Die alten Fehler und Schwächen sind geblieben
Das neue „Politbarometer“ ist da. Die Fehler und Schwächen dieser im Auftrag des ZDF erstellten Wählerumfrage sind unverändert die gleichen geblieben. Mehr denn je sind die Erststimmen für eine Wahlüberraschung gut. Doch die Umfrage des ZDF ignoriert schlicht und einfach die Direktwahl in den 299 Wahlkreisen. Statt dessen konzentriert sich die allmonatliche Umfrage allein auf die Zweitstimmen. Die Prognose erfasst daher von vorne herein nur die halbe Wahrheit.
Das „Politbarometer“ ist also unzuverlässig. Trotzdem bleiben Erkenntnisse über die Zweitstimmen, die man nicht gering schätzen oder übersehen sollte.
1. Wer seine Stimme verleiht, bekommt sie nicht zurück
CDU und CSU haben einen Prozentpunkt zugelegt. Bei einem Stand von jetzt 42 Prozent der Zweitstimmen dringen die Schwesterparteien – endlich! – in die Größenordnung vor, die zur Fortsetzung der Koalition mit der FDP unerlässlich ist. Doch die FDP verharrt bei 4 Prozent der Zweitstimmen und bleibt damit sogar unter der Fünf-Prozent-Hürde. Heiner Geißler hat daher Schwarz-Gelb als „Koalition mit einer Leiche“ bezeichnet.
Zur Fortsetzung der Koalition mit der FDP fehlen auch dann die Voraussetzungen, wenn der FDP durch Leihstimmen aus den Reihen der beiden Unionsparteien der Einzug in das Berliner Parlament gelingen würde. Denn diese Leihstimmen müssen bei den Unionsparteien abgezogen werden. Wer seine Stimme „verleiht“, bekommt sie ja nicht zurück. Weg ist weg! Die FDP müsste also aus eigener Kraft – d.h. ohne Leihstimmen – mindestens 7 Prozent der Zweitstimmen erreichen, damit unter dem Strich die bisherige Koalition – wenn auch mit knapper Mehrheit – weiter fortgesetzt werden kann. Und das ist nicht in Sicht.
2. Splitterparteien gewinnen keine Wahlkreise
Versperrt ist aber auch der zweite Weg. Würde die FDP drei, vier oder mehr Direktmandate erreichen, würden diese direkt gewählten FDP-Politiker in den Bundestag einziehen. Aber in den bisher 17 Bundestagswahlen haben die Liberalen 14-mal keinen einzigen Direktkandidaten durchgebracht: Genscher nicht, Kinkel nicht und Westerwelle nicht. Auch Rösler konnte seinen Wahlkreis nicht gewinnen. Würden die Leihstimmen-Wähler aus den Reihen der Union nicht mit der Zweitstimme die Landeslisten der FDP ankreuzen, sondern umgekehrt in den 16 Bundesländern mit ihrer Erststimme Kandidaten der FDP wählen, würde die Koalition vielleicht sogar in den Bereich des Möglichen rücken, zumindest würde die Union von den Ausgleichsmandaten profitieren, die bei einem solchen Stimmensplitting neuerdings entstehen.
Gesetzt den Fall, alle Wähler der Union würden ihre Erststimme der FDP und im Gegenzug würden alle Wähler der FDP ihre Zweitstimme einer der beiden Unionsparteien zu kommen lassen, wäre das natürlich der sichere Wahlsieg! Das nicht zuletzt auch deshalb, weil die Überhänge bei der FDP entstünden und die beiden Schwesterparteien der Union zusätzlich den „Löwenanteil“ der Ausgleichsmandate „abstauben“ könnten. Aber das ist ein ganz anderes Thema, das nicht nur den durchschnittlichen Wähler vollkommen überfordert.
Im „Politbarometer“ erreicht die Alternative für Deutschland (AfD) zum zweiten Mal nach ihrer Gründung lediglich 3 Prozent der Zweitstimmen. Das Programm dieser Partei ist mit dem der FDP und der beiden Unionsparteien unvereinbar. Leihstimmen wird der AfD daher niemand geben und von drei Direktmandaten in den 299 Wahlkreise können die Alternativen nur träumen. Splitterparteien wie die Piraten oder die Alternativen gewinnen keine Wahlkreise. Die AfD zieht daher nicht in den Bundestag ein.
3. Wahlkampf ist Kampf
Für die beiden Unionsparteien kommt demnach nur eine Koalition mit den Grünen oder mit der SPD in Betracht. Doch beide wollen das nicht. Ob sie sich nach der Wahl anders einlassen als vor der Wahl, ist ungewiss, aber nicht auszuschließen. Große Koalitionen hat es ja schon zweimal gegeben. Das wäre also keine „Welturaufführung“.
Franz Josef Strauß hat allerdings schon 1949 angedroht, die CSU würde in die Opposition gehen, wenn die CDU mit der SPD eine Koalition bilden würde. Schwer zu sagen, ob er diese Karte 2013 noch einmal spielen würde, … ein konfliktträchtiges Wahlkampfthema? … das die Wähler vom Stuhl reißt? Gewiss! Das würde an den berühmten Beschluss von Kreuth und an die Wahlparole „Freiheit oder Sozialismus“ von 1976 erinnern. Damals holte die Union alleine 48,6 Prozent der Zweitstimmen. Wahlkampf ist Kampf und keine konfliktfreie „Kuschelparty“, die unter dem Motto „Freiheit und Sozialismus“ steht.
Wenn die Unionsparteien keine Alternative, sondern nur eine Variante zu anderen Parteien, insbesondere zur SPD sein wollen, können sie ihre Stammwähler nicht dazu bewegen, für sie Partei zu ergreifen und das am Wahltag auf den Stimmzetteln entsprechend zum Ausdruck zu bringen. Eine hohe Wahlbeteiligung setzt voraus, dass eine Richtungsentscheidung zu fällen ist, die von den Wählern höher eingestuft wird als das Fußballspiel, das am Wahlsonntag läuft.
4. Ein schwerwiegendes Verfassungsproblem
Im neuen Wahlrecht wurde das systemwidrige Stimmensplitting beibehalten. Wenn es weiter zunimmt, dann begünstigt das die Entstehung von Überhangmandaten, die bei der Wahl am 22.9.2013 im Bund zum ersten Mal ausgeglichen werden. Findet man im „Politbarometer“ schon zur Wahl der Direktkandidaten keine Aussage, kann es zu den Ausgleichsmandaten überhaupt keine Wahlprognose geben. Denn niemand weiß im Voraus, wie viele Überhänge entstehen, die auszugleichen sind.
Im gesamten Bundesgebiet gibt es neben den Landeslisten verteilt auf 16 Bundesländer 299 Wahlkreise. Durch Überhangmandate wird die Zahl der Wahlkreise natürlich nicht erhöht. Entstehen Überhänge – weil die mit der Zweitstimme über die Landeslisten erlangten Listenplätze hinter den in den Wahlkreisen erreichten Direktmandaten zurückbleiben, was in allen 16 Bundesländern passieren kann – dann erhalten die übrigen Parteien einen Mandatsausgleich, und zwar ohne dafür auch nur eine einzige zusätzliche Wählerstimme vorweisen zu können. Es bleibt einfach keine andere Schlussfolgerung: Ausgleichsmandate kommen nicht durch Wahl zustande – ein schwerwiegendes Verfassungsproblem!
Volksvertreter werden vom Volk selbst und unmittelbar gewählt. Ausgleichsmandate entstehen aber nicht durch Wahl und sind deshalb grob verfassungswidrig. Doch das lernt man ja schon im ersten Jura-Semester: Wo kein Kläger, da kein Richter.