Demokratisierung des Streikrechts

Mehrheit entscheidet. Minderheiten ist der Streik untersagt.

Der Streik ist seiner Rechtsnatur nach Ausübung staatlicher Gewalt und deshalb bedarf er nach Art 20 GG der basisdemokratischen Legitimation durch Urabstimmung in den Reihen aller streikbetroffenen Belegschaftsmitglieder. Doch diese Abstimmung gibt es in der Praxis nicht. Eine betriebsexterne Urabstimmung allein in den Reihen der Gewerkschaftsmitglieder reicht nicht aus. Es streikt nicht die Gewerkschaft. Es streikt die Belegschaft. Mehrheit entscheidet – Minderheiten ist der Streik untersagt.

Der Tarifvertrag wird im Tarifvertragsgesetz (TVG) geregelt. Er ist er ein Zwischending zwischen Vertrag und Gesetz. Einerseits ist er ein Kollektivvertrag zwischen den Tarifparteien, andererseits hat er die zwingende Wirkung von Gesetzen. An ihrer Entstehung wirken die Tarifvertragspartner gesetzgeberisch mit. Auf ihr Betreiben werden die Einzelarbeitsverträge der Gewerkschaftsmitglieder in den tarifgebunden Betrieben durch die Tarifabkommen überformt.

Insbesondere kann der Kollektiv- bzw. Tarifvertrag nicht durch abweichende Abmachungen in den individuellen Einzelarbeitsverträgen abbedungen werden. Der Tarifvertag hat Vorrang vor dem Individualvertrag der Gewerkschaftsmitglieder. Das schränkt die Vertragsfreiheit ein. Ein Mitglied der Gewerkschaft kann sich der Drittwirkung eines Tarifvertrags nicht entziehen, es sei denn durch Austritt. Der Streik ist daher von vorne herein keine Privatsache der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften werden als nicht eingetragene oder auch als eingetragene Vereine mit Wirkung für ihre Mitglieder tätig. Der rechtliche Unterschied in der Rechtsform der Gewerkschaften ist in der Praxis weitgehend eingeebnet worden.

Nach dem Grundsatzurteil, das der Große Senat des BAG unter dem Datum des 28.12.1955, (BAGE 1, 219) gefällt hat, wird das fundamentale Prinzip des Vertragsrechts: pacta sunt servanda (Verträge müssen eingehalten werden) für die Dauer des Streiks, innerhalb der Grenzen des Kampfgebietes außer Kraft gesetzt. Eine juristische Sensation. Den Streiks gingen damals regelmäßig Urabstimmungen voraus. Das war gängige Praxis. Das Gericht hatte daher keinen Anlass, die Abstimmung ausdrücklich zu verlangen.

Die „Streiktaktik der neuen Beweglichkeit“ mit Warnstreiks ohne vorherige Urabstimmung gab es 1955 noch nicht. Der Organisationsgrad erreichte meist mehr als 75 Prozent, im Bergbau sogar über 90 Prozent. Die Mehrheit in den Belegschaften wurde daher nicht in Zweifel gezogen. Die Urabstimmung in den Belegschaften, hätte kein ausschlaggebend anderes Bild ergeben als die Urabstimmung in den Gewerkschaften. Man konnte sich also mit der verbandsinternen Urabstimmung abfinden und tat das auch.

Heute ist die Situation eine ganz andere. Inzwischen sind zahlreiche Spartengewerkschaften entstanden, die das Tarifgeschehen maßgebend beeinflussen. Minderheiten zwingen den schweigenden Mehrheiten ihren Willen auf. Dem gilt es mit Mitteln des Gesetzgebers entgegenzutreten. Der Streik kann nur zulässig sein, wenn er als Ausdruck der Volkssouveränität verstanden wird. Das Volk will es so. Das ist die alles entscheidende Abweichung von der herrschenden Meinung. Das Volk tut aber sein Wahlen in Wahlen und Abstimmungen kund. Und daran gilt es festzuhalten.

Der Streik ist eine besondere Form staatlicher Gewaltausübung und bedarf der basisdemokratischen Legitimation durch Urabstimmung in der vom Arbeitskampf unmittelbar betroffenen Belegschaft. Fehlt sie, ist der Streik rechts- und verfassungswidrig. Deshalb zwingt Urabstimmung in der Belegschaft die Gewerkschaften de facto zur Tarifunion. Sie müssen sich zusammenraufen und gemeinsam auftreten, wenn sie die Mehrheit in den Betrieben nicht aufs Spiel setzen wollen. Die Gewerkschaften sind daher nur gemeinsam erfolgreich oder gar nicht.

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