Bundestagswahl 2017

Mehr als 15 Überhänge sind unzulässig …

(Erschienen bei „Publicus“, der Online-Spiegel des öffentlichen Rechts, Ausgabe: 2017-10 v. 9. Oktober 2017)

… es sind aber 46 entstanden. Die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag war ein Paukenschlag. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern auch für das Recht. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte am 25.07.2012 (BVerfGE 131, 316) geurteilt: Mehr als 15 Überhangmandate sind unzulässig. Bei der Wahl vom 24.09.2017 sind aber 46 Über­hänge entstanden, ein nie dagewesener Rekord. Schlimmer noch: ein Verfassungsbruch. Ist die Bundes­tagswahl also null und nichtig? Die Antwort lautet: Ja, das trifft zu. Das Nähere steht in Artikel 41 Grundgesetz.

Die Wahlprüfung ist ein Grundrecht. Sie ist Sache des Bundestages. So will es die Verfassung. Die Einzelheiten regelt das Wahlprüfungsgesetz (WahlPrüfG). Danach kann die Wahl von jedem Wahlberechtigten einzeln oder zusammen mit anderen, innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab dem Wahltag, beim Deutschen Bundestag in Schriftform angefochten und zu Fall gebracht werden. Die Anfechtung muss eine Begründung enthalten. Weil die Wahlprüfung im Grundgesetz verbürgt wird, hat der Wahlleiter eine konkrete Anleitung in das Netz gestellt, wie man das zu machen hat. Es gilt also das Prinzip: »Wo kein Kläger, da kein Richter.«

Die Gründe liegen auf der Hand

Die Gründe für eine Wahlanfechtung liegen auf der Hand: Der neu gewählte Bundestag leidet an Adipositas, d.h. Fettleibigkeit. 709 Abgeordnete sind in die Volksvertretung eingezogen. Es gibt dort regulär aber nur 598 Sitze. Das sind 111 Volksvertreter mehr als das Hohe Haus bei normaler Besetzung Plätze zu bieten hat. Das ist aber nicht der springende Punkt. Mehr als 15 Überhänge sind unzulässig und verfassungswidrig. So hat das Bundes­ver­fassungsgericht in Karlsruhe mit seiner Grundsatzentscheidung v. 25.07.2012 (BVerfGE 131, 316) geurteilt. Die sog. »Überhangmandate« sind zulässig, aber gedeckelt. Es dürfen also nicht zu viele werden. Gibt es mehr als 15 Überhänge, so ist die Wahl nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ungültig. Es sind aber 46 – verfassungswidrige – Überhänge entstanden. Und damit ist es höchstrichterlich entschieden: Die Wahl vom 24.09.2017 war ungültig.

Um das ganze Elend des dualen Wahlsystems mit Erst- und Zweitstimme perfekt zu machen, wurden die – immer noch verfassungswidrigen – 46 Überhänge auch noch durch 65 nachgeschobene Ausgleichsmandate »egali­­siert« (siehe auch vorläufiges amtliches Endergebnis der Bundestagswahl). Wie schon 2013 gab es auch 2017 erneut überhanglose Ausgleichsmandate: Der Ausgleich überragte 2017 den Überhang um 19 Plätze. Es gab also 19 Ausgleichsmandate, denen gar kein Überhang gegenüberstand. Wie bekannt sind 2013 in vier Bun­des­ländern 4 Überhänge entstanden. Sie wurden ausgeglichen, aber nicht durch 4, sondern durch 29 nachge­schobene Ausgleichsmandate (vgl.  PUBLICUS 2013.9 und PUBLICUS 2013.10). Der Ausgleich über­stieg also schon 2013 den Überhang, und zwar um mehr als das Siebenfache. In sechs von sieben Fällen stand schon 2013 dem Ausgleich überhaupt kein Überhang gegenüber. Man muss also die Grundsatzfrage nach dem Sinn und Zweck der Ausgleichsmandate stellen.

»Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode!«

An der Wahl des Bundestagspräsidenten und an der Kanzlerwahl werden also 111 Volksvertreter teilnehmen, von denen 46 ein Direktmandat (ohne Listenplatz) errungen haben, was vom Gesetzgeber gar nicht beanstandet wird (vgl. § 6 Abs. 4 Satz 2 BWahlG.) Es gibt nämlich 299 Wahlkreise. Keinen weniger und keinen mehr. Darin wurden auch 2017 genau 299 Volksvertreter mit der Erststimme direkt gewählt, keiner weniger und vor allem keiner mehr. Und gewählt ist gewählt. Deshalb gibt es keinen direkt gewählten Volksvertreter, dem sein Direktmandat in Wahrheit gar nicht zusteht. Der Wahlleiter hat sogar alle 299 Abgeordneten ohne Ausnahme aufgefordert, an der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dort zunächst den Parlamentspräsidenten und etwas später auch den Kanzler oder die Kanzlerin zu wählen.

Es gibt also gar keinen Volksvertreter, dem sein mit der Erststimme errungenes Direktmandat in Wahrheit gar nicht zusteht. Das ist ein Märchen und bleibt ein Märchen. Denn die sog. »Überhänge« sind gar keine konkreten Mandate, sondern eine Differenz. Doch Märchen werden gerne weitererzählt. Tatsache ist und bleibt dagegen, dass in Deutschland das »Westminster-Modell«, also die klassische Direktwahl in 299 überschaubaren Wahlkreisen »ohne Wenn und Aber« bereits voll verwirklicht ist, bei dem verbleibende Rest von mindesten 299 Abgeordneten aber die Verhältniswahl gilt. Wer seinen Wahlkreis mit einfacher Mehrheit gewinnt, zieht also in den Bundestag ein. – Punkt!

Es gibt daher schlicht und einfach keinen Rechtsgrund, das abweichende Wahlergebnis auf der Seite der Verhält­nis­wahl, also bei der Verteilung der Listenplätze auf die Parteien, zu korrigieren, zu verbessern oder irgendwie »auszugleichen«. Nachdem die Wahllokale schon geschlossen und die Wahlergebnisse ausgezählt waren, konnten für die nachgeschobenen Listenplätze natürlich keine Wählerstimmen mehr abgegeben werden. Für die demokratische Legitimation der Ausgleichsmandate hätte man wenigsten eine Eventualstimme oder eine richtige Nachwahl speziell über den Mandatsausgleich gebraucht, mit eigenen Kandidaten, neuen Stimmzetteln und allem was zu einer Nachwahl dazugehört. Beides gab es weder 2013 noch 2017. Die Ausgleichsmandate kamen demnach ohne freie Entscheidung des Wahlvolkes zustande, wer, welches Ausgleichsmandat, für welche Partei, in welchem Bundesland erhalten soll – und das ist grob verfassungswidrig.

Zu allem Überfluss wurde auch 2017 das Wahlergebnis wie schon 2013 nach der Wahl »ausgeglichen«, aber nicht durch 46, sondern durch 65 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich überstieg also den ohnehin schon über­höhten und deshalb verfassungswidrigen Überhang insgesamt um 19 überhanglose Ausgleichsmandate. In 19 Fäl­len stand auch 2017 dem Ausgleich also gar kein Überhang gegenüber. Die Stimmen werden ausgezählt, niemals aber ausgeglichen und schon gar nicht im Übermaß. Das deutsche Wahlrecht ist ein Narrenschiff: Die Wähler geben ihr Stimmen ab, und danach ist niemand befugt, das Wahlergebnis nachträglich zu korrigieren, zu verbessern oder »auszugleichen«. Das gibt es nur in sog. Bananenstaaten, in denen die Demokratie nur eine Theaterkulisse ist.

Ausgleichsmandate sind wie Kuckuckseier

Ausgleichsmandate sind wie Kuckuckseier. Sie werden den Wählern untergeschoben, ohne dass sie wissen, wie ihnen geschieht. Sie sind vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe mit den beiden Wahlprüfungs-Beschwerden (Az. 2 BvC 64/14 und Az. 2 BvC 67/14) angegriffen und als verfassungswidrig gerügt worden. Das Ver­fas­sungs­gericht hat mit der Fünf-Prozent-Hürde eine strenge Obergrenze für nachträgliche Eingriffe in das Wahl­er­gebnis gezogen. Diese Obergrenze kann nicht überschritten werden (vgl. BVerfGE  1, 208 (256); ferner Strelen, in: Schreiber, BWahlG 2013, § 6 Rn. 35, mit weiteren Fundstellen in Anm. 78.) Durch die nachträgliche Zutei­lung von Ausgleichsmandaten wird über die Sperrklausel hinaus noch einmal in das Wahlergebnis eingegriffen. Niemand ist jedoch dazu befugt, das Ergebnis der Wahl jenseits der vom BVerfG akzeptierten Fünf-Prozent-Hürde erneut zu verändern, zu verbessern, zu korrigieren oder „auszugleichen“.

Außerdem werden Abgeordnete grundsätzlich nicht von staatlichen Instanzen zugeteilt. Abgeordnete werden ge­wählt. So will es Art. 20, Art. 28 und Art. 38 GG. Und das ist bei den nachgeschobenen Ausgleichsmandaten ein­deutig nicht der Fall. Das Volk wählt aus seiner Mitte die Volksvertreter, die sich zum Deutschen Bundestag versammeln, dort den Kanzler oder die Kanzlerin wählen und während der vierjährigen Legislaturperiode ge­mein­schaftlich an der parlamentarischen Willensbildung mitwirken, um darüber zu entscheiden, was im öffent­lichen Interesse geschehen soll oder zu unterbleiben hat. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Das Volk tut sei­nen Willen in der namentlichen Wahl zur Volksvertreter kund. (Volkssouveränität)

Wohlgemerkt: Die Wahl ist grundsätzlich keine Parteien-, sondern eine Personenwahl. »Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.« Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe der Nachrücker-Entscheidung v. 26.02.1998, BVerfGE 97, 317 (323) so festgehalten.

Das Verfassungsgericht hätte den Spuk verhindern können

Die acht Richter des Zweiten Senat beim Bundesverfassungsgericht hätten den ganzen Spuk verhindern können, haben es aber nicht getan. Am 21.09.2017, also drei Tage vor der Wahl v. 24.09.2917, hatte das Verfas­sungsgericht in Karlsruhe die Wahlprüfungs-Beschwerde (Az: 2 BvC 64/14) in der Hauptsache durch eine sog. »A-Limine-Entscheidung« ohne weitere Begründung verworfen (vgl. § 24 BVerfGG). Als Folge davon haben sie auch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für erledigt erklärt. Diese Entscheidung wurde den Beschwerdeführern nach der Wahl zugestellt und ist endgültig.

Mit ihrem Eilantrag wollten die Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvC 64/14 erreichen, dass die Abgeord­neten, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden, solange nicht an den Abstimmungen im Deutschen Bundestag teilnehmen dürfen, also von der Wahl des Bundestagspräsidenten und des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin ausgeschlossen bleiben, solange über die Wahlprüfungs-Beschwerde nicht in der Hauptsache entschieden wurde. Nun ist es ganz anders gekommen. Drei Tage nachdem das Verfassungsgericht die Wahlprüfungs-Beschwerde (2 BvC 64/14) in der Hauptsache nach § 24 BVerfGG 2 »a limine« vom Tisch gefegt hat, sind bei der Bundestagswahl 46 sog. »Überhänge« entstanden. Allesamt sind sie verfassungswidrig, weil die höchstrichterliche gezogene Zulässigkeitsgrenze von 15 »Überhängen« turmhoch überschritten wurde. Ist aber der Überhang schon verfassungswidrig, wird auch der Ausgleich davon erfasst. Auch der nachgescho­bene Mandatsausgleich von 65 Sitzen wird also in den Strudel der Verfassungswidrigkeit mit hinein­gezogen.

Die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag ist deshalb ungültig. Sie kann im Rahmen einer Wahlprüfung nach Art. 41 Abs. 1 GG zuerst vor dem Bundestag, nach Art. 41 Abs. 2 GG später vor dem Verfassungsgericht, erfolg­versprechend angegriffen und am Ende zu Fall gebracht werden. Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Deshalb sind nun die wahlberechtigten Staatsbürger am Zug. Und der Weg nach Karlsruhe ist weit.

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