75 Jahre BWahlG

Unsere Streitschrift zum Jubiläum

Geprägt von Willkür und Verfassungsbruch: der 20. Deutsche Bundestag

von

Dr. Manfred C. Hettlage, verantwortlich i.S.d.P; *) Dr. Wolfgang Goldmann; Dr. Robert Mertel; Joachim Kampka; Dr. Ursula Offergeld-Hettlage; Gero von Braunmühl; Dr. Annelie Grasbon; Dr. Winfried Grasbon; Dr. Felix Grasbon; Dr. Thomas Grasbon, Heinz Dalen; Dr. Ludwig Römhild, Dr. Dora Römhild; Dr. Anton Fischer; Dominic Grasbon; Roswitha Dalen; Roland Weese; Dr. Helmut Fleck

Bildvorschlag:

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„Le ventre legislatif“ von Honré Daumier, **)

Bildunterschrift

“Der gesetzgebende Bauch“ beugt Recht und Gesetz nach Lust und Laune. Leerstehende Wahlkreise in Passau oder Erlangen? Das Tohuwabohu bei der Nachwahl in Berlin? Eine vermeintliche Überzahl an Wahlkreis-Siegern? Und die nachträgliche Verfälschung der Wahl durch sog. „Ausgleichsmandate“?

Wer mit zwei Stimmen wählt, holt sich den Teufel ins Haus. Weil die Deutschen zweimal wählen, können sie beide Stimmen gegeneinander richten und glauben ernsthaft, sie hätten sich das weltweit beste Wahlverfahren ausgedacht. Würde man nur mit einer Stimme wählen – wie bei der Europa-Wahl, in Großbritannien, im Commonwealth, z.B. Indien, oder in den USA, in Frankreich etc. – gäbe es auch in Deutschland keine vermeintlichen „Überhänge“, und jeder Verfälschung der Wahl durch einen nachträglichen „Ausgleich“ der Wahlergebnisse wäre von vorne herein der Boden entzogen. – Wahlen werden ausgezählt, niemals aber ausgeglichen!

Am 15. Juni 1949 wurde das Bundeswahlgesetz (BGBl S. 21) verkündet. In 20 Legislaturperioden gab es 26 Wahlrechts-Änderungsgesetze bzw. Änderungsversuche. Eine Unzahl von Verfassungsbeschwerden und Wahleinsprüchen waren die Folge. Doch mit keiner der vielen höchstrichterlichen Entscheidungen ist es den Verfassungsrichtern gelungen, Rechtsfrieden zu stiften. Der 20. Deutsche Bundestag hat regulär 598 Plätze (Soll-Zahl), es gibt aber nur 299 Wahlkreise, dafür aber 736 Parlamentarier. Es gibt also nicht nur zu wenig Wahlkreise, sondern auch viel zu viele Abgeordnete.

Kap. I

Fünfzehn Abgeordnete haben ein „doppeltes Mandat“

Keine Frage: Der außerparlamentarische Wechsel der Partei ist immer zulässig. Der Wechsel des Mandats ist es nicht. Wer sein Mandat aufgibt, verliert die Mitgliedschaft im Bundestag. Die Gewissensfreiheit der Abgeordneten führt nicht dazu, dass sie frei bestimmen können, wer sie gewählt hat und wem sie ihr Amt verdanken. Doch nicht jeder Treuebruch führt zum Verlust des Mandats in das der Abgeordnete am Wahltag gewählt worden ist, es sei denn, er veruntreut es in besonders grober Art und Weise. Das Rechtsmittel gegen grobe Untreue im Amt ist die Wahlprüfung nach Art. 41 Abs. 1 Grundgesetz.

1. Der Fall Melis Sekmen (Grüne)

Die Politikerin, Melis Sekmen, MdB, ist am 26. September 2021 in Baden-Württemberg über die Landesliste der Grünen in Deutschen Bundestags gewählt worden. Ein eigenständiges Direktmandat, das ihr verbleibt, wenn sie auf ihren Listenplatz verzichtet, hat sie nicht. Das ZDF v. 2. Juli 2024 hat (unter: „zdf.de“) berichtet, die Abgeordnete habe die Grünen verlassen und sei aus Partei und Bundestagsfraktion ausgetreten.[1] Im Gegenzug sei sie vom CDU-Kreisverband Mannheim in die CDU aufgenommen worden und zur CDU/CSU-Fraktion des Bundestages übergewechselt. Dies trifft aber so gar nicht zu.

Wie die Tagesschau verkennt die herrschende Meinung, dass ein Gewählter nicht bestimmen kann, wer ihn gewählt hat, und deshalb das von den Wählern erhaltene Mandat überhaupt nicht wechseln kann. In § 46 Abs. 1 Ziff. 4 BWahlG heißt es ausdrücklich: „Ein Abgeordneter verliert seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag bei (…) Verzicht.“ Daraus folgt im Umkehrschluss: Wer nicht rechtswirksam auf das Mandat verzichtet hat, behält das Amt, in das er am Wahltag gewählt wurde, und zwar mit allen Rechten und Pflichten, insbesondere den Treuepflichten, die es mit sich bringt.

Weil Melis Sekmen weiterhin Mitglied des Deutschen Bundestages ist, kann sie nicht rechtswirksam auf das Mandat für die Grünen verzichtet haben. Der von den Wählern durch Abstimmung erteilte Auftrag, sie bei der parlamentarischen Willensbildung zu vertreten, steht nicht zur Disposition der Gewählten. Die Politikerin, Melis Sekmen, kann nicht frei bestimmen, für welche Landesliste sie gewählt worden ist. Sobald sie jedoch auf ihr Mandat in der nach § 46 Abs. 3 BWahlG vorgeschriebenen Form verzichtet, ist sie kein Mitglied des Bundestages mehr und kann folgerichtig auch kein Mitglied der CDU/CSU-Fraktion bleiben.

Es kommt also darauf an, ob Melis Sekmen nach § 47 Abs. 1 Ziff. 4 BWahlG ein Entlassungsschreiben der Bundestagspräsidentin erhalten hat oder nicht. Das hat sie nicht, sonst wäre sie ja kein grünes Mitglied des Bundestages, das ohne Zustimmung der Wähler in den Reihen der CDU-CSU ein „doppeltes Mandat“ ausüben darf, in das sie nicht gewählt wurde.

2. Der Fall Sahra Wagenknecht und weitere neun falsche BSW-Abgeordnete

Großes Aufsehen in Presse und Medien erregt seit Januar 2024 das „Bündnis-Sahra-Wagenknecht“ (BSW). Alle zehn Abgeordneten der erst am Anfang des Jahres neu gegründeten Partei haben an der Bundestagswahl v. 26. September 2021 auf den Landeslisten einer ganz anderen Partei teilgenommen, nämlich auf den Listen der „LINKEN“. Alle zehn haben selbst kein eigenständiges Direktmandat erlangt, auch Sahra Wagenknecht nicht. Über ein Erststimmen-Mandat, das von dem Verzicht auf das Zweitstimmen-Mandat unberührt bleiben würde, verfügen sie nicht. Alle zehn konnten außerdem nicht Abgeordnete im neuen Bündnis-Partei (BSW) werden, ohne zuvor, in der gesetzlich vorgeschriebenen Form, [2] d.h. notariell auf ihren Listenplatz für „DIE LINKEN“ zu verzichten und aus dem Bundestag auszuscheiden. [3] Man kann die Partei wechseln, nicht aber das Mandat. Einen Mandats- und Fraktionswechsel gibt es nicht. Wer sein Mandat an die Wähler zurückgibt, scheidet aus dem Bundestag aus. – So ist es aber nicht.

Durch einen rechtswirksamen Verzicht auf ihren Listenplatz bei den LINKEN hätten die 10 BSW-Dissidenten ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verloren. So steht es aus gutem Grunde im Gesetz! [4] Nun hat die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas, MdB, eingeräumt, dass die Wagenknecht-Dissidenten bisher nicht rechtswirksam auf ihr Mandat bei den LINKEN verzichtet hätten und deshalb auch nicht aus dem Bundestag ausgeschieden seien. [5] Der Verzicht auf das Mandat unterliegt einer strengen Formpflicht. Fehlt das unerlässliche Entlassungsschreiben, haben die 10 Dissidenten ihren Platz auf der Parteiliste der LINKEN (noch) nicht rechtswirksam verlassen und ihre Mitgliedschaft im Bundestag (noch) nicht verloren. Das schließt eine zweite Mitgliedschaft im Bundestag für das Bündnis-Sahra-Wagenknecht (BSW) natürlich aus. Ein Doppelmandat im Bundestag gibt es nicht. Und das verkannte die Präsidentin des Bundestages und hat die Wagenknecht-Dissidenten als parlamentarische Gruppe anerkannt.

Hätte das Bündnis am Wahltag des 26. Septembers 2021 schon auf den Stimmzetteln gestanden, wäre die winzig kleine Gruppe mit weit weniger als 5 Prozent aller 598 Mandate natürlich an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Denn die Wagenknecht-Partei ist noch kleiner als DIE LINKE, die ihrerseits mit 4,9 Prozent aller gültig abgegebenen Zweitstimmen – für die damals noch 39 Mitglieder ihrer Fraktion – selbst schon zu wenig Zweitstimmen erlangt hatte. DIE LINKE ist bekanntlich nur wegen der Verschonung durch die Grundmandats-Regel in das Parlament eingezogen, weil die Sperrklausel bei drei vorhandenen Direktmandaten keine Anwendung findet. Gilt hier nicht einmal mehr die Fünf-Prozent-Hürde? Für die 10 Wagenknecht-Disidenten offenbar nicht. – Was für eine hemmungslose Rechtsbeugung!

Den Ausschlag gibt allerdings, dass für die neue Wagenknecht-Partei bis auf den heutigen Tag niemals irgendjemand irgendeine Zweitstimme abgegeben hat. Das Bündnis hat nicht weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen erzielt, es hat überhaupt keine Stimmen erlangt. Denn die Wähler haben bei der Bundestagswahl v. 26. September 2021 ja gar nicht das Bündnis-Wagen-knecht, sondern eine ganz andere Partei, nämlich die Partei „DIE LINKE“ gewählt. Und aus diesen Wählern der LINKEN wurden im Januar 2024 – ungefragt! – BSW-Wähler gemacht. [6] Eine solche Vergewaltigung des Wählerwillens ist so verfassungswidrig, dass Rauch aufsteigt!

3. Der Fall Uwe Witt und weitere vier unechte „Parteilose“

Das gleiche Zerrbild eines Mandats liegt bei vier von fünf Abgeordneten vor, die ursprünglich auf einer der AfD-Landeslisten in den Bundestag eingezogen sind. Wenn sie auf ihren Listenplatz rechtswirksam verzichtet haben, für den sie am Wahltag angetreten sind, können sie nicht weiterhin Mitglieder des Bundestages bleiben. Sie sind aber nur deshalb Mitglieder des Bundestags geblieben, weil der Mandatsverzicht nicht rechtswirksam war.

Alle vier Volksvertreter haben für sich selbst kein eigenes Direktmandat erzielt. Sie sind also einzig und allein über die jeweiligen Landeslisten der AfD in den Bundestag gelangt. [7] Ein eigenes Direktmandat, das sie behalten, wenn sie auf ihren Listenplatz verzichten, ist nicht vorhanden. Uwe Witt (zu Unrecht „parteilos“) kam allein auf der Landesliste der AfD in Schleswig-Holstein in das Berliner Parlament und war nur bis zum 31.12.2021 Mitglied der AfD-Fraktion. Auch der Uwe Witt kann „den Kuchen nicht zugleich aufessen und behalten“. Matthias Helferich (auch er zu Unrecht „parteilos“) blieb ohne Direktmandat, hat seinen Sitz mit der Nr. 7 auf der AfD-Landesliste in NRW an die Wähler nicht rechtswirksam zurückgegeben und ist seit 2021 gleichzeitig fraktionsloser Abgeordneter. Wie soll das gehen?

Johannes Huber (ebenfalls zu Unrecht „parteiloser“), auch er ohne eigenes Direktmandat, ist allein über die bayerische Landesliste der AfD in den Bundestag eingezogen und aus der AfD-Fraktion am 31.12.2021 wieder ausgeschieden, was immer das bedeutet. Bleibt Joana Costar (gleichfalls zu Unrecht „parteilos“). Auch sie zog ohne eigenes Direktmandat in den Bundestag ein, obwohl auch sie 2.11.2022 auf ihren AfD-Listenplatz in Hessen offenbar (noch) nicht notariell und unwiderruflich verzichtet hat. Alle vier AfD-Dissidenten – wie später 10 Wagenknecht-Dissidenten erleiden deshalb keinen Mandatsverlust, weil sie auf ihr ursprüngliches Mandat (noch) gar nicht rechtswirksam verzichtet haben. Und weil sie ihre Sitze im Bundestag nicht rechtswirksam räumen, können vier Listen-Anwärter der AfD nicht nachrücken.

Es sitzen also nicht nur 10 ungesetzliche Wagenknecht-Dissidenten als unechte BSW-Mitglieder, sondern auch 4 ungesetzliche „Parteilose“, als fälschlich sogenannten Unabhängige“, im Bundestag. Wie alle Abgeordneten können sie keine Doppelmandate bekleiden. Ein Parteiwechsel mag möglich sein, ein Mandatswechsel ist es nicht. Das Mandat verbleibt bei derjenigen Partei, die vom Wahlvolk mit der Zweit- bzw. Parteienstimme ausgewählt worden ist.

4. Der Fall Robert Farle, der einzig echte „Parteilose“

Einzig Robert Farle (rechtmäßiger „Parteiloser“) erzielte im Wahlkreis 074/Mansfeld die meisten Erststimmen und ist einer von insgesamt 16 direkt gewählten Abgeordneten der AfD. Sein Stimmkreis liegt in Sachsen-Anhalt. Farle ist am 22.11.2022 aus der AfD-Fraktion „ausgeschieden“, was immer das heißt.[8] Weil er aber nicht nur mit der Zweitstimme über die AfD-Landesliste gewählt wurde, sondern zusätzlich auch in seinem Wahlkreis den Sieg bei den Erststimmen erlangt hat, würde auch ein rechtswirksamer Verzicht auf den Listenplatz bei der AfD in Sachsen-Anhalt, wenn er denn erfolgt ist, nicht zugleich auch zum Verzicht auf sein eigenes Direktmandat im Wahlkreis Nr. 074/Mansfeld führen.

Mit dem Wechsel in die echte Parteilosigkeit entstünde allerdings ein neues „Überhangmandat“. Es wird aber – unsinnig genug – auch in Sachsen-Anhalt unverändert durch 5 Ausgleichsmandate zu Gunsten unbekannter Dritter vierfach überkompensiert. Ist Robert Farle aus der AfD rechtswirksam ausgeschieden – und das ist eine Tatfrage – wird sein Platz auf der AfD-Landesliste in Sachsen-Anhalt natürlich frei. Es rückte bisher in der AfD aber kein Listen-Anwärter nach. Warum? Weil auch die AfD den Durchblick verloren hat und nicht umreißt, was ihr zusteht oder nicht zusteht?

Wer zweimal gewählt wurde, kann mit einer von beiden Stimmen im Bundestag verbleiben, wenn er auf die anderen verzichtet. Das geht. Wer dagegen vor einem Notar des betroffenen Bundeslandes – ohne zusätzliches Direktmandat – auf seinen Listenplatz unwiderruflich verzichtet hat, scheidet zu den Bedingungen von § 46 Abs. 1 Ziff. 4 wie Abs. 3, und § 47 Abs. 1 Ziff. 4 BWahlG aus dem Bundestag aus – das steht aus gutem Grunde so im Gesetz! Doch die herrschende Praxis setzt sich darüber hinweg und ist offensichtlich ungesetzlich! [9]

So oder so, Robert Farle (zu Recht parteilos) bleibt. Denn er wurde zweimal gewählt. Er kann auf den Listenplatz bei der AfD in Sachsen-Anhalt verzichten, ohne zugleich auch sein zusätzliches Direktmandat im Wahlkreis 074/Mansfeld zu verlieren. Es entsteht dann aber ein neuer Überhang, denn Farle hat ja keinen Listenplatz mehr. Das merkt aber niemand.

Eine Ehe bleibt gültig, solange sie nicht geschieden wurde. Ähnlich können Sahra Wagenknecht (BSW) und 9 weitere BSW-Dissidenten, vorher auch Uwe Witt, Matthias Helferich, Johannes Huber, Joana Costar, (alle vier zu Unrecht parteilos), die LINKEN und die AfD nicht verlassen, für die sie am Wahltag angetreten sind, solange sie nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form auf ihre Mandate verzichten. Und das schließt ein Doppelmandat aus.

Kap. II

Im Bundestag gibt es zwölf „verwaiste“ Direktmandate

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ [10] Wähler und Gewählte sind Menschen. Also sind auch Wähler und Gewählte vor dem Gesetz gleich. Es gibt 598 Abgeordnete (Soll-Zahl). Es wird aber nur über 299 von ihnen wird in 299 Wahlkreisen einzeln abgestimmt. Dieser Missstand verletzt den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz in Art. 3 GG, vor allem aber den Grundsatz der gleichen Wahl in Art. 38 GG.

Inzwischen sind 12 direkt gewählte Abgeordnete aus dem Bundestag wieder ausgeschieden: Stand 11.4.2024. An ihre Stelle sind jedoch 10 nicht direkt gewählte Anwärter aus verschiedenen Landeslisten der Parteien nachgerückt, [11] über die aber nicht einzeln, sondern pauschal abgestimmt wurde. Die beiden Wahlkreise, Nr. 299/Passau bzw. 242/Erlangen, bleiben sogar unbesetzt. Die Ungleichheit der Wahl nimmt also nicht ab, sondern weiter zu. Die Soll-Zahl der in § 1 Abs. 2 BWahlG gesetzlich angeordneten 299 Direktmandate sank auf 287 herab.  Aus den 299 Wahlkreisen bleiben 12 „contra legem“ ohne Direktmandat. Stattdessen nahm die Zahl der Listenplätze um 10 Sitze zu. Im Ergebnis werden dabei Zweitstimmen zu Erststimmen gemacht, ein fataler Denk-, Rechen- und Rechtsfehler: Denn die Wähler haben ja keinen Anspruch auf 12 vakante Wahlkreise, sondern auf einen aus 299 direkt auszuwählenden Volksvertretern. So das Gesetz. [12] Doch niemand kümmert das.

Bei vier der 12 ausgeschiedenen Abgeordneten verringert sich bei ihren Landesparteien außerdem auch noch der Abstand zwischen Direktmandaten und Listenplätzen, weshalb der sog. „Überhang“ sinkt. Der sog. „Ausgleich“ der Wahl wird aber nicht in gleichem Umfang zurückgeführt, und es entstehen noch mehr „überhanglose“ Ausgleichsmandate, die in dreifacher Überzahl ohnehin schon zu beklagen sind. Alles grober Unfug? – Was sonst.

1. Der Fall Stefan Müller (CSU)

Stefan Müller (CSU) hat sein Direktmandat im Wahlkreis Nr. 242/Erlangen zum 31. Mai 2024 an die Wähler in Erlangen zurückgeben, um den Vorsitz im Genossenschaftsverband Bayern (GVB) zu übernehmen. Weil es um ein sog. „Überhangmandat“ geht, droht den Wählern aus Erlangen das gleiche Schicksal, das sie in Passau schon zwei Monate zuvor ereilt hat. Auch die Wähler aus Erlangen wunden ihrer Erststimmen beraubt, die ihnen nach § 1, Abs. 2; § 4; und § 5, Satz 2 BWahlG „de lege lata,“, also nach geltendem Recht, zustehen.

Ob sich auch die Erlanger ihr gutes Recht aus der Hand winden lassen, einen Mitbürger aus ihrem Heimat-Wahlkreis Nr. 242/Erlangen mit der Erststimme in den 20. Deutschen Bundestag zu wählen bzw. nach zu wählen, oder ob sie sich mit einer Wahlprüfung nach Art. 41 GG gegen diese gesetzgeberische Willkür zur Wehr setzen, bleibt offen. Für Passau wie für Erlangen gilt: Was mit der Erststimme zu entscheiden ist, kann grundsätzlich nicht mit der Zweitstimme entschieden und schon gar nicht annulliert werden. Denn das verletzt das Gebot der Gleichbehandlung und verletzt das Verbot der Willkür, das in Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz verbürgt wird.

2. Der Fall Andreas Scheuer (CSU)

Am 1. April machte die Nachricht die Runde, Andreas Scheuer (CSU) habe genau an diesem Tag sein „Überhangmandat“ im Deutschen Bundestag an die Wähler in Passau „vor die Füße geworfen“. Er war bei der Bundestagswahl v. 26. September 2021 im Wahlkreis Nr. 229/Passau mit 30,7 % der Erststimmen verlustreich, aber ordnungsgemäß in den 20. Bundestag wiedergewählt worden, für den umstrittenen Politiker kein „rosiges“ Wahlergebnis. Gleichzeitig wurde den verdutzten Bürger aus Passau die Erststimme aus der Hand geschlagen. Denn ihr Wahlkreis soll bis zum Ende der Legislaturperiode unbesetzt bleiben. [13] Das stünde so im Gesetz.[14]

Überall auf der Welt wird jedoch ein leerstehender Wahlkreis durch Nachwahl neu besetzt, in Passau nicht. Wieso? Wäre die Abgeordnete der Grünen, Jamila Anna Schäfer, aus ihrem Wahlkreis Nr. 219/München-Süd aus dem Bundestag ausgeschieden, wäre wenigstens ein Anwärter von der bayerischen Landesliste der Grünen nachgerückt. Totaler Leerstand jedoch in Passau? Nur zu Lasten der CSU? Nicht aber in München-Süd, wo die Grünen – ohne jede Nachwahl – einen Nachrücker aus der bayerischen Landesliste stellen dürfen, der überhaupt nicht für den Wahlkreis München-Süd aufgestellt wurde, und dort auch nicht gewählt wurde. – Wieso denn das? Alle Wähler sind gleich, nur in Passau nicht? Durch welchen „Koalitionspoker“ ist dieser Unfug in das BWahlG hineingepresst worden?

3. Der Fall Wolfgang Schäuble (CDU)

Wolfgang Schäuble (CDU) ist am 26.12.2023 verstorben. In das sog. „Überhangmandat“ von Schäuble ist Stefan Kaufmann von der Landesliste der CDU in Baden-Württemberg nachgerückt. Das war schon deshalb ungesetzlich, weil sog. „Überhänge“ nicht mehr nachbesetzt werden. [15] Die Listennachfolge war also zu unterlassen, unterblieb aber nicht. Wie auch immer bliebe – auch im Fall einer ungesetzlichen Listennachfolge – das Direktmandat im Wahlkreis Nr. 284/Offenburg so oder so vakant. [16] Denn die Zahl der vorgegebenen 299 Direktmandate sinkt um einen Sitz ab. Die Offenburger haben aber keinen Rechtsanspruch auf einen unbesetzten Wahlkreis. Die Offenburger haben Anspruch auf einen von den Offenburgern direkt gewählten Volksvertreter, der aus Offenburg stammt. – Punkt!

Ein Irrtum kommt selten allein. Beim Wahlgang v. 26. September 2021 in Baden-Württemberg sind bei der CDU 12 sog. „Überhänge“ entstanden. Diese wurden durch 13 sog. „Ausgleichsmandate“ zu Gun-sten anderer Parteien überkompensiert. Wieso 13 Ausgleichsmandate? Kann denn der Ausgleich größer sein als der Überhang? Offensichtlich hat sich der damalige Wahlleiter, Georg Thiel, verrechnet. Auch dieser Rechenfehler wurde weder gerügt noch berichtigt.

In Baden-Württemberg bleibt also der verwaiste Wahlkreis Schäubles „wüst und leer“. Hier müsste die amtierende Wahlleiterin, Ruth Brand, einschreiten, tut es aber nicht. Sie muss das Wahlergebnis in Baden-Württemberg nachzählen und wenigstens den überhöhten Ausgleich zeitnah herabsetzen lassen, damit sich nach dem Ausscheiden von Schäuble „Überhang“ und Ausgleich in Baden-Württemberg die Waage halten. Selbst das geschieht nicht. Und wenn im BWahlG etwas anderes steht, um so schlimmer für den Gesetzgeber und sein völlig missratenes Gesetz.

4. Der Fall Heiko Maas (SPD)

Der Fall Schäuble ist kein Einzelfall. Heiko Maas (SPD) hat den Bundestag schon am 31.12. 2022 verlassen. Er ist im Wahlkreis Nr. 297 (Saarlouis) ordnungsgemäß direkt gewählt worden. In das sog. „Überhangmandat“ von Heiko Maas rückte – gesetzwidrig auch hier! – Emily Vronz von der Landesliste der Saarländer SPD nach, obwohl „Überhänge“ nicht mehr nachbesetzt werden, weil die Listennachfolge in sog. „Überhänge“ untersagt ist. [17] Das kümmerte aber niemand: In Offenburg nicht, und in Saar-louis zweimal nicht.

Das angeblich „verbotene“ Direktmandat (von Heiko Maas) wurde mit einem Listenplatz (von Emily Vronz) vertauscht. Der Wahlkreis Nr. 297 von Heiko Maas bleibt also leer. Im 20. Deutschen Bundestag fehlt deshalb auch ein direkt gewählter Saarländer. Die Gesamtzahl der 4 gesetzlich vorgeschriebenen Direktmandate sank auch an der Saar um ein Mandat ab. Das einzige „Ausgleichsmandat“ besteht unbe-rührt fort, obwohl der einzige Überhang weggefallen ist.

Bei der Besetzung des Bundestages stehen dem kleinen Land 7 Plätze zu (Landessitz-Kontingent). Tatsächlich sitzen aber 9 Saarländer im Bundestag. Denn auch im Saarland wurde, nach den Ermittlungen von Wahlleiter Thiel ein angeblich „verbotenes“ Direktmandat aufgespürt und zum Wahlergebnis hinzugezählt. Der vermeintliche „Überhang“ wurde auf das ausgezählte Wahlergebnis „draufgesattelt“, und danach durch ein zusätzliches „Ausgleichsmandat“ verdoppelt. Zwei nachgeschobene „Zusatzsitze“ [18] also, für die es keine Stimmzettel gibt, weil niemand über sie abgestimmt hat? – Irgendwie schräg und verrückt das Ganze.

Welche Partei vom Ausgleich – rechtsfehlerhaft – begünstig wird, verschwieg der damalige Wahlleiter. Im Saarland wird zugunsten einer anderen Partei etwas kompensiert, was es dort nach dem Ausscheiden von Heiko Maas, also seit dem 31.12.2022, gar nicht mehr gibt. Denn ohne Überhang kein Ausgleich. Das Wahlergebnis muss daher überprüft, das überzählige „Ausgleichsmandat“ ermittelt und gestrichen werden. Dies geschieht aber nicht. Die oberste Wahlhüterin, Ruth Brand, ist uneinsichtig und hoffnungslos im Verzug, tritt aber nicht zurück.

5. Der Fall Yasmin Fahimi (SPD)

Yasmin Fahimi (SPD) hat bereits am 3.1.2022 den Bundestag verlassen. Sie war im Wahlkreis Nr. 042 (Hannover Stadt) ebenfalls direkt gewählt worden. In das sog. „Überhangmandat“ von Fahimi rückte Daniela De Ridder von der Landesliste der SPD nach, die nicht aus Hannover, sondern von irgendwoher aus Niedersachsen kommt.[19] Die untersagte Listennachfolge in „Überhänge“ wurde vom damals amtierenden Bundeswahlleiter auch im Fall Fahimi ignoriert. Er kann aber nicht zurücktreten, denn er ist nicht mehr im Amt.

Auch in Niedersachsen ist ein Direktmandat mit einem Listenplatz vertauscht worden. Aus Zweitstimmen wurden auch hier Erststimmen gemacht – ein grober Zählfehler. Damit nicht genug, gab es auch in Niedersachsen ein einziges sog. „Überhangmandat“, dafür von Anfang an aber 13 Ausgleichsmandate – in Worten: „dreizehn“! Der Ausgleich überstieg den Überhang in Niedersachsen also um das 13-Fache, ohne dass der damals amtierende Wahlleiter, Georg Thiel, diesen bizarren Zählfehler bei der Zuteilung der sog. „Ausgleichsmandate“ berichtigt hätte. Ein derart abenteuerlicher Gesetzgebungspfusch muss dem Wahlgesetzgeber erst mal einfallen, bevor ihn der Wahlleiter blindlings zur Anwendung bringen kann.

Im Bundestag fehlen 12 von insgesamt 299 Direktmandaten: Stand 15.4.2024. Statt der vorgeschriebenen 299 gibt es nur mehr 287 direkt gewählt Abgeordnete. In einigen Fällen sinkt der „Überhang“, der Ausgleich besteht aber unverändert fort. Doch leerstehende Wahlkreise und überzählige Ausgleichsmandate sind ungesetzlich und verfassungswidrig.

Kap. III.

Das Berliner Tohuwabohu sucht seines Gleichen und findet es auch

Das Tohuwabohu bei der Nachwahl am Faschingssonntag, den 11. Februar 2024, lässt sich kaum noch toppen. Für das Bundesland Berlin sind drei Abgeordnete zum Zuge gekommen, die gar nicht in Berlin, sondern in Niedersachsen, in NRW und in Hessen zur Wahl standen, bei der Bundestagswahl vom 26. September 2021 dort aber nicht zum Zuge gekommen sind. – Wie kommt jemand aus Hessen, Niedersachsen oder NRW in die Abordnung der Volksvertreter aus Berlin? Da greift man sich besser nicht an den Kopf, weil der dafür zu schade ist.

1. Der Fall Anna-Maria Trasnea (SPD) und andere (Grüne und Linke)

In Berlin verlor Anna-Maria Trasnea (SPD) den Sitz auf der Berliner Landesliste ihrer Partei. Für sie rückte Angela Hohmann (SPD) aus der Landesliste für Niedersachsen nach. – Wieso Niedersachsen, wo am 11.2.2024 überhaupt nicht gewählt wurde? Auch der Listenplatz der Berlinerin, Nina Stahr (Grüne), ging an Franziska Krumwieder-Steiner aus NRW. – Wieso NRW, wo ebenfalls keine Wahl stattgefunden hat? Der Listenplatz von Pascal Meiser wäre eigentlich an Christine Buchholz (DIE LINKE) aus Hessen gegangen, die aber dort nicht mehr auf der Warteliste stand. Für Meisner ist für Berlin aus dem weit entfernten Hessen Jörg Cezanne nachgerückt.  [20] Wieso Hessen, wo auch niemand zur Wahl gegangen ist?

2. Der Fall Lars Lindemann (FDP)

Ein viertes Mandat ist spurlos verschwunden. [21] Man glaubt es nicht. Aber bei der FDP ist der Listenplatz von Lars Lindemann ersatzlos gestrichen worden. Die Gesamtzahl der Mitglieder des Bundestags sank deshalb von 736 auf 735 Köpfe ab. Kann der zuständige Wahlleiter, Prof. Stephan Bröchler, einen Sitz aus der Abordnung der Mandatsträger von Berlin, so einfach in die Spree werfen, ohne dass der Föderalismus absäuft? [22] Doch, das kann er! Und das tut er sogar!

Drei Verschiebungen und eine Streichung bei den Listenplätzen, die der Landeswahlleiter, Prof. Bröchler, in seiner Eigenschaft als Wahlorgan bei der Teilwiederholung der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag, am 11. Februar 2024, zum Nachteil der Abordnung aus Berlin verfügt hat, verletzen den Länderproporz der föderativen Staatsordnung. Das war zu unterlassen und ist wieder rückgängig zu machen. In Berlin gibt es außerdem vier „Ausgleichsmandate“, aber keinen einzigen „Überhang“. Wozu der Ausgleich? Werden hier die Wähler vom Landeswahlleiter, Professor Bröchler, schon wieder auf den Arm genommen?

Die Berliner Landsmannschaft im Deutschen Bundestag erinnert an das italienische „Porcellum“, an jene „Sauerei“, wie sie in Italien unter Silvio Berlusconi gang und gäbe war, später aber mit dem sog. „Rosatellum“ beendet wurde. Wie auch immer, das Tohuwabohu, das sich im Berliner Karneval ereignet hat, sucht seines Gleichen, findet es aber nicht.

Kap. IV.  

Wie in Berlin bleibt der Länderproporz überall auf der Strecke, außer in Bremen

Deutschland „ist ein Bundesstaat“. So will es Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz. Wie in den USA werden die Abgeordneten auch in Deutschland getrennt nach Ländern gewählt. Ein „popular vote“ für alle 50 nordamerikanischen Bundestaaten gibt es nicht. Auch in Deutschland sind die Zweitstimmen keine Bundesstimmen, sondern Landesstimmen. Bundesstimmen gibt es auch in Deutschland nicht. Die Volksvertreter werden länderweise gewählt. So wird über die Abordnung aus Berlin einzig und allein von Wahlberechtigten aus Berlin, über die bayerische nur im Freistaat Bayern abgestimmt, usw. Nicht nur die Abordnung der CSU, auch die der bayerische SPD, wie die der bayerische FDP usw., kann nicht außerhalb der jeweiligen Landesgrenzen gewählt werden (föderatives Wahlrecht). Nicht nur die CSU, alle Parteien treten in allen Ländern mit separaten Landeslisten an. Die Bemessungsgrundlage für die Sperrklausel ist folgerichtig die Summe aller Zweitstimmen, aber nicht im Bund, sondern im jeweiligen Land. Das aber nur nebenbei.

Die 16 verschiedenen Landes-Sitzkontingente werden vom Bundeswahlausschuss an Hand der unterschiedlich großen Bevölkerungsanteile in der vergangenen Legislaturperiode festgestellt und für die nachfolgende Legislaturperiode im Bundestag beschlossen. Die Landessitz-Kontingente können in keinem der 16 Länder ignoriert und übertreten werden. Die herrschende Praxis ist jedoch eine andere. In keinem der 16 Bundesländer stimmen die einzuhaltenden Sitzkontingente mit der tatsächlichen Zahl der Abgeordneten überein, Bremen ausgenommen.

So stehen dem Saarland 7 Abgeordnete zu. Im Bundestag gibt es aber 9 Saarländer. Bayern darf 93 Abgeordnete wählen, im Plenum des Berliner Parlaments sitzen jedoch 114 Bayern. Gemessen an seinem Bevölkerungsanteil stehen dem Bundesland NRW 127 Volksvertreter zu. Tatsächlich kommen 156 Mitglieder des Bundestages aus NRW. Dort sind 28 Ausgleichsmandate entstanden; es gab in NRW aber kein einziges Überhangmandat. Der Länderproporz bleibt überall auf der Strecke: mal mehr mal weniger, und in NRW am meisten, nur in Bremen nicht!

In allen 16 Bundesländern, außer Bremen, stimmen die grundrechtlich vorgegebenen Landes-SitzKontingente nicht mit der Zahl der Mandate überein, die den Bundesländern tatsächlich zugeteilt wurden. „Verhältnisausgleich“ und Föderalismus sind miteinander unvereinbar. Jede nachträgliche Zuweisung von Überhang- und Ausgleichsmandaten verletzt das Verfassungsprinzip der föderativen Eigenständigkeit.

Kap. V

Bei 70 Ausgleichsmandate fehlt sogar der Überhang

Sichtbar ist immer nur die Spitze des Eisbergs. Das große Desaster entstand schon am 15. Oktober 2021. Bundeswahlleiter war damals Georg Thiel. Er habe nach der Wahl vom 26. September 2021 in Deutsch-land insgesamt 34 angeblich „verbotene“ Direktmandate, sog. „Überhänge“, aufgedeckt, so verkündete der „Wahlhüter“ sinngemäß. Diese könne er aber nicht eliminieren, weil alle 299 Mandatsträger in ihren Wahlkreisen, mit den meisten Erststimmen direkt gewählt worden seien. Dessen ungeachtet hat Wahlleiter Thiel die 34 angeblich „verbotenen“ Mandate – die den gewählten Wahlkreis-Siegern angeblich nicht zustünden – vom Wahlergebnis nicht etwa abgezogen, sondern sogar hingezählt und danach durch 104 zusätzliche Ausgleichsmandate um mehr als das Dreifache turmhoch überkompensiert. Nachvollziehen kann diese „Milchmädchen-Rechnung“ niemand. [23] Denn wer in seinem Wahlkreis gesiegt hat, dem steht sein Direktmandat ohne Wenn und Aber zu.

Wenn das Wahlergebnis aus 299 Wahlkreisen ausgezählt wird, können daraus nicht mehr als 299 Direktmandate entstehen. Bei 299 Direktmandaten verbleiben 299 verteilungsfähige Listenplätze, um die Soll-Zahl der 598 Plätze im Bundestag mit 598 gewählten Abgeordneten zu besetzen. Für irgendwelche „Überhänge“ gibt es jenseits der 299 Wahlkreise keinen Raum. Ohne Stimmkreis keine Abstimmung, und ohne Abstimmung kein Mandat, also auch kein sog. „Überhangmandat“, und vor allem auch kein „Ausgleichsmandat“. Fehlt der Überhang, fehlt der Rechtsgrund für den Ausgleich. Die Nachfolgerin von Georg Thiel, die amtierende Wahlleiterin Ruth Brand, weigert sich hartnäckig, diese bizarren Irrtümer so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Es sei alles doch in bester Ordnung, behauptet sie sogar. [24] So ist es aber nicht!

Der „Deutsche Michl“ kratzt sich schon deshalb hinter dem Ohr, weil der horrende Ausgleich von 104 nachgeschobenen Zusatzsitzen den vermeintlichen „Überhang“ von nur 34 angeblich „verbotenen“ Direktmandaten um mehr als das Dreifache übersteigt. Zieht man Ausgleich und Überhang von einander ab, bleiben 70 Ausgleichsmandate übrig, bei denen sogar der Überhang fehlt. Weil es für den Ausgleich von vorneherein kein Rechtsgrund gibt, sind diese 70 „überhanglosen“ Ausgleichsmandate unheilbar null und nichtig. Insgesamt 70 Pseudo-Abgeordnete müssen den Bundestag sofort verlassen – tun es aber nicht!

Kap. VI

Und über 138 Zusatzsitze hat überhaupt niemand abgestimmt

Bei 70 Ausgleichsmandaten fehlt der Überhang. Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Abgeordnete werden gewählt, niemals aber nachträglich oktroyiert. Für 138 Mitglieder des Bundestages mit sog. „Überhang-“ bzw. „Ausgleichsmandat“ fehlte die basisdemokratische und außerparlamentarische Urwahl durch das Wahlvolk. Niemand hat über den Überhang und niemand über den Ausgleich abgestimmt. Alle 138 Pseudo-Mandatsträger hatten im 20. Deutschen Bundestag von Anfang an nichts verloren und müssen das Hohe Haus ohne jeden Aufschub verlassen, denken aber nicht daran.

Die Präsidentin des Bundestages, Bärbel Bas, darf sich nicht darüber wundern, wenn die Bürger, wie einst Honré Daumier, das Parlament als “gesetzgebenden Bauch“ beschimpfen, der nur an den Diäten interessiert sei. Allein der geballte Volkszorn kann noch verhindern, dass im Bundestag 138 Pseudo-Abgeordnete „Staatsknete abkassieren“, die gar kein Mandat haben, weil sie überhaupt nicht gewählt worden sind. Gegen diese Plünderung der Staatskasse muss der Rechnungshof einschreiten. Das tut er aber nicht.

Alle 70 „überhanglosen“ Ausgleichsmandate sind unheilbar null und nichtig. Die betroffenen Mandatsträger müssen ausfindig gemacht werden und den Bundestag sofort verlassen, tun es aber nicht!

Weil weder über die 34 „Überhang“ noch über die 104 Ausgleichsmandate unmittelbar, frei und gleich abgestimmt wurde, trifft es nicht nur 70, sondern 138 Mandatsträger, die allesamt nicht gewählt worden sind. Sie müssen den Bundestag verlassen, tun es aber nicht. Und das ruft den Rechnungshof auf den Plan. Der kommt aber nicht

Kap. VII

Das ist eine akute Staatskrise!

Das BWahlG v. 14.2.2020 (BGBl I, 2395) ist ein in übernächtigten Koalitionsverhandlungen hastig zusammengeschustertes Normengestrüpp. [25] Das Volk tut seien Willen in regelmäßig wiederkehrenden Wahlen kund. „Mehrheit entscheidet.“ [26] … in Passau jedenfalls nicht! … in Erlangen auch nicht! Nicht nur dort, in allen 12 unbesetzten Wahlkreisen werden die Wähler der Erststimmen beraubt, die ihnen zustehen. Etc. etc.

Im Deutschen Bundestag sitzen 138 „blinde Passagiere“, für die man in den Wahlurnen keine Stimmzettel antreffen kann, weil weder über die 34 sog. „Überhänge“ noch über die 104 sog. „Ausgleichsmandate“ abgestimmt worden ist. Jeder siebte Abgeordnete ist gar nicht gewählt worden. Was für ein atemberaubender Irrsinn! [27] Was für ein unfassbarer Supergau!

Das ist kein „Blechschaden“, auch kein „Totalschaden“ der Demokratie. Nein, das ist eine akute Staatskrise, die auch das Staatsoberhaupt nicht dulden kann! Der Wahlgesetzgeber war von Anfang an auf dem „Holzweg“: Warum zweimal abstimmen, um ein Mandat zu vergeben? [28] – Das macht keinen Sinn!

Das Volk tut seinen Willen in unmittelbaren, freien und gleichen Wahlen kund. Mehrheit entscheidet. Darauf fußt die Demokratie. Niemand kann physisch zweimal im Bundestag sitzen. Einmal abstimmen ist genug. Pro Kopf eine Stimme, pro Wahlkreis ein Mandat. Und der ganze Albtraum wäre auf einen Schlag aus und vorbei!

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*) Der verantwortliche Beteiligte zu 1.) im Autorenkollektiv der Streitschrift lebt in München und hat in namhaften Fachzeitschriften zahlreiche Print- und Online-Beiträge verfasst und mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht. Zu den Fundstellen vgl.: https://www.manfredhettlage.de/kleine-beitraege-zum-wahlrecht-seit-11-2017/. Zur Vita des Beteiligten zu 1.) vgl. https://www.manfredhettlage.de/about/.

**) Bildnachweis:

https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Honore-Daumier/Le-ventre-legislatif/E7E7B70E44729C2C8907D39343A65984/

[1] Vgl. zdf.de, v. 2.7.2024: „Union freut sich auf Sekmen – Grüne wütend“.

[2]  Der Mandatsverzicht ist formpflichtig. Näheres dazu in § 46 Abs. 3 BWahlG.

[3]  Mehr auch dazu in: Tichys Einblick, v. 22.1.2024: https://www.tichyseinblick.de/meinungen/wer-fuerchtet-sich-vor-sahra-wagenknecht/ .

[4]  Vgl. BT-DruckS 20/11300, Anlage, 2. S.9: „Keine der zehn Abgeordneten, die der Gruppe BSW angehören, (…) den Mandatsverzicht erklärt.“ Vgl. dazu auch § 46, Abs. 1, Ziff. 4; und § 47 Abs. 1 Ziff. 4 BWahlG. Gegen den Wortlaut der Vorschrift anderer Ansicht ist dagegen die herrschende Meinung. Statt aller Schreiber/Hahlen, BWahlG 2017, § 46, Rdnr. 17.

[5] Vgl. § 47 Abs. 1 Ziff. 4 BWahlG.

[6]  Die „DIE LINKE“ hat bisher darauf verzichtet, sich dagegen auf dem Rechtsweg zur Wehr zu setzen und hat damit ihre Anerkennung als Fraktion verloren, mit schwerwiegenden, auch finanziellen Folgen. Anders dagegen das Wahlprüfungsverfahren (WP 2157/21), das beim Deutschen Bundestag schon seit dem 1.2.2024 anhängig ist. Vgl. aber https://www.manfredhettlage.de/wahlpruefung-durch-den-bundestag/#more-12958gl.

[7]  Nach der amtlichen Sitzverteilung des Deutschen Bundestages gibt es z.Z. fünf fraktionslose Abgeordnete: https://www.bundestag.de/abgeordnete (jeweils mit Link zu den Angaben über die Person der Mandatsträger).

[8]  Vgl. https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/F/farle_robert-863326 .

[9]  Abwegig Schreiber/Hahlen BWahlG wie 2017 auch 2021, § 46, Rdnr. 17 u. Rdnr. 21 ff: Trotz Verzicht „geht das Mandat nicht verloren“.

[10]  Vgl Art. § Abs. 1 Satz 1 GG.

[11]  Vgl. Mitteilung des Bundestags: https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/ausgeschiedene .

[12]  Vgl. § 1 Abs. 2, § 4 und vor allem § 5 Abs. 1Satz 1 BWahlG.

[13]   Vgl. dazu den Wahleinspruch WP 2/24 zugänglich unter  https://www.manfredhettlage.de/der-leerstand-im-wahlkreis-nr-229-passau/#more-13143.

[14] Vgl § 48 Abs. 1, Satz 3 BWahlG mit Hinw. auf § 6 Abs. 6, Satz 4 BWahlG.

[15]  Vgl. dazu FN 4.

[16]  Vgl. https://www.bundestag.de/webarchiv/abgeordnete/biografien19/S/schaeuble_wolfgang-523184; und: https://www.bundestag.de/abgeordnete/ausgeschiedene-abgeordnete-inhalt-874188 .

[17]  Vgl. https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/M/maas_heiko-857754; und: https://www.bundestag.de/abgeordnete/ausgeschiedene-abgeordnete-inhalt-874188.

[18] . Vgl. Schreiber/Strelen. BWahlG 2017, § 6, Rdnr. 29: „Ausgleichssitze sind Zusatzsitze.“

[19]  Vgl. https://www.bundestag.de/webarchiv/abgeordnete/biografien19/F/519354-519354; und: https://www.bundestag.de/abgeordnete/ausgeschiedene-abgeordnete-inhalt-874188 .

[20]  Vgl. Hessenschau v. 12.2.2024: https://www.hessenschau.de/politik/nach-wahl-in-berlin-linken-politikerin-buchholz-lehnt-bundestagsmandat-ab-v2,kurz-buchholz-mandat-100.html .

[21]  Vgl. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw06-wiederholungswahl-berlin-989202 . Ferner Tichys Einblick v. 2.3.2024, „Chaos-Wahl in Berlin?“ v: https://www.tichyseinblick.de/gastbeitrag/wahl-wiederholung-berlin-listenplaetze/ .

[22]  Vgl das Wahlprüfungsverfahren (WP 2/24) v. 26.2.2024  https://www.manfredhettlage.de/wahlpruefung-schriftsatz-ergaenzung/ .

[23]  Zur grundsätzlichen Kritik am dualen Wahlsystem mit zwei Stimmen vgl. Tichys Einblick v. 26.2.2024 „Nicht zweimal in derselben Sache – Einspruch gegen die typisch deutsche Zwei-Stimmen-Wahl.“  https://www.tichyseinblick.de/meinungen/zwei-stimmen-wahlsystem/ .

[24]  Im persönlichen Schriftwechsel mit dem Verantwortlichen unter den Autoren.

[25]  Das BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 212, 266 (Entscheidung zum „negativen“ Stimmengewicht), redet vom “kaum noch nachvollziehbaren Regelungsgeflecht“. Ganz anders dagegen das BVerfG v. 29.11.2023 (Az. 2 BvF 1/21).

[26] Vgl Art. 2, Abs. 2, Satz 2 BayLV.

[27]  So anfangsweise auch H. Meyer in: DÖV 8/2015, S. 700 (703): „Das Leiden am Bundeswahlgesetz“.

[28]  Mehr dazu in NJOZ 2020, 1249: „Für ein Mandat zweimal zur Wahlurne gehen?“

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