Herrschaft einer Minderheit
In Thüringen ist die Vorstellung zusammengebrochen, die Verhältniswahl würde den Wählerwillen besser repräsentiert als die Direktwahl. Die FDP konnte bei der Landtagswahl vom Oktober 2019 – mit gerade mal 70 Stimmen – die Fünf-Prozent-Hürde überwinden. Eine Fünf-Prozent-Partei stellt mit Thomas Kemmerich (FDP) jetzt den Ministerpräsidenten des Landes. Das wäre in Großbritannien völlig undenkbar und geht offensichtlich am Wählerwillen vorbei.
Nach dem sog. „Westminster-Modell“ wird über die Mitglieder des Unterhauses nach dem Grundsatz „one man one vote“ – pro Kopf eine Stimme – abgestimmt. Wer die meisten Stimmen erhält ist gewählt. Es genügt also die einfache Mehrheit. Die absolute Mehrheit ist nicht erforderlich. Bei den Wahlen kann es also passieren und passieart auch, dass eine Partei die Mehrheit der Sitze im Unterhaus erlangt, ohne auch die absolute Mehrheit der Stimmen errungen zu haben.
Es gilt allgemein als demokratisch, wenn die stärkste Partei den Ministerpräsidenten stellt. In Thüringen ist es umgekehrt. Hier kommt die schwächste Partei zum Zuge. Der neue Ministerpräsident in Thüringen, Thomas Kemmerich, hat nicht nur keine absolute Mehrheit der Stimmen, seine Partei hat auch keine Mehrheit unter den Mandaten. Der Landtag hat 90 Mitglieder. Gerade mal 5 davon kommen aus den Reihen der FDP.
Gewiss, das ist ein Extremfall. Doch die stärkste Partei wird oft genug durch eine sog. Koalition aus Verlierer-Parteien von der Macht ausgeschlossen. Das ist gängige Praxis, die 2014 z.B. schon Bodo Ramelow in Thüringen an die Macht gebracht hat. Bei der Landtagswahl 2014 war die CDU mit 34 von insgesamt 91 Mandaten viel stärker als die Linke mit nur 28. Mit dem Wählerwillen hatte das schon damals nichts zu tun, wurde aber von niemandem kritisiert.
Die Direktwahl ist viel demokratischer als die sog. „Verhältniswahl“, bei der in den Koalitionsverhandlungen der Wählerwille auf dem Kopf gestellt werden kann und auch auf dem Kopf gestellt wird, wie sich in Thüringen erneut gezeigt hat. Neuwahlen ändern daran nichts. Würde man in Thüringen über alle 88 Mitglieder des Landtags in 88 Wahlkreisen unmittelbar abstimmen, wie es das Grundgesetz in Art. 28 verlangt, könnte die FDP niemals den Ministerpräsidenten stellen.