Die SPD muss „die Schiffe hinter sich verbrennen“

 

I. Offener Brief

an die 56 direkt gewählten Abgeordneten der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag:

Niels Annen; Dr. Matthias Bartke; Sören Bartol; Bärbel Bas; Esther Dilcher; Dr. Wiebke Esdar; Jasmin Fahimi; Dr. Fritz Felgentreu; Prof. Edgar Franke; Dagmar Freitag; Sigmar Gabriel; Michael Gerdes; Timon Gremmels; Micheal Groß; Metin Hakverdi; Dirk Heidenblut; Hubertus Heil; Gustav Herzog; Dr. Eva Högl; Oliver Kraczmarek; Johann Kahrs; Rolf Kapschack; Arno Klare; Lars Klingbeil; Elan Korkmaz; Prof. Karl Lauterbach; Helge Lindh; Dr. Mathias Miersch; Falko Mohrs; Claudia Moll; Siemtje Möller; Michell Müntefering; Dr. Rolf Mützenich; Thomas Oppermann; Josephine Ortleb; Mamut Özdemir (Duisburg); Aydan Özoguz; Sabine Poschmann; Achim Post (Minden); Dennis Rohde; René Röspel; Michael Roth; Sarah Ryglewski; Johann Saathoff; Axel Schäfer; Uwe Schmidt; Johann Schrabs; Swen Schulz (Spandau); Frank Schwebe; Stefan Schwartze; Mathias Stein; Kerstin Tack; Michael Thews; Markus Töng; Dirk Vöpel; Bernd Westphal.

 

Die SPD könnte sich „die Finger schlecken“, wenn sie so dastünde wie die Labour Party in Großbritannien. Will die SPD ihren Rang als ernstzunehmende Volkspartei zurückgewinnen, muss sie „die Schiffe hinter sich verbrennen“ und den mühevollen „Häuserkampf“ um jeden einzelnen der insgesamt dann 598 Wahlkreise mutig auf sich nehmen. Wählerbefragung statt Mitgliederentscheid, das ist die Urquelle der Demokratie.

Das duale Wahlsystem mit zwei Stimmen hat sich nicht bewährt: Der Bundestag ist hoff­nungslos überfüllt. Würde man den nächsten Bundestag allein mit der Erststimme wählen, würde sich die politische „Landschaft“ vollständig verändern. Einmal weil die Zahl der Wahl­kreise von jetzt 299 durch Halbierung der bisherigen Wahlgebiete auf dann 598 angehoben und so verdoppelt werden müsste, um alle 598 Sitze im Bundestag mit direkt gewählten Abgeordneten besetzen zu können. Zum anderen weil es danach keine „sicheren“ Listenplätze mehr gibt. Wer im Wahlkreis verliert, weil es ihm oder ihr nicht einmal gelang, dort die ein­fache Mehrheit zu erringen, kann nicht über einen „sichern“ Listenplatz trotzdem in den Bun­destag einziehen.

Mit der Verdoppelung der Wahlkreise verdoppeln sich auch die Wahlchancen der Parteien. Die Wahlkreise sind dann viel kleiner und lassen viel besser betreuen. Auch kommt die Direktwahl ohne Sperrklausel aus. Außerdem ist die einfache Mehrheit viel leichter zu errei­chen als die absolute. Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite gibt es keinen Pardon: Wer im Wahlkreis die einfache Mehrheit verfehlt, der hat die Wahl verloren und zieht nicht in das Parlament ein. Der Wahlkreissieger hat seine Gegner aus dem Felde ge­schlagen. Sie können nicht auf dem zweiten Bildungsweg der Verhältniswahl trotzdem in den Bundestag gelangen, wenn sie im Wahlkreis verloren haben.

Das Rad muss auch gar nicht neu erfunden werden. Denn in der Berliner Republik gibt es bereits 299 Abgeordnete, die in ihren Wahlkreisen direkt gewählt worden sind. In diesen 299 Wahlkreisen wählen die Deutschen genauso wie die Briten. Insoweit ist ein kompletter Systemwechsel zur Direktwahl gar nicht erforderlich. Die zahlreichen Verfassungsprobleme, die das deutsche, das duale Wahlverfahren mit sich bringt, entstehen allein dadurch, dass der verbleibende Rest von mindestens 299 Abgeordneten auf einem Umweg in das Parlament einzieht, nämlich allein über die Zweitstimme. Und das widerspricht dem Grundsatz der Wahl unter gleichen Bedingungen. In Wahrheit ist das duale Wahlsystem mit zwei Stimmen nur eine partielle, d.h. „teilpersonalisierte“ Verhältniswahl, also ein Bruchstück, ein Torso, ein Fragment.

Gewiss, die unverkürzte Direktwahl stärkt die Regierung, sie bündelt aber auch die Opposi­tion. Die SPD kann daher mit Zulauf aus den Reihen ihrer Konkurrenzparteien im linken Parteienspektrum rechnen, vor allem wenn sie sich in der Opposition als Alternative und nicht als Variante zur Regierung profiliert. So gesehen ist die Direktwahl die große Chance, die der SPD vielleicht nur noch in der laufenden Legislaturperiode offen steht. Von den Verfassungs­fragen abgesehen, sprechen also auch handfeste politische Gründe dafür, die Gunst der Stunde zu nutzen und in den nachfolgenden Legislaturperioden alle Volksvertreter auf ein und dem­selben Weg ins Parlament wählen zu lassen, auf dem Weg allein über die Erststimme, wie sie teilweise ja schon in Gebrauch ist.

Der SDP reicht das Wasser bis zum Hals. Doch in der Not wächst das Rettende auch. Retten muss sich jede Partei aber selbst. Der Schlüssel zur Reform des Wahlrechts liegt also bei der SPD. Sie hat es in der Hand, dem Koalitionspartner den Wechsel von der verkürzten Direkt­wahl in 299 Wahlkreisen zur unverkürzten anzubieten, die sich auf alle 598 Mandate des Bundestages erstreckt. Bei einer Wahl nur mit der Erststimme stehen alle Bewerber mit dem Rücken zur Wand. Wer in seinem Wahlkreis die einfache Mehrheit der Wähler nicht von seiner Person überzeugen kann, scheidet aus. Der Wahlkampf wird also zum Kampf um das politische Überleben. – Das stärkt den Kampfgeist ungemein!

München, den 19. August 2019 .                                                   Dr. Manfred C. Hettlage


 

II. Eckpunkte zu einer Reform

Bundestagswahl allein mit den Erststimmen: 

1. Verständlichkeit der Gesetzessprache

Dem Wahlgesetzgeber obliegt es, der Anordnung des Verfassungsgerichts endlich nachzukommen und mehr Klarheit und Verständlichkeit in „das Normengeflecht“ der Mandatsverteilung des Bundes­wahlrechts zu bringen. (Vgl. BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 316 (323).) Die Bürger haben ein Anrecht darauf, das Wahlrecht in seinem Wesenskern zu durchschauen (Vgl. BVerfGE 47, 253 (29 f) und BVerfGE 95, 335 (350).

Bundes-Wahlgesetz und Bundes-Wahlordnung werden deshalb einer generellen Überarbeitung der völlig missratenen Gesetzessprache unterzogen.

2. Änderungen in § 1 BWahlG

Die Hybridwahl mit zwei Stimmen wird abgeschafft. Künftig werden alle Abgeordneten nach dem Grundsatz „one man ohne vote“ allein mehr mit der Erststimme gewählt. Die Zweitstimme entfällt. Die Vorschrift in § 1 BWahlG über das System der Wahl erhält die nachfolgende Fassung:

Der Deutsche Bundestag besteht aus 598 Abgeordneten. Das gesamte Wahlgebiet wird in ebenso viele Wahlkreise unterteilt. Die Abgeordneten werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Zum Vertreter des ganzen Volkes ist gewählt, wer in seinem Wahlkreis die meisten der gültig abgegebenen Stimmen erhalten hat (einfache Mehrheit). Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los.

Vorschriften im 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz, die dazu im Widerspruch stehen, werden gestri­chen.

3. Neue Vorschrift zur Vorbereitung der Wahl

Die Vorschriften §§ 16 ff BWahlG zur Vorbereitung der Wahl werden ergänzt wie folgt:

       (1) Die Aufstellung von Bewerbern für die einzelnen Wahlkreise ist Bestandteil der Wahl und wird vom Wahlausschuss überwacht. Die Sitzungen des Ausschusses sind öffentlich.

       (2) Die Aufstellung von Bewerbern aus der Mitte des Wahlkreises erfolgt durch Wahlberechtigte aus dem Stimmgebiet. (Bürgerkandidatur) Als Kandidat kann sich nur bewerben, wer mindestens ein volles Kalenderjahr in seinem Wahlkreis den ersten Wohnsitz hatte. Aufgestellt ist, wer 200 Unter­schriften von stimmberechtigten Bürgern aus dem Wahlkreis beibringt. Name, Vorname, Anschrift, Geburtsdatum und Zustimmung durch Unterschrift der zur Aufstellung befugten Bürger sind den Wahlbehörden zur Überprüfung nachzuweisen. Näheres regelt die Wahlordnung.

     (3) Die Aufstellung von Bewerbern der politischen Parteien erfolgt in Aufstellungsversammlungen aus Parteimitgliedern des Wahlkreises bzw. ihrer Vertreter. (Parteienkandidatur) Sie steht unter der Aufsicht der zuständigen Wahlbehörde. Die Behörde achtet insbesondere auf die Durchsetzung der geheimen Wahl. Aufgestellt werden kann nur, wer mindestens ein volles Kalenderjahr in seinem Wahlkreis den ersten Wohnsitz hatte. Wahlvorschläge können nur von wahlberechtigten Mitgliedern der Aufstellungsversammlung eingereicht werden. Über mehrere Kandidaten wird in Sammelwahl ab­gestimmt.

     (4) Als Wahlkreisbewerber einer Partei wurde nominiert, wer in der Aufstellungsversammlung die meisten, mindestens aber 200 Ja-Stimmen erhalten hat. Wurde die Mindestzahl verfehlt, wird die Ab­stimmung wiederholt. Näheres regelt die Satzung der Parteien. Sie kann die Errichtung gültiger Wahl­vorschläge von der Erfüllung angemessener Vorbedingungen abhängig machen, insbesondere Ort und Frist für die Anmeldung von Wahlvorschlägen errichten und für die Errichtung gültiger Wahlvor­schläge die Mitwirkung von mehreren wahlberechtigten Mitgliedern der Aufstellungsversammlung verlangen.

     (5) Ein Wahlkreisbewerber darf von niemandem nötigend behindert oder mit Nachteilen bedroht werden.

Vorschriften im 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz, die dazu im Widerspruch stehen, werden gestri­chen.

Hinweis zum Schrifttum:

 Manfred C. Hettlage: „One man one vote – eine Stimme ist genug“. Taschen­buch 2019, ISNB 978-3-96138-100-5; (https://www.amazon.de/ONE-VOTE-EINE-STIMME-GENUG/dp/3961381003).

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