Hände weg vom Wahlergebnis

Das Bundeswahlgesetz ist eine „ewige Baustelle“. Es wird als einfaches Gesetz vom Bundes¬tag immer wieder aufs Neue beschlossen. Eine Wahlrechts-Änderung jagt die andere, und es gibt mehr Wahlrechts-Änderungsgesetze als Legislaturperioden. Im geltenden Recht wurde sogar gesetzlich verankert, es in nachfolgenden Walperiode erneut abzuändern. Klingt irgend¬wie absurd, aber der 20. Deutsche Bundestag arbeitet tatsächlich am 25. Bundeswahlgesetz. Im Bundestag liegt also schon wieder der Entwurf für ein neues Wahlgesetz auf dem Tisch. Die Seele vieler der direkt gewählten Mandatsträger kocht, vor allem in den Großstädten, weil sie regelmäßig mit den geringsten Erststimmen-Anteilen gewählt werden und deshalb zuerst aus dem Bundestag katapultiert würden, wenn nach neuem Recht die sog. „Überhänge“ gestrichen werden. In München würde z. B. die CSU alle Direktmandate verlieren.

Der Berliner Bundestag hat seit 2002 insgesamt 598 Mitglieder. Es gibt aber nur 299 Wahlkreise, aus denen mit der Erststimme insgesamt nicht mehr als 299 Direktmandate hervorgehen können. Für die sog. „Verhältniswahl“ mit der Zweitstimme würden daher genau 299 Listenplätze übrigbleiben. Aus beiden Stimmen entstünden exakt 598 Abgeordnete. Der ganze Spuk, dass im Bundestag regelmäßig mehr Abgeordnete anzutreffen sind als dort Sitze zur Verfügung stehen, wäre sofort verschwunden, wenn der Wahlgesetzgeber endlich anordnen würde, die Gesamtzahl der Abgeordneten nicht als vari­able, sondern als feste Größe zu betrachten.[1] Kein Parlament der Welt kann aus einer unbestimmten Zahl von Mitgliedern bestehen, die keine Obergrenze kennt. – Genau darin besteht der Geburtsfehler des deutschen Wahlrechts!

Das geltende Wahlgesetz billigt es dagegen ausdrücklich, falls die Ist-Zahl von der Soll-Zahl der Parla­mentarier abweichen sollte, und regelmäßig sog. „Überhänge“ mitgezählt werden, die zu allem Über­fluss durch weitere „Zusatzsitze“[2] aufzustocken sind. Die Regierungskoalition will es bei dem völlig überfrachteten Konstrukt der leidigen Doppel- oder Zwillingswahl mit zwei Stimmen belassen. Vor allem dürfen auch weiterhin „mehr Stücke als Kuchen“[3] verteilt werden. Direktmandate ohne Wahlkreis wären wie Kuchenstücke ohne Kuchen. Es kann also niemals mehr Wahlkreis-Sieger als Wahlkreise geben. Die Wahlleiter müssen sich daher fragen lassen, ob sie sich verzählt haben, weil sie zu den 299 gewöhnlichen Direktmandaten die leidigen „Überhänge“ regelmäßig hinzuzählen – obwohl es für die vermeintlichen „Überhangmandate“ einfach keine überzähligen Wahlkreise gibt.

Der Wahlgesetzgeber muss also das bisherige Wahlrecht vollkommen erneuern und vor allem sicher­stellen, dass nicht mehr Mitglieder im Bundestag Sitz und Stimme haben als dort Plätze zur Verfügung stehen.

Weder überzählig noch unzulässig

Niemand kann physisch zweimal im Bundestag sitzen. Zu sogenannten „Überhängen“ kann es nur deshalb kommen kann, weil in Deutschland nicht mit einer, sondern zwei Stimmen gewählt wird. Die Ampelkoalition will trotzdem diesen typisch deutschen Sonderweg der Zwei-Stimmen-Wahl nicht ver­lassen, also an der „mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ unbedingt festhalten,[4] die all­gemein als „personalisierte“ Verhältniswahl bezeichnet wird. Zu den 299 Direktmandaten kommen die sog. „Überhangmandate“ hinzu, obwohl es jenseits der 299 Wahlkreise überhaupt keine überzähligen Direktmandate geben kann und deshalb ein Rechtsgrund für irgendwelche Ausgleichsmandate fehlt. Und ohne Überhang kein Ausgleich.[5] Man kann es drehen und wenden wie man will: Es werden mehr Mandate vergeben als im Bundestag Sitze zur Verfügung stehen. Das amtliche Endergebnis, das die Wahlleiter in den letzten drei Wahlen verkündet haben, konnte und kann deswegen keinen Bestand haben. Wenn die Zahl der Mitglieder im Bundestag als eine den Wahlleitern vom Gesetzgeber vorgege­bene, feste Größe aufzufassen ist, kann es keine „Überhänge“ geben.

Konkret haben die Wahlleiter 2013 zu den 299 Direktmandaten trotzdem 4 fälschlich sogenannte „Überhänge“ zum Wahlergebnis hinzugezählt, was zu allem Überfluss dann zu 29 machgeschobenen Ausgleichsmandaten geführt hat. Der Ausgleich überstieg den vermeintlichen „Überhang“ damals um das Siebenfache! Eine Zumutung für jede Logik! 2017 waren von den Wahlleitern jenseits der 299 Wahlkreise 46 imaginäre „Überhangmandate“ hinzugemogelt worden, die von ihnen diesmal sogar durch 65 Ausgleichsmandate egalisiert wurden. 2021 verstiegen sich die Wahlleiter dazu, um – außer­halb der 299 Wahlkreise – einen irrealen „Überhang“ von 34 Mandaten aus der Luft zu greifen und diesmal sogar um 104 zusätzliche Ausgleichsmandate nachträglich aufzustocken.

Kurzum gab es 2013 statt 598 insgesamt 631 Mitglieder des Bundestags. Nach 2017 saßen wiederum nicht 598, sondern diesmal 709 und 2021 sogar 736 Volksvertreter im Berliner Parlament. Dieser Unfug führte endlich doch zu einem völligen Umsturz der herrschenden Meinung. Selbst die Kommission zur Reform des Wahlrechts hat sich – zurecht – für ein Wahlverfahren ganz ohne Überhang und ohne Aus­gleich ausgesprochenen und als Reformvorschlag am 30.8.2022 mehrheitlich beschlossen.[6] Das ist richtig und gut, und diese überraschende Abkehr von der herrschenden Meinung wäre eigentlich das Ende der ganzen Debatte. Doch will die Ampel-Koalition leider nicht die notwendigen gesetzgeberi­schen Konsequenzen ziehen. Sie hält vielmehr „eisern“ an dem bisherigen Wahlverfahren fest. Und die vermeintlichen „Überhänge“ sollen künftig dadurch aus der Welt geschafft werden, dass den Wahlkreis-Siegern mit den geringsten Stimmenanteilen der Einzug in den Bundestag verwehrt wird.

Die Wähler gehen also zur Wahl. Doch sollen einige der in ihrem Wahlkreis ordnungsgemäß gewählte Volksvertreter das vom Wahlvolk erhaltene Direktmandat nicht antreten dürfen…? Zu diesem rabiaten Eingriff in das Wahlergebnis kommt erschwerend hinzu, dass nach geltendem Recht ursprünglich eine Bestandsgarantie für die 299 Direktmandate entgegenstand.[7] In den Wahlkreisen errungenen Direkt­mandate sollten danach einer Partei auch dann erhalten bleiben, wenn sie nicht durch Listenplätze ge­deckt sind. Gewiss, das war gestern. Heute will der Gesetzgeber von einer Bestandsgarantie für „Über­hänge“ nichts mehr wissen.

Zwei Stimmen sind zwei Wahlen

Zwei getrennte Stimmen sind zwei getrennte Wahlen. Und beide Wahlen stehen unabhängig und gleich­berechtigt nebeneinander. Irgendwelche Unterschiedszahlen zwischen Direktmandaten und Listen­plätzen auf Landesebene würden bundesweit auf keinen Fall zu mehr als 299 Wahlkreisen führen. Denn die Zahl der Wahlkreise war nie eine variable, sondern schon immer eine feststehende Größe. Sind die Wahllokale geschlossen und beide Stimmen ausgezählt, gibt es – seit 2002 – genau 299 Wahlkreis-Sieger, die allein aus den Erststimmen entstehen. Die Zweitstimmen sind für die Direktmandate irrelevant. Und wer seinen Wahlkreis mit einfacher Mehrheit gewonnen hat, dem steht der Sieg natürlich auch zu. – Wahlkreis-Sieger, die zu Unrecht gesiegt haben, die gibt es nicht!

Wie gesagt: Sind die Erststimmen ausgezählt, verbleiben genau 299 Listenplätze, die aber aus den Zweitstimmen hervorgehen. Diese 299 Listenplätze haben mit den 299 Direktmandaten nichts zu tun und werden im Verhältnis ihrer Bevölkerungsanteile zuerst auf die jeweiligen Bundesländer und danach gemessen an ihren Zweitstimmen-Anteilen auf die jeweiligen Landesparteien aufgeteilt. Werden also beide, grundverschiedenen, aber gleichberechtigten Stimmen nacheinander ausgezählt ­ und werden zu­erst die 299 Wahlkreis-Sieger ermittelt ­ dürfen danach mit der Zweit-, der Haupt- oder Landesstimme auf die Landesparteien zusammengenommen nicht mehr als 299 Listenplätze vergeben werden. Die Wahlleiter können nicht mehr Wahlkreis-Sieger ermitteln als es Wahlkreise gibt. Sie müssen sich aber auch weigern, danach mehr als 299 Listenplätze an die Landesparteien zu vergeben, die bei einer festen Gesamtzahl von 598 Mitglieder des Bundestages noch verfügbar sind. Nur so geht die Rechnung auf. Alle unsinnigen Vorschriften, die dem entgegenstehen, sind von den Wahlleitern bei der Anwendung des BWahlG zu übergehen und vom Gesetzgeber zu streichen. – Doch beides liegt in weiter Ferne.

Föderatives Wahlverfahren

„Die Bundesrepublik Deutschland ist (…) ein Bundesstaat.“ So will es das Grundgesetz. Ähnlich wie in den USA gilt auch in Deutschland ein föderatives Wahlverfahren. Die 598 Mitglieder des Bundes­tages verteilen sich – gemessen an ihren jeweiligen Bevölkerungsanteilen – auf 16 Bundesländer. Kurz­um gibt es im Bundestag 7 Saarländer, 13 Hamburger; usw. usf. Aus den großen Flächenstaaten kommen 93 Bayern und 127 Nord-Rheinländer oder Westfalen. Es liegt auf der Hand, dass die jeweiligen Sitz­kontingente der Länder vorgegeben sind und der Länderproporz nicht einfach über den Haufen geworfen werden darf. Deshalb gibt es keine Erklärung dafür, dass dem Saarland ein feststehendes Kontingent von 7 Abgeordneten zusteht, im Bundestag aber 9 Saarländer Sitz und Stimme haben. Hamburg darf 13 Mitglieder in das Berliner Parlament wählen. Tatsächlich sitzen dort aber 16 Hamburger. Der Freistaat Bayern verfügt über ein Landeskontingent von 93 Landsleuten. Es sind im Bundestag aber 116 Bayern anzutreffen. Aus NRW mit einem Anteil von 127 Plätzen kommen tatsächlich 142 Nord-Rheinländer und Westfalen. – Es führt einfach kein Weg daran vorbei: Das geltende Wahlgesetz ist ein Narrenschiff!

Gewählt wird in 299 Wahlkreisen, die auf die einzelnen Länder aufgeteilt sind. Die 299 verbleibenden Listenplätze werden „en bloc“ über die Landeslisten der Parteien besetzt. Eine fakultative Zusammen­fassung zu Bundeslisten gab es, gibt es aber nicht mehr. Die Vorschrift des § 7 BWahlG wurde 2011[8] auf Vorschlag des BVerfG[9] aufgehoben. Bundeslisten gehören also der Vergangenheit an. Zu einem föderativen Bundesstaat gehört ein föderatives Wahlverfahren. Das Wahlergebnis muss deshalb länder­weise ausgezählt werden. Die jeweiligen Landessitzkontingente sind endgültig und dürfen nicht über­schritten werden. Die Wahlleiter stellen daher zuerst die Wahlkreis-Sieger der einzelnen Länder fest. Aus den Landeslisten der Parteien können danach nicht mehr Listenplätze hinzukommen, als die grund­rechtlich garantierten Landessitzkontingente hergeben: also 7 Saarländer. – Punk! 13 Hamburger. – Punk! Usw. …  93 Bayern. – Punkt! Und 127 Nord-Rheinländer oder Westfalen. – Punkt

Wie die Präsidenten des Bundestages gehören auch die Wahlleiter zur politischen Elite des Landes. Sie sind (nach § 2 Abs. 2 WahlprüfG) nicht nur befugt, sondern auch befähigt, den Rechtsweg einzuschlagen und können beim Bundestag eine Wahlprüfung in Gang zu bringen. Diese ist zunächst Sache des Bundestages. Gegen seine Entscheidung ist danach die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig. (Vgl. Art. 41 GG) Trotzdem hat bisher kein Präsident des Bundestages und kein Wahlleiter auch nur im Traum daran gedacht, den Rechtsweg zu beschreiten und von dem Grundrecht der Wahl­prüfung Gebrauch zu machen. Das gilt natürlich auch für die gegenwärtige Bundestagspräsidentin, Bärbel Bas. Sie muss wenigsten die 104 Abgeordneten mit Ausgleichsmandat aus dem Bundestag hin­auskomplimentieren, weil sie den Wählern beim Urnengang von 2021 erst nach der Wahl vom Wahl­leiter hoheitlich aufoktroyiert worden sind. Leider duldet auch Bärbel Bas, dass im Bundestag mehr Mitglieder Sitz und Stimme haben, als durch Urwahl vom Wahlvolk selbst durch eigenhändige Kenn­zeichnung eines Stimmzettels gewählt worden sind. Den nachgeschobenen Ausgleichsmandaten fehlt jede demokratische Legitimation. Wahlen werden ausgezählt, niemals aber ausgeglichen. Wer das Wahlergebnis ausgleicht, der verfälscht es auch!

Die Personenwahl ein Verfassungsgebot?

Als 1949 das Grundgesetz aus der Taufe gehoben wurde, wollte niemand zu den Weimarer Verhältnis­sen zurückkehren. Anders als in Art. 22 der Weimarer Reichsverfassung ist die Verhältniswahl daher nicht in das Grundgesetz übernommen worden. Zurecht bezeichnet Karl-Ludwig Strelen die Wahlhand­lung als „Personenauswahl-Entscheidung“.[10] Johann Hahlen spricht von dem „nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG“ – verfassungsrechtlich – „verbürgten Prinzip der Personenwahl“.[11] Die Personenwahl ist dem­nach ein Gebot der Verfassung, die Verhältniswahl ist es nicht. Sie kann daher nicht die „Hauptstimme sein. Umgekehrt sagt das BVerfG ausdrücklich: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“[12] Die Koalitionsregierung will umgekehrt dagegen die grundrechtlich verbürgte Erststimme mit der Zweitstimme umwerfen. Trotz allem will sie am bisherigen Verfahren festhalten, zu den 299 Direkt­mandaten also auch künftig die fälschlich sog. „Überhangmandate“ zum Wahlergebnis hinzuzählen, obwohl es für sie es gar keine Wahlkreise gibt und auch nicht geben kann. „Überhangmandate“ im Sinn von überzähligen Direktmandaten, die gibt es einfach nicht. Und was es nicht gibt, kann man nicht abziehen.

Bleibt es trotz allem doch bei der „mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“,wie sie bisher in § 1 BWahlG ausdrücklich angeordnet wurde, muss die Verhältnis- durch die Personenwahl wenig­stens lückenlos personifiziert werden. Diese unerlässliche Personifizierung ist nur möglich, wenn die Zahl der Direktmandate mit der Zahl der Listenplätze bundes- wie länderweise übereinstimmt. Die Zahl der Wahlkreise kann daher nicht von der Sollzahl der 598 Mitglieder des Bundestages abweichen. Alle 299 Wahlkreise müssen also halbiert und damit in ihrer Anzahl verdoppelt werden, damit ausnahmslos alle Abgeordneten überhaupt mit beiden Stimmen gewählt werden können – vor allem aber auch mit beiden Stimmen gewählt werden müssen. Bei 598 Mitgliedern des Bundestages muss es also 598 Wahl­kreise geben. Die Wahlkreise werden demnach viel kleiner, die Chancen ein Mandat zu erringen folglich viel größer, schon weil es viel mehr Wahlkreise gibt und pro Direktmandat viel weniger Stimmen nötig sind.

Gewiss, ein Doppel- oder Zwillingswahl mit zwei Stimmen ist umständlich, bleibt im Prinzip aber machbar, falls es gelingt, dabei alle verfassungsrechtlichen Klippen zu meiden. Wenn man unbedingt will, kann man also ausnahmslos alle 598 Abgeordneten unabhängig voneinander auch zweimal wählen, einmal mit der Erststimme und noch einmal mit der Zweitstimme. Zweimal wählen ist machbar, aber einmal ist natürlich genug! Die Regierungskoalition sieht das nicht ein und bevorzugt in ihrem Entwurf zur Reform des Wahlrechts die sog. „verbundene Mehrheitsregel“ für beide Stimmen. Sollten in einem Bundesland die Listenplätze einer Landespartei hinter den von ihr erzielten Direktmandaten zurück­bleiben, soll wegen einer Unterzahl die Überzahl annulliert werden. Dieser widersinnige Eingriff in das Wahlergebnis sorgt für Aufruhr bei den Wahlkreis-Siegern im Deutschen Bundestag, vor allem in den großen Städten, die ihr Direktmandat zuerst verlieren würden, weil auf sie regelmäßig die geringsten Erststimmen-Anteile entfallen und sie deshalb zuerst „ins Gras“ beißen dürfen. Und in der Tat bleibt das ein abenteuerliches Unterfangen, um höflich zu bleiben.

In Bayern gibt es zum Beispiel 46 Wahlkreise. In 45 davon hat die CSU bei der letzten Bundestagswahl den Sieg errungen. Und 11 von den 45 Wahlkreis-Siegern wird ihr ein vermeintliches „Überhang­mandat“ angedichtet, was der CSU angeblich nicht zustehen könne, weil ihr 2021 das politische seltene Kunststück gelang, über die 34 Listenplätze hinaus, sogar noch 11 zusätzliche Direktmandate zu er­zielen. Nach neuem Recht wären diese 11 Wahlkreis-Sieger 2021 aus dem Bundestag herauskatapultiert worden und diejenigen mit den schwächsten Erststimmen-Anteilen zuerst. Die CSU-Landesgruppe hätte so ein Viertel ihrer Mitglieder verloren, … wenn da nicht die Wähler wären, denen man nicht einfach ihre sogar verfassungsrechtlich garantierte Erststimme wegnehmen kann.

Die Regierungskoalition hat ihren verfassungswidrigen Reformvorschlag ohne die Wähler gemacht. Und natürlich sagen die selbstbewussten Bürger des Freistaates Bayern laut und deutlich: Die Wahlen für den Bund sind Ländersache. Gewählt wird mit Landeslisten. Die Landessitzkontingente können in keinem Land überschritten werden. Das Staatsvolk tut seien Willen länderweise in Wahlen kund. Also zurück zur Volkssouveränität. Und Hände weg vom Wahlergebnis!

Parteilosen ist die Zweitstimme versagt

Erschwerend kommt hinzu: Nach den Plänen der Ampel würde es überhaupt keine unabhängigen Abgeordneten mehr geben, weil parteiunabhängige Einzelbewerber ja nur mit der Erststimme gewählt werden können. „Landeslisten können nur von Parteien eingereicht werden.“ (Vgl. 27 BWahlG) Parteilosen Einzelbewerbern ist die Zweitstimme also verschlossen. Das sich zwangsläufig ergebende und fälschlich sogenannte „Überhangmandat“ der Einzelbewerber kann also gar nicht durch das Ergebnis aus der Liste einer Landespartei gedeckt sein. Parteilose können nicht von Parteien aufgestellt werden, weil sie ja gar keiner Partei angehören.

Somit stellt sich nicht nur für die bayerische CSU, sondern vor allem auch für die parteifreien Einzel­bewerber die Frage nach dem Rechtsweg, wenn die Ampel ihre Reform tatsächlich im Bundestag beschließen sollte. Die Wahlprüfungs-Beschwerde nach Art.41 GG bietet wenig Aussicht auf Erfolg und käme viel zum spät. Dafür müsste man erst die nächste Wahl abwarten und diese dann anfechten. Die wahlberechtigten deutschen Staatsbürger können aber – aus eigener Betroffenheit – nach Art 93 Absatz 4 a Grundgesetz – mit einer Frist von einem Jahr Verfassungsbeschwerde gegen das neue Gesetz führen.[13]

„Das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts ist kostenfrei. (§ 34 BVerfGG) Es können aber Miss­brauchsgebühren bis zur Höhe von 2600 Euro verhängt werden. Die mündliche Verhandlung ist an­waltspflichtig.[14] Nur im Erfolgsfall der Beschwerde werden entstandenen Kosten ganz oder teilweise erstattet.[15] (§ 34 a BVerfGG) Außerdem gibt es auf Antrag eine staatliche Prozesskosten-Hilfe.

Das Fazit

Als grundrechtlich gesicherte Maxime für das gesetzgeberische Handeln bleibt festzuhalten:

– Parteilose Einzelbewerber können von vorne herein nicht mit der Zweitstimme gewählt werden. Fallen die sog. „Übergänge“ weg, ist ihnen der Zugang zum Bundestag versperrt.

– Die Sollzahl der 598 Sitze im Deutschen Bundestag ist verbindlich vorzugeben. Das liegt in der Natur der Sache.

– Überhangmandate gibt es nicht. In das Parlament können nicht mehr Wahlkreis-Sieger einziehen als Wahlkreise zur Verfügung stehen.

– Die Zahl der Wahlkreise muss auf die Sollzahl der 598 Mitglieder des Bundestages angehoben werden, damit alle Abgeordneten mit beiden Stimmen gewählt werden können.

– Die Personenwahl ist ein Verfassungsgebot. Eine bloße Parteienwahl hält sogar das Bundesverfas­sungsgericht für unzulässig.

– Deutschland ist ein Bundesstaat: Gewählt wird mit Landeslisten. Bundeslisten gab es, gibt es aber nicht mehr.

– Das Wahlergebnis ist länderweise auszuzählen. Die Landessitzkontingente sind verbindlich.

– Ausgleichssitze sind Zusatzsitze. Ihnen fehlt die demokratische Legitimation.

– Wahlen werden ausgezählt, niemals aber ergänzt, verbessert, und schon gar nicht ausgeglichen.

– Wer das Wahlergebnis ausgleicht, der verfälscht es auch.

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*) Der Autor lebt in München und hat unter www.manfredhettlage.de 225 Beiträge zum Wahlrecht veröffentlicht. 2018 erschien in 2. Auflage das Buch „BWahlG Gegenkommentar“.

[1]  Ausgenommen die Niederlande ist die Mitgliederzahl in den meisten Staaten eine feste Größe: USA: 435 Mitglieder im Repräsentantenhaus und 100 Senatoren; Frankreich: 577 Abgeordnete; Italien: 400 Mitglieder in der „Camera dei Deputati“ und 200 Senatoren etc.

[2]  Vgl. Schreiber/Strelen, BWahlG 2017, § 6, Rdnr. 29: „Ausgleichssitze sind Zusatzsitze.“

[3]  Vgl. Hettlage, ZRP 3/2012, 87 ff: „Mehr Stücke als Kuchen“.

[4]  Vgl. Bericht der Kommission zur Reform des Wahlrechts BT-Drucksache 20,3250.

[5]  Nach der abwegigen Auffassung von Schreiber/Strelen, BWahlG 2017, § 6, Rdnr. 29, müsse der Ausgleich auch dann vorgenommen werden, wenn keine Überhangmandate entstanden sind.

[6]  Vgl. Kommission zur Reform des Wahlrechts, BT-Drucksache 20/3250. – Die Kommission widerspricht damit aber auch dem BVerfG v. 25.7.2012, BVerfGE 131, 116, dass 15 „Überhänge“ ohne weiteres zulässig wären.

[7]  Vgl. § 6 Abs. 4 Satz 2 BWahlG.

[8]  Vgl. 19. BWahl-Änderungsgesetz v. 25.11.2011 (BGBl I, S. 2313).

[9]  BVerfG 121, 266 (315).

[10] Schreiber/Strelen BWahlG 2017, § 1, Rdnr. 5.

[11] Schreiber/Hahlen, BWahlG 2017, § 48, Rdnr. 13.

[12] Vgl. BVerfG v. 26.2.1998, BVerfGE 97, 317 (323).

[13] Es können aber Missbrauchsgebühren bis zur Höhe von 2600 Euro verhängt werden. (34 BVerfGG) Die mündliche Verhandlung ist anwaltspflichtig. Im Erfolgsfall der Beschwerde werden auch die entstandenen Kosten für das Anwaltshonorar ganz oder teilweise erstattet. (§ 34 a BVerfGG). die staatliche Prozesskosten-Hilfe.

[14] Vgl. § 22 BVerfGG.

[15] Vgl. § 34 a, Abs 2 BVerfGG

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