Die Achilles-Ferse der Verhältniswahl
Die Verhältniswahl ist ohne Sperrklausel nicht funktionsfähig. Die Prozent-Basis (Bemessungsgrundlage) der Klausel ist seit der zweiten Bundestagswahl 1953 die Zahl aller bundesweit gültig abgegebenen Zweitstimmen. Die CSU tritt aber gar nicht bundesweit an. Das führt zu Friktionen im Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl. 2013 gab es bundesweit 43.726.856 gültig abgegebene Zweitstimmen. Darin enthalten waren 6.580.755 Zweitstimmen aus dem Freistaat Bayern.
Bei der Bundestagswahl v. 22.9.2013 entfielen auf die CSU 3.243.569 Zweitstimmen. Das waren 49,3 % der bayerischen und 7,4 % der gesamtdeutschen (gültig abgegebenen) Zweitstimmen. Um als Regionalpartei, die nur in Bayern antritt, die Bundes-Sperrklausel zu überwinden, benötigte die CSU 3.087.345 Zweitstimmen (5 % von 43.726.856). Tatsächlich konnte sie 2013 mit 3.243.569 bayerischen Zweitstimmen die Fünf-Prozent-Marke um 156.224 Stimmen überspringen und damit einen Bundesanteil von 7,4 % erreichen.
Jenseits der Fünf-Prozent-Hürde
Würde bei der CSU die absolute Zahl auf weniger als 3.087.345 der (gültig abgegebenen) Zweitstimmen absinken, d.h. unter 46,9 % der bayerischen Zweitstimmen (!) fallen, würde die Partei – theoretisch – mit mehr als zwei Fünfteln der Landesstimmen an der Sperrklausel scheitern und deshalb gar keine Listenplätze erreichen. Die CSU hat aber in den 45 Wahlkreisen des Freistaates schon immer die meisten Sieger gestellt, d.h. weit mehr als die drei sog. „Grundmadnate“ erlangt. 2013 gewann sie sogar ausnahmslos alle 45 Direktmandate und hätte deshalb nach § 6 Abs 3 Satz 1 BWahlG n.F. auch die Zweitstimmen behalten können. Die CSU steht somit jenseits der Sperrklausel.
Ganz anders erging es der Bayernpartei (BP). Bei der ersten Bundestagswahl im Jahre 1949 war die Sperrklausel noch auf das jeweilige Land bezogen. Die BP erzielte 17 Sitze, 11 davon waren Direktmandate. Als Partei erlangte die BP 20,9 % aller Zweitstimmen in Bayern. Das waren 4,2 % aller gültig abgegebenen Zweitstimmen im Bundesgebiet. Wegen der 11 Direktmandate wäre bei der BP im Fall einer Bundes-Sperre die Grundmandats-Regelung zum Zuge gekommen. Bei der zweiten Bundestagswahl 1953 wurde die Bemessungsgrundlage der Fünf-Prozent-Hürde verändert und eine Bundes-Sperre eingeführt. Der Zweitstimmen-Anteil der BP in Bayern sank 1953 auf 9 % und lag damit hoffnungslos unter der Fünf-Prozent-Marke im Bund. Die BP erlangte außerdem auch kein Direktmandat mehr. Sie blieb wegen der für sie in Bayern unüberwindbaren Bundes-Sperre auch bei allen weiteren Wahlen chancenlos und zog nie wieder in den Bundestag ein.
Mit der Bundes-Sperre ist es also gelungen, der Bayernpartei in Bundestagswahlen das Lebenslicht auszublasen. Bei der CSU war das nicht der Fall. Würde man jedoch die Prozentbasis nicht auf die gültig abgegebenen, sondern auf alle Zweitstimmen erhöhen, die ungültigen und die nicht-abgegebenen eingeschlossen, könnte dieses Schicksal eines Tages wohl auch die CSU treffen. Hier gilt der bekannte Satz: Bei einer frei bestimmbaren Prozentbasis kann man jeden beliebigen Prozentsatz ausrechen.
Wegen der Sperrklausel gab es 2002 zwei Überhangmandate
Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) war de facto eine Regionalpartei, die nach der Wende 1998 in den fünf neuen Bundesländern hinzukam. In der Wahl von 1990 und 1994 gab es in den neuen Ländern noch keine Bundes-Sperre. Gewählt wurde mit einer getrennten Fünf-Prozent-Hürde für die 11 alten und die fünf neuen Bundesländer. 2002 änderte sich das, und PDS konnte die gesamtdeutsche Sperrklausel bezogen auf alle gültig abgegebenen Zweitstimmen des gesmgten Wahlgebietes nicht überwinden. Mit Petra Pau und Gesine Lötzsch erlangte die PDS aber in zwei Wahlkreisen den Sieg. Für einen dritten reichte es damals nicht. Die Regelung für die Grundmandate kam für die PDS daher 2002 nicht zum Tragen.
Anders als für die Zweitstimmen gibt es für die Erststimmen keine Sperrklausel. Wer in einem der zuletzt 299 Wahlkreise schon deshalb mit weniger als 5 % der Erststimmen des Bundes gewinnt, weil in einzelnen Wahlkreisen gar nicht 5 Prozent aller Erststimmen zu erreichen sind, der hat nichts zu befürchten: Petra Pau und Gesine Lötzsch zogen daher unangefochten in den Bundestags ein. Dadurch entstanden 2002 auf der Seite der PDS aber zwei sog. „Überhangmandate“ (Direktmandate ohne Listenplatz), die jedoch in keiner Statistik auftauchen. Die Fünf-Prozent-Hürde kann demnach unterhalb der Grundmandate sehr wohl zu einem oder zwei Überhangmandaten führen.
Die Sperrklausel führt im Ergebnis dazu, dass bei den privilegierten Parlamentsparteien – zu Lasten der sog. Splitterparteien – der Anteil an den Sitzen regelmäßig größer ist als der Anteil an den Zweitstimmen. (Bias, d.h. Schieflage) Die Parteien rücken wegen der Sperrklausel regelmäßig nicht mehr im Verhältnis der von ihnen erlangten Zweitstimmen in den Bundestag ein. Die Klausel ist deshalb die Achilles-Ferse der Verhältniswahl. Durch Bundessperren wird außerdem das föderative Wahlsystem unterlaufen. Wie auch immer, unter dem Gesichtspunkt einer fairen Wahl mit vergleichbaren Bedingungen sind Bundes-Sperrklauseln für Landesparteien auch verfassungsrechtlich ein Unding: Und stellt man die Direktmandate und die Listenplätze nebeneinander, wird sowieso nicht mit der gleichen Elle gemessen.