Wer mit der Erststimme gewählt wurde …
… kann nur durch jemand ersetzt werden, der selbst mit der Erststimme in das Parlament gelangt ist. Von den Abgeordneten werden 299 in Wahlkreisen gewählt. So will es § 1 Abs. 2 BWahlG. Also sollten auch 299 Abgeordnete mit Direktmandat im Bundestag anzutreffen sein. So ist es aber nicht. Seit der Wahl vom 22.9.2013 sind 22 Abgeordnete aus dem Bundestag ausgeschieden. Davon waren 14 aus einem der 299 Wahlkreise als unmittelbar gewählte Sieger hervorgegangen. Über die starren Landeslisten der Parteien, deren Reihenfolge von den Wählern nicht beeinflusst werden kann, sind dagegen 8 inzwischen ausgeschiedene Abgeordnete indirekt in den Bundestag gewählt worden. Weil es eine unmittelbare Auswahl aus starren Landeslisten nicht gibt, entsteht daraus ein ernstzunehmendes Verfassungsproblem. Das hier aber nur neben bei.
Erschwerend kommt die Nachfolgeregelung hinzu. Denn § 48 Abs 1 BWahlG ordnet die „Listennachfolge“ an. Wer allein über die Zweitstimme in den Bundestag gewählt wurde, sei es dass er den Sieg im Wahlkreis verfehlt, sei es dass er gar nicht in einem Wahlkreis kandidiert hatte, wird durch einen Nachrücker von der „Reservebank“ der Landesliste ersetzt, der noch nicht zu Zuge gekommen ist. Soweit so gut. Anders liegen die Dinge, wenn jemand aus dem Bundestag ausscheidet, der in einem Wahlkreis gewonnen hat. Hier findet keine Nachwahl statt, wie überall auf der Welt. Hier wird der ausscheidende Wahlkreis-Sieger durch einen Bewerber für einen Listenplatz ersetzt, der noch nicht zum Zuge gekommen ist. Im Ergebnis wird also ein Direktmandat durch einen Listenplatz ausgetauscht. Dies obwohl das BVerfG mit der Nachrücker-Entscheidung v. 26.2.1998, BVerfGE 97, 317 die Listennachfolge allerdings nur im Fall von Überhängen – „pars pro toto“ – mituntersagt hat. Die Entscheidung wird kritisiert, war aber richtig. Doch wegen der übertriebenen richterlichen Zurückhaltung, darf man sie als missverständliches „Scheuklappen-Urteil“ bezeichnen.
Und so sieht das dann in der Praxis aus:
Ausgeschieden/ verstorben am: |
Abgeordnete/r (* nur mit Listenplatz) |
Listen-Nachfolger/in (alle nur mit Listenplatz) |
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30.09.2016 | * Peer Steinbrück, SPD | Bettina Bähr-Losse, SPD | |
31.08.2016 | * Petra Hinz, SPD | Jürgen Coße, SPD | |
06.07.2016 | Steffen Kampeter, CDU/CSU | Karl-Heinz Wange, CDU/CSU | |
04.06.2016 | Reinhard Grindel, CDU/CSU | Kathrin Rösel, CDU/CSU | |
04.06.2016 | Thomas Strobl (Heilbronn), CDU/CSU | Iris Ripsam, CDU/CSU | |
21.10.2015 | Dirk Becker, SPD | Petra Rode-Bosse, SPD | |
01.10.2015 | Christina Kampmann, SPD | Elfi Scho-Antwerpes, SPD | |
05.09.2015 | Katherina Reiche, CDU/CSU | Sitz bleibt unbesetzt | |
17.07.2015 | Dr. Carsten Sieling, SPD | Sarah Ryglewski, SPD | |
13.07.2015 † | * Philipp Mißfelder, CDU/CSU | Volker Mosblech, CDU/CSU | |
21.05.2015 | Dr. Hans-Peter Bartels, SPD | Dr. Karin Thissen, SPD | |
01.04.2015 | Dr. Peter Gauweiler, CDU/CSU | Iris Eberl, CDU/CSU | |
03.03.2015 | * Agnes Alpers, Die Linke | Birgit Menz, Die Linke | |
01.01.2015 | Ronald Pofalla, CDU/CSU | Thorsten Hoffmann (Dortmund), CDU/CSU | |
13.12.2014 † | Andreas Schockenhoff, CDU/CSU | Ronja Schmitt, CDU/CSU | |
12.12.2014 | * Wolfgang Tiefensee, SPD | Detlef Müller (Chemnitz), SPD | |
12.11.2014 | Sabine Bätzing-Lichtenthäler, SPD | Angelika Glöckner, SPD | |
07.11.2014 | * Diana Golze, Die Linke | Norbert Müller, Die Linke | |
01.07.2014 | Annette Schavan, CDU/CSU | Waldemar Westermayer, CDU/CSU | |
11.02.2014 | Sebastian Edathy, SPD | Gabriele Groneberg, SPD | |
25.01.2014 | * Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen | Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen | |
01.01.2014 | * Reinhold Jost, SPD | Christian Petry, SPD |
Quelle: https://www.bundestag.de/bundestag/abgeordnete18/ausgeschiedene
* ) Ohne Direktmandat, nur mit Listenplatz. Kursiv: Mit Direktmandat und mit Listenplatz (nach § 6, Abs 1, Satz 3 BWahlG).
Seit der Wahl vom 22.9.2016 sind, wie schon gesagt, 22 Abgeordnete aus dem Bundestag ausgeschieden. Am Anfang der 18. Legislaturperiode waren die 299 in Wahlkreisen direkt gewählten Abgeordneten noch vollzählig. Mitten unter ihnen versteckten sich allerdings 4 Wahlkreis-Sieger mit einem sog. „Überhangmandat“. Ihnen wurde zur Last gelegt, ihre Partei habe zu wenige Listenplätze erlangt. Freilich konnte es nicht gelingen, die mutmaßlichen „Übeltäter“ konkret zu benennen und aus dem Bundestag zu entfernen, weil sie alle ohne Ausnahmen mit der Erststimme ordnungsgemäß gewählt wurden und zu Recht in den Bundestag eingezogen sind. Deshalb hat der Bundeswahlleiter amtlich festgestellt, dass allen 299 direkt gewählten Abgeordneten ohne jede Ausnahme das von ihnen wohlerworbene Direktmandat zweifelsfrei zusteht. Überzählige Abgeordnete mit Direktmandat, die im Bundestag nichts verloren haben – so etwas gibt es nicht.
Trotzdem bleibt es die Meinung nahezu aller, dass eine Differenz zwischen Direktmandaten und Listenplätzen bei einer Landespartei nicht nur hässlich, sondern rechtlich unzulässig sei. Nur das Verfassungsgericht sieht das anders und hält unbeirrt daran fest, Überhänge seien zulässig, solange es nicht zu viele werden. Gleichwohl bleibt es herrschende Meinung, Überhänge seien unzulässige Direktmandate. Ganz langsam wendet sich aber das Blatt und vereinzelt wird erkannt, dass im Fall von Überhängen nicht zu viele Direktmandate entstehen, sondern zu viele Listenplätze vergeben werden. Überhänge sind keine konkreten Mandate, und schon gar nicht irgendwelche Mandate, die einem direkt gewählten Abgeordneten in Wahrheit gar nicht zustehen.
Keine Direktmandate sondern Listenpätze
Überhangmandate sind Direktmandate ohne Listenplatz. Das trifft zu, und so sieht es offenbar auch Ralph Backhaus in einem Aufsatz: „Die Überhangmandate vor dem Bundesverfassungsgericht“, FestSchr. F. Friedrich Bohl, Hrsg. Gilbert H. Gornig und Philipp Stompfe, S. 259 ff; zugänglich auch in: Marburg Law Review (ML) 1/2015, 18 ff (20). Backhaus führt dort aus: „Überhangmandate sind (…) keine Direktmandate sondern Listenmandate.“ Doch die fehlenden Listenplätze lösen sich nicht in Rauch auf. Sie wurden vielmehr von anderen Landesparteien errungen, denen es nicht gelang, die dazugehörende Direktmandate zu erzielen. So gesehen erscheint auch die „Listennachfolge“, wie 48 BWahlG niedergelegt worden ist, in einem vollkommen anderen Licht.
Es gibt 299 Wahlkreise. Deshalb müssen während der ganzen Legislaturperiode auch 299 direkt gewählte Abgeordnete im Bundestag anzutreffen sein. Wenn man nachzählt sind dort aber seit Juli 2016 nur 285 direkt Abgeordnete mit Direktmandat auszumachen. Im Laufe der Legislaturperiode tritt bei den Direktmandaten eine gewisser Schwund, eine Abschmelzung ein. Diese findet ihr Gegenstück in dem Aufwuchs bei den Listenplätzen, die ihrerseits auf 355 angestiegen sind. Diese 355 Mitglieder des Bundestags wurden über starre Landeslisten gewählt, aus denen die Wähler keine Auswahl treffen konnten. Von einer unmittelbaren Wahl, wie sie Art. 38 GG verlangt und wie sie Strelen/Schreiber (BWahlG, 2013, § 1, Rdnr 5) zutreffend als „Personenauswahl-Entscheidung“ beschreibt, kann also keine Rede sein. Aber das steht auf einem anderen Blatt.
Für die Listenplätze und die Direktmandate gilt das Prinzip der Sortenreinheit. Bei einer Sedisvakanz dürfen daher die Direktmandate grundsätzlich nicht gegen Listenplätze ausgetauscht werden. Eine solche Vermengung von Erst- und Zweitstimme ist unzulässig. Wer mit der Erststimme gewählt wurde, kann nicht durch jemand ersetzt werden, der selbst nicht mit der Erststimme, sondern mit der Zweitstimme in das Parlament einziehen würde. Anders würde man hinnehmen, dass im Bundestag Abgeordnete sitzen, die nicht mit der Erststimme, aber auch nicht mit der Zweitstimme gewählt wurden, weil die Nachrücker auf der Reservebank warten müssen und die Liste eben gerade keine Plätze mehr hergibt, um den zusätzlichen Bedarf an Austauschmandaten zu decken. Mit einer klassischen Nachwahl in den vakanten Wahlkreisen lässt sich demnach am einfachsten erreichen, dass während der ganzen Legislaturperiode grundsätzlich 299 Abgeordnete mit Direktmandat im Bundestag sitzen – das natürlich mit allen parteipolitischen Risiken, die eine Nachwahl mit sich bringt, nämlich dass die Wähler im Wahlkreis den Wechsel wollen.