Wahl erweitert. Gesetzt den Fall, es kommt zu einer Streichung von sog. „Überhängen“, sollen die betroffenen Wähler gleichsam als Entschädigung ihre Erststimme vorsorglich anderweitig platzieren, also an Kandidaten einer anderen, einer Konkurrenzpartei – natürlich ohne Überhangmandate? – vergeben können. In der Praxis wäre das undurchführbar. Wie soll der Wähler in der Wahlkabine erkennen, bei welche Partei „Überhänge“ anfallen und bei welcher nicht. Wie will man wissen, welche Wähler überhaupt betroffen sind? Wie soll man beim Auszählen der Stimmen wissen, bei welchem Stimmzettel die Erststimme entfällt und stattdessen die Ersatzstimme zum Zuge kommen soll?

Im Schrifttum wird den Ersatz- bzw. Eventualstimmen denn auch eine klare Absage erteilt. So heißt es im führenden Kommentar von W.  Schreiber, (BWahlG 2017, § 6, Rdnr. 37): „Eine (zusätzliche) Alternativstimme verstößt gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz (…)“. Die Abstimmung müsse „vorbe­haltslos und bedingungsfrei“ erfolgen. Widerspruch hat daher auch Prof. Bernd Grzeszick, selbst Mitglied der Kommission, eingelegt. In der Tat ist niemand befugt, eine ordnungsgemäß abgegebene Erststimme außer Kraft zu setzen. Niemand kann eine gültige Wahlentscheidung für ungültig erklären. Niemand kann die Wähler zwingen, ihre Willenserklärung zu relativieren und vorsorglich durch eine Eventual- bzw. Ersatzstimme auszutauschen, die auch noch an eine Konkurrenzpartei geht. Das übersteigt die Kräfte des Gesetzgebers und die Kräfte der Wahlleiter. Ersatzstimmen sind also hochkompliziert, verfassungsrechtlich bedenklich und führen die Wähler in die Irre.

One man one vote – pro Kopf eine Stimme

Wer im Sinne des Bundesverfassungsgerichts nach einer „normenklaren und verständlichen“ Lösung sucht, dem eröffnen sich eine Reihe von Möglichkeit. Da ist zunächst die Wahl mit nur einer Stimme – die klassische Personenwahl in Wahlkreisen nach dem „Westminster-Modell“,. Sie kommt ohne Sperrklausel aus, ist aber auf dem Kontinent leider sehr unbeliebt ist. Auch die Franzosen lassen das britische Prinzip der einfachen Mehrheit nicht gelten und verlangen eine Stichwahl, wenn in den Wahlkreisen die absolute Mehrheit verfehlt wird. Soll dagegen im Sinne der Verhältniswahl nur mit einer Stimme gewählt werden, kann man künftig auch mit offenen statt mit geschlossenen Listen abstimmen.

In Finnland wird völlig unabhängigen voneinander die eine Hälfte des Parlaments mit der Erststimme, die andere mit der Zweitstimme gewählt. Eine Anrechnung der einen auf die andere Wahl findet nicht statt. Das Stimmensplitting stört natürlich, ist aber möglich. Ob eine Partei bei den Erststimmen besser abschneidet als bei den Zweitstimmen, ist irrelevant und findet keine Beachtung.

Gleichwohl wollen in Deutschland alle Parteien „mit dem Kopf durch die Wand“ und halten am dualen Wahlsystem „one-man-two-votes“ fest, wie es seit 1949 in unterschiedlichen Ausprägungen in Gebrauch ist. Darauf wird man sich einstellen müssen. Bei einem solchen Verfahren sollten wenigsten zwei Mindestbedingungen erfüllt sein. Das Stimmensplitting muss weg. (Vgl. Publicus 2010.2.) Die Zahl der Wahlkreise muss durch Halbierung der Wahlgebiete verdoppelt und so auf die unverrückbare Zahl der 598 Mitglieder des Bundestages angehoben werden. Wenn überhaupt wird es dann nur sehr selten zu den leidigen „Überhängen“ kommen.

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