Die Bundestagswahl 2021 brachte eine große Überraschung: Im Normalfall gibt es 598 Abgeordnete. Es kam aber zu 34 sog. „Überhängen“, 104 Ausgleichsmandate kamen hinzu. Die Zahl aller Mitglieder des Bundestages kletterte nach dem amtlichen Endergebnis auf den Rekord von 736 Volksvertretern an. Die jüngste Reform vom Herbst 2020 hatte eine deutliche Verkleinerung des Parlaments zum Ziel und ist damit hoffnungslos gescheitert. Im Wahlvolk löste das jedoch keinerlei Gemütsbewegungen aus.
Wohlgemerkt: Die sog. Überhänge sind keine überzähligen und deswegen unzulässigen Direktmandate, die den betroffenen Wahlkreissiegern eigentlich nicht zustehen. Ein Überhang ist überhaupt kein konkretes Mandat, sondern ein Abstand, eine Unterschiedszahl“ – wie es im Gesetz heißt – also eine Differenz. Diese entsteht auch nicht auf Bundesebene, sondern auf Landesebene, wenn die von einer Landespartei errungen Direktmandate in der Überzahl bzw. die von ihr im Land erlangten Listenplätze in der Unterzahl sind. Bei 299 Direktmandaten können insgesamt also in 16 Bundesländern zusammengenommen maximal 299 sog. „Überhänge“ entstehen.
Ursache dafür ist das sog. Stimmensplitting. Im dualen Wahlsystem mit zwei Stimmen, können beide Stimmen von einander getrennt werden. Aus der untrennbar miteinander verbundenen Zwillings- oder Doppelwahl entsteht nur ein Mandat: Obwohl zweimal gewählt, nehmen die Abgeordneten nicht zweimal sondern nur einmal an der Willensbildung im Parlament teil. Werden beide Stimmen von einander abgespalten, ist es anders. Aus beiden, separierten Stimmen entstehen zwei verschiedene Mandate, eines über die Erststimmen, das andere über die davon abgespaltenen Zweitstimmen. – Die Doppelwahl aus Erst- und Zweitstimme löst sich also in ihre beiden Bestandteile auf. Die verbundene Doppelwahl wird insoweit zur unverbundenen Verdopplung der Wahl.
Das amtliche Endergebnis der Bundestagswahl von 2021
Partei | Direkt- mandat | Über- hang | Listen- platz | Wahl- ergeb- nis | Aus- gleich | Ender-geb- nis |
SPD | 121 | 10 | 85 | 180 | 26 | 206 |
CDU | 98 | 12 | 54 | 134 | 18 | 152 |
CSU | 45 | 11 | 0 | 45 | 0 | 45 |
Grüne | 16 | 0 | 102 | 94 | 24 | 118 |
FDP | 0 | 0 | 92 | 76 | 16 | 92 |
AfD | 16 | 1 | 67 | 70 | 13 | 83 |
Linke* | 3 | 0 | 36 | 32 | 7 | 39 |
SSW** | 0 | 0 | 1 | 1 | 0 | 1 |
Soll | 299 | 0 | 299 | 598 | 0 | 598 |
Ist | 299 | 34 | 437 | 632 | 104 | 736 |
Quelle: Bundeswahlleiter u. eigene Berechnungen.* Bei den Linken kommt die sog. Grundmandatsklausel zum Zuge. ** Der SSW ist von der Sperrklausel ganz ausgenommen.
Rechenweg: Spalte 7 minus Spalte 1 = Spalte 4; Spalte 7 minus Spalte 6 = Spalte 5.
Zieht man von dem amtlichen Endergebnis (Sp. 7) die 299 Direktmandate aus den insgesamt 299 Wahlkreisen (2) ab, verbleiben 437 Sitzplätze aus den Zweitstimmen (Sp. 4) – die vermeintlichen 34 Überhänge und der nachgeschobene Ausgleich von 104 Listenplätzen eingeschlossen. „Ausgleichssitze sind Zusatzsitze.“ (Vgl. Schneider, BWahlG, § 6, Rdnr. 29). Das ist unstreitig. Doch „Überhänge“ sind das nicht! Es verbleibt in Spalte 4 also das Wahlergebnis, allerdings mit den 34 vermeintlichen Überhängen, die – fälschlich – als unzulässige Direktmandate bewertet und dann auch noch bei den Listenplätzen (!) hinzugezählt werden. Zu allem Überfluss ist der Ausgleich viel größer als der Überhang. – Ist also das amtliche Wahlergebnis der Bundestagswahl von 2021 ein amtlicher Rechenfehler?
Unter den 299 Direktmandaten verbergen sich also 34 sog. Überhänge. Und man muss sich davor hüten, sie zweimal zu zählen: als zulässiges Direktmandat und als unzulässiger „Überhang“. Der real hinzukommenden Aufstockung durch 104 Ausgleichsmandate fehlt zu allem Überfluss die demokratische Legitimation durch eine unmittelbare Urwahl des souveränen Wahlvolkes. Anders als Direktmandate sind die 104 Ausgleichsmandate nicht durch Urwahl entstanden, sondern von den Wahlleitern durch nachträgliche Zuteilung dem Wahlvolk oktroyiert worden. Das ist der springende Punkt, der verfassungsrechtlich den Ausschlag gibt.
Bleibt festzuhalten: Die sog. „Überhänge“ sind keine zusätzlichen Direktmandate. Sie können dem amtlichen Endergebnis der Wahl nicht hinzugefügt und dann überproportional ausgeglichen werden. Wahlen werden grundsätzlich ausgezählt, niemals aber ausgeglichen. Ausgleichsmandate können daher vor der Verfassung keinen Bestand haben. Allerdings hat bisher „die normative Kraft des Faktischen“ dies einfach vom Tisch gefegt. Das Volk drückt seinen Willen durch Wahlen aus. Sind die Wahllokale geschlossen, liegt es nicht in der Macht der Wahlleiter, das Wahlergebnis auszugleichen – auch nicht auf Verlangen des Gesetzgebers. Trotz allem geschieht genau das in 13 von 16 Landtagen, und seit 2013 erstmals auch im Bund. – Leider!
Das ist aber noch nicht alles. Legt man das Amtliche Wahlergebnis zu Grunde, sind die Ausgleichsmandate sind für die Bildung der sog. „Ampelkoalition“ konstitutiv: Ohne Ausgleich gibt es keine Kanzlermehrheit für Rot-Gelb-Grün. Insgesamt haben 736 Abgeordnete im Bundestag Sitz und Stimme. Also wird die absolute Mehrheit mit 369 erreicht. Ohne Ausgleich wird dieses Ziel verfehlt: Die SPD käme ohne Ausgleich nur auf 180, die Grünen nur auf 94, und die FDP auf 76 Sitze. Statt 369 sind das zusammengenommen aber nur 350 Abgeordnete. Und bei 736 Abgeordneten wäre das ja zu wenig. Dies aber nur nebenbei.
Wie auch immer, fehlt den 104 Ausgleichsmandaten, die 2021 angefallen sind, auf jeden Fall die demokratische Legitimation, durch eine unmittelbare Urwahl durch das Wahlvolk. Werden Ausgleichsmandate nachgeschoben, muss es darüber mindestens eine Nachwahl durch das souveräne Wahlvolk geben. Diese fehlt aber. Fast jeder siebte Abgeordnete bekleidet also ein nachgeschobenes Ausgleichsmandate, an dem der Zweifel der Verfassungswidrigkeit nagt.
Und damit käme die Präsidentin des Bundestages, Bäbel Bas, zum Zuge. Sie kann nicht darüber hinweggehen, dass die vom Wahlleiter nachgeschobenen 104 Ausgleichsmandate ohne unmittelbare Urwahl durch das Wahlvolk entstanden sind und deshalb vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben. Das Wahlprüfungs-Gesetz sagt dazu: Werden der Präsidentin des Bundestages „in amtlicher Eigenschaft Umstände bekannt, die einen Wahlmangel begründen könnten, kann sie innerhalb eines Monats nach Bekanntwerden dieser Umstände Einspruch einlegen“ (§ 2 Abs. 2 WahlprüfG). Der Einspruch erfolgt beim Bundestag. Gegen seine Entscheidung steht der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht offen.
Einspruch hätten schon Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble einlegen können, beide Bundestagspräsidenten haben das nicht getan. Auch Bärbel Bas hat sich in die Reihe ihrer Vorgänger eingeordnet, die sich schon vor ihr mit der Auffassung lächerlich gemacht hatten, ihnen seien keine Umstände bekannt, die einen Wahlmangel hätten begründen können. Eine Wahlrechtsreform, die diesen Namen verdient, wäre unter drei Bedingungen nach wie vor leicht zu erreichen: Erstens muss das Gebiet aller 299 Wahlkreise halbiert und ihre Zahl damit verdoppelt werden, so dass insgesamt 598 Direktmandat entstehen und alle Abgeordneten überhaupt mit beiden Stimmen gewählt werden können. Zweitens muss das Stimmensplitting weg. Das Splitting wird durch die verbundene Doppel- oder Zwillingswahl ausgeschlossen. Drittens hat der Wähler das letzte Wort, hat er es nicht hat er auch nichts das entscheidende Wort. Nachgeschobene Ausgleichsmandate bedürfen der freien und unmittelbaren Urwahl durch die Wähler, und zwar auf einem von ihnen eigenhändig gekennzeichneten Stimmzettel. Ohne Nachwahl kein Ausgleich.