Prinzipiell verfassungskonform?
Ist „Deutschland in guter Verfassung?“ Dem ging Rupert Scholz in seinem Buch nach, das eben diesen Titel trägt und 2004 erschienen ist (ISBN 3-8114-5218-5). Darin erörtert er Fragen, die sich andere schon vor ihm gestellt hatten, z. B. „Selbstentmachtung des Parlaments“: H. J. Papier, (FAZ v. 31.3.2003, „Reform an Haupt und Gliedern“); „Der Staat als Talkshow?“ H. Kremp (Die Welt v. 2.3.1993); oder die sog. „Koalitionsdemokratie“, die den kleinen Parteien eine undemokratische Sperrminorität und damit die Macht über die großen Parteien einräumt – die Demokratie also auf den Kopf stellt, weil Minderheiten über Mehrheiten herrschen. Wenn Scholz die Parteien als „Transmissionsriemen“ bezeichnet (S. 121), ist das ein gewagter Vergleich. Denn das hat vor ihm schon Lenin getan.
Alles sehr schöngeistig und auch sehr kenntnisreich, vielleicht auch gut. Doch wirkliche Spannung kommt erst auf, wenn der Autor konkret wird und in die „teuflischen“ Details einsteigt. Die Aussage von Scholz, die personalisierte Verhältniswahl sei „prinzipiell“ verfassungskonform, aber nicht unabänderlich, (S. 97) muss stutzig machen. Was heißt „prinzipiell“ verfassungskonform? Gibt es einzelne Elemente des dualen Wahlverfahrens mit Erst- und Zweitstimme, die nicht verfassungskonform sind? – Scholz hat vollkommen Recht. Natürlich gibt es sie!
Leider sehr unscharf deutet Scholz selbst an, die Zweitstimme hätten die politischen Parteien enorm gestärkt“ – und zwar im „Übermaß“, wie er zutreffend nachschiebt. (S. 98) Tatsächlich verlangt das Grundgesetz in Art 38 GG eine unmittelbare Personen-Auswahl, die es bei der Wahl mit der Zweitstimme nicht gibt und nicht geben kann, weil die Wähler auf die alles entscheidende Reihenfolge in der Liste überhaupt keinen Einfluss haben. Rupert Scholz kritisiert die Listenwahl als „ein echtes Parteienmonopol“. (S. 132) Erschwerend kommt die Blockwahl bei der internen Aufstellung der Kandidaten durch die Versammlung der Delegierten der Parteien hinzu. „Solche Blockwahlen sind (…) verfassungswidrig“, so Scholz ohne rhetorische Schnörkel (S. 131) und im schroffen Gegensatz zu J. Halen: in W. Schreiber, BWahlG, (Kommentar), 9. Aufl. 1913, § 27, Rdnr 21.
Die Wähler können aus den Listen, die von den Parteien aufgestellt werden, keine Personen-Auswahl treffen, wie sie das eherne Prinzip der unmittelbaren Wahl zwingend anordnet. Wenn sie abstimmen, müssen sie auf dem Stimmzettel – ob sie wollen oder nicht – statt einer Person eine Partei kennzeichnen, d.h. „ankreuzen“. Lange vor Erscheinen des Buches im Jahre 2004 hat das Verfassungsgericht in Karlsruhe mit seiner „Nachrücker-Entscheidung“ v. 26. Februar 1998 BVerfGE 98, 317 (323) bereits festgehalten: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/1998/02/cs19980226_2bvc002896.html – Der Staat ist kein Parteienstaat und Wahlen sind keine Parteienwahl. Das hat Scholz mit dieser folgenschweren Deutlichkeit beim Erscheinen seines Buches (2004) offenbar noch nicht erkannt!