Landtagswahl in Bayern

Dr. Manfred C. Hettlage, Nibelungenstr. 22,   80639 München,

An das Bundesverfassungsgericht Postfach 1771 76006 Karlsruhe

Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. (1) Ziff. 4 a GG

der beteiligten Beschwerdeführer:  1.) Dr. Manfred C. Hettlage,   Nibelungenstr. 22, 80639 München (Gruppenbevollmächtigter); 2.) Dr. Ursula Offergeld-Hettlage, Nibelungenstr. 22, 80639 München; 3.) Kampka, Joachim,   Nürnberger Str. 24, 80637 München; 4.) Dr. Mertel, Robert,   Kindermannstr. 1, 80637 München; 5.) von Braunmühl, Gero,   Taxisstr. 25, 80637 München; 6.) Köhler, Thomas,   Andreèstr. 12, 80634 München. 

Vollmacht

Der Beteiligte zu 1.), Dr. Manfred C. Hettlage, wird hiermit von den fünf weiteren Beteiligten durch Endunterschrift zu diesem Schriftsatz als Gruppenbevollmächtigter bestätigt und damit beauftragt, das Verfahren auch vor das Bundesverfassungsgericht zu tragen. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof (ByVerfGH) hatte die Gruppenvollmacht anerkannt.

Im Falle einer mündlichen Verhandlung wird der Bevollmächtigte dem Gericht einen zugelassenen Rechtsbeistand benennen.

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist der Beschluss des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes v. 28. Oktober 2019. Mit diesem Beschluss hatte der ByVerfGH eine Wahlprüfungs-Beschwerde der sechs Beteiligten abgelehnt. Hier handelt es sich somit um eine Verfassungs-Beschwerde im Sinne von Art. 93 Abs. (1) Ziff. 4a Grundgesetz.

Befähigung zur Verfassungsbeschwerde

Die sechs Beschwerdeführer sind als natürliche Personen und deutsche Staatsbürger durch das Grund­gesetz geschützt und daher zur Führung einer Verfassungsbeschwerde befähigt.

Befugnis zur Verfassungsbeschwerde

Die sechs Beschwerdeführer waren berechtigt, an der Bayerischen Landtagswahl v. 14. Oktober 2018 teilzunehmen. Sie waren im Wählerverzeichnis eingetragen. Sie sind als Staatsbürger der Bundesrepu­blik selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Rechten aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschlands verletzt. Dabei geht es insbesondere um Rechte, die in Art. 28 GG niedergelegt sind.

Form und Frist

Die Schriftform wurde eingehalten. Die Beschwerde enthält eine substantiierte Begründung im Sinne des § 92 BVerGG: Im nachfolgenden Antrag und in der Begründung wird Art. 28 GG als das Verfas­sungsrecht benannt, das die Grundlage für die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. (1) 4 a) GG bildet. Die behauptete Rechtsverletzung ist in hohem Maße mandatsrelevant. Die Beschwerde erfolgte innerhalb der in § 93 Abs. (1) Satz 1 BVerfGG angeordneten Frist.

Zulässigkeit

Die Führer der Verfassungsbeschwerde haben gegen die Landtagswahl in Bayern v. 14. Oktober 2018 beim Bayerischen Landtag Einspruch eingelegt und eine Wiederholung der Landtagswahl unter einem verfassungskonformen Landeswahlgesetz beantragt. Der Landtag hat den Einspruch mit Beschluss v. 8. Mai 2019 (Drucksache 18/1885) zurückgewiesen. Auf die vom Wahlprüfungsausschuss des Land­tags erstellte Beschlussempfehlung wird hingewiesen. Gegen den Beschluss des Landtags haben die Einspruchsführer am 31. Mai 2019 beim ByVerfGH Wahlprüfungs-Beschwerde eingelegt (Az. Vf. 74-III-18). Die Entscheidung erfolgte durch Beschluss v. 28.10.2019. Dieser Beschluss des bayerischen Verfassungsgerichts ist im Internet samt Pressemitteilung des ByVerfG zugänglich und liegt auch als Ausdruck in Anlage I bei.

Die Voraussetzungen für eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Entscheidung des ByVerfGH v. 28.10.2019 sind damit erfüllt. Der in § 90 Abs. (2) BVerfGG vorge­schriebene Rechtsweg ist ausgeschöpft. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Das geht aus Art. 93 Abs. (1) Ziff. 2 GG sowie aus § 13 Ziff. 8a BVerfGG und § 90 Abs. (1) BVerfGG unmittelbar hervor.

Entgegenstehen könnte allerdings die Entscheidung des BVerfG v. 18.10.2010 (2 BvR 2174/10). Dar­in heißt es: „Den Einzelnen vermittelt Art. 28 Abs. (1) Satz 2 GG jedoch keine mit der Verfassungsbe­schwerde rügefähige subjektive Rechtsposition.“ Weiter heißt es: „Die Länder gewährleisten den sub­jektiven Schutz des Wahlrechts bei politischen Wahlen in ihrem Verfassungsraum allein und abschlie­ßend.“ Dieser Beschluss kann auf die vorliegende Beschwerde so keine Anwendung finden. Im Er­gebnis würde er im Bereich des Wahlrechts der Länder einen grundrechtsfreien Raum schaffen. Der Grundsatz: „Bundesrecht bricht Landesrecht“ würde insoweit seine Durchsetzbarkeit verlieren. Auch weist der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung v. 28.10.2019 (unter Ziff. 38) auf das Institut des Vorlagenbeschlusses nach Art. 100 Abs. (1) oder (3) GG hin. Der ByVerfGH hält sich selbst folglich nicht für befugt, von sich aus „allein und abschließend“ entscheiden zu können. Das Institut des Vorlagenbeschlusses nach Art. 100 GG stünde dem entgegen.

Maßgebend ist § 93 a BVerfGG. Darin heißt es: „Die Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung.“ Nach § 24 BVerfGG kann die Annahme also verweigert werden. In Abs. 2 der gleichen Vorschrift heißt es dann: Die Verfassungsbeschwerde „ist zu Entscheidung anzunehmen, wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist; dies kann der Fall sein, (…) wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht.“

Den Beschwerdeführern entsteht ein besonders schwerer Nachteil. Denn als Staatsbürger müssen sie es hinnehmen, dass in der am 14.10.2018 gewählten Volksvertretung des Bayerischen Landtags 15 Abgeordnete Sitz und Stimme haben, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden, also nicht unmittelbar, nicht gleich und schon gar nicht frei gewählt worden sind. Ihnen fehlt die De­mokratische Legitimation. Sie sind keine gesetzlichen Abgeordneten.

Antrag

 Die sechs Beteiligten beantragen beim Bundesverfassungsgericht, den Beschluss des Bayerischen Ver­fassungsgerichtshofes v. 28. Oktober 2019 nach § 95 Abs. (2) BVerfGG aufzuheben, Art. 14 Abs. 1 Satz 6 der Bayerischen Verfassung (BV) für unvereinbar mit dem Art. 28 Grundgesetz (GG) zu erklä­ren und die Sache zur endgültigen Entscheidung an den Bayerischen Verfassungsgerichtshof zurück­zuverweisen, um den Rechtsstreit nach den Vorgaben des Verfassungsgerichts allein und abschließend zu entscheiden.

Die sechs Beteiligten beantragen weiter, wegen der allgemeinen Bedeutung, der Unabwendbarkeit der Rechtsverletzung und wegen der besonderen Schwere der Nachteile, die den Beschwerdeführern ent­stehen, den Rechtsstreit – mit Blick auf § 90 Abs. (2) Satz 2 BVerfGG – rasch zu entscheiden. Sie wei­sen in Zusammenhang mit der Eilbedürftigkeit darauf hin, dass bereits ein Fünftel der bayerischen Legislaturperiode vergangen ist.

Begründung im Überblick

1.)   Der Bayerische Verfassungsgerichtshof verkennt den Grundsatz der allgemeinen Wahl. Die politi­schen Parteien haben kein Nominierungsmonopol. Wer aktiv wählen darf, muss – natürlich unter sonst gleichen, in der Natur der Sache liegenden Einschränkungen – grundsätzlich auch passiv wählbar sein. Die Mitgliedschaft in einer Partei oder parteiähnlich organisierten Gruppierung kann nicht zur zwin­genden Voraussetzung für die Wählbarkeit gemacht werden. Das würde der grundrechtlich geschütz­ten Volkssouveränität widersprechen, die nicht zur Parteiensouveränität verkürzt werden darf. Der Zu­gang zum Landtag muss für parteigebundene Bewerber und parteilose Bürgerkandidaten grundsätzlich der gleiche sein.

2.  Das schwer durchschaubare und normenunklare Konstrukt der „personalisierten“ Verhältniswahl widerspricht „a priori“ dem Grundsatz der gleichen Wahl aller Abgeordneten. Der ByVerfGH über­sieht, dass die Bayerische Landtagswahl auch in Gestalt der „verbesserten“ Verhältniswahl eine sog. Grabenwahl geblieben ist. Der am 14.10.2018 gewählte Landtag führte zu 205 Abgeordneten, 25 mehr als normal. Davon sind nur 91 nach dem klassischen Grundsatz: „one man one vote“ direkt gewählt worden. Unter den 91 direkt gewählten Abgeordneten waren 10 sog. „Überhänge“, die keinem der 91 direkt gewählten Abgeordneten unmittelbar angelastet werden können. Es verbleibt ein Rest von 105 Abgeordneten mit bloßem Listenplatz, darunter 89 Abgeordnete mit gewöhnlichem Listenplatz, wei­tere 10 von den dazugehörenden Direktmandaten abgespaltene Listenplätze – sog. „Überhänge“ – und 15 sog. „Ausgleichsmandate“. Sie alle gelangen unübersehbar auf sehr unterschiedliche Art und Weise in den Landtag.

3.  Das vom Gesetzgeber angeordnete Wahlverfahren muss frei sein von sinnwidrigen Effekten. Der ByVerfG toleriert jedoch den Widersinn der gespaltenen Abstimmung. Sie wird allgemein als „Stim­mensplitting“ bezeichnet. Dies obwohl das duale Wahlverfahren mit zwei Stimmen – d. h. die mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl – auch in der Gestalt der „verbesserten“ Verhältniswahl durch das Splitting verletzt wird, und dies obwohl die gespaltene Abstimmung die Hauptursache für die leidigen „Überhangmandate“ ist. Es darf nicht zu Vor- oder Nachteilen kommen, die vom Wähler bei der Abstimmung nicht eindeutig und klar erkennbar sind, falls er die Abgeordneten nicht mit bei­den, sondern nur mit einer von beiden Stimmen wählt.

4.   Der ByVerfG verkennt die Rechtsnatur der 10 sog. „Überhangmandate“. Die Zahl der mit der Erst­stimme gewählten 91 Abgeordneten steigt nicht um 10 „Überhänge“ an. „Überhangmandate“ sind kei­ne konkreten Direktmandate und schon gar nicht irgendwelche Mandate, die den 91 unmittelbar ge­wählten Abgeordneten in Wahrheit gar nicht zustehen, wie landauf, landab fälschlich unterstellt wird. „Überhangmandate“ sind Unterschiedszahlen, d.h. Differenzen. Wäre es anders, müssten die angeblich zu Unrecht direkt gewählten 10 Abgeordneten den Landtag wieder verlassen. Stattdessen werden die vermeintlichen 10 „Überhänge“ durch nachträgliche Aufstockung der Listenplätze zusätz­lich um weitere 15 Sitze – also um sog. „Ausgleichsmandate“ – über den Kopf der Wähler hinweg, sogar überproportional vermehrt.

5.  Die Abgeordneten werden grundsätzlich gewählt. Der ByVerfG übersieht die fehlende demokrati­sche Legitimation der 15 sog. „Ausgleichsmandate“, die den Wählern nachträglich oktroyiert wur­den und übergeht auch, dass der Ausgleich niemals größer sein kann als der Überhang.

Begründung im Detail

Die sechs Beschwerdeführer halten an der Begründung ihrer Wahlprüfungs-Beschwerde v. 13.5.2019 jedenfalls im Grundsatz weiterhin fest und fügen sie im Anhang als Anlage II hinzu.

Zu Ziff 1:

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof verkennt im Leitsatz Nr. 3 seiner Entscheidung v. 28.10.2019 den Grundsatz der allgemeinen Wahl wie er in Art. 28 Abs. (1) GG und Art 14 Abs. (1) der Verfas­sung des Freistaates Bayern (BV) niedergelegt ist. Das Prinzip der Allgemeinheit gilt für das aktive wie das passive Wahlrecht gleichermaßen. Die Nominierung zur Wahl ist eine Vorentscheidung und damit bereits Teil der Wahl. Die Aufstellung der Kandidaten ist grundsätzlich eine Bürgerkandidatur und keine Parteienkandidatur. Parteien können selbst nicht wählen und sind auch passiv selbst und als solche nicht wählbar. Es ist eine belastende Tatsache, dass im Landtag kein einziger, wirklich partei­loser Abgeordneter vertreten ist. Obwohl im bayerischen Wahlvolk nur ungefähr zwei Prozent Mit­glied einer Partei sind, stellen diese 100 Prozent aller Mitglieder des Landtags. Der bayerische Land­tag ist somit kein Spiegelbild des Wahlvolkes, sondern ein Spiegelbild der Parteien.

Das passive Wahlrecht ist – vom Grundsatz her – ein qualifiziertes „Jedermannsrecht“. „Wählbar ist jede stimmberechtigte Person.“ Vgl. § 22 LWahlG. Die Aufstellung der Wahlbewerber kann allein schon durch das Lebensalter, aber auch durch andere Auflagen beschränkt werden. Insbesondere steht auch außer Frage, dass der Wahlgesetzgeber Kandidaten aus der Wahl ausschließen kann, die über keine ernsthafte Unterstützung im Wahlvolk verfügen. Das liegt in der Natur der Sache und ist un­bestritten. Bei der Bundestagswahl müssen Wahlkreis-Bewerber für einen der 299 Wahlkreise deshalb Stützunterschriften von mindestens 200 wahlberechtigten Staatsbürgern der jeweiligen Wahlkreise beibringen und können dann allein für die Erststimme kandidieren. Bewerber, die von Parteien auf­gestellt worden sind, die im Bundestag bereits vertreten waren, müssen das nicht. (Vgl. § 20 Abs. (3) BWahlG.) Ein besonders hässliches und auch völlig überflüssiges Parteienprivileg. – Das hier aber nur nebenbei.

Bei der Landtagswahl in Bayern ist alles etwas anders. Das Vorschlagsrecht ist zu einem alleinigen Privileg von Parteien oder parteiähnlich organisierten Gruppierungen geworden. „Wahlvorschläge können von politischen Parteien und sonstigen organisierten Wählergruppen eingereicht werden“, von den Staatsbürgern dagegen nicht. (Vgl. § 23 LWahlG) Ein perfektes „Nominierungsmonopol“, das im führenden Kommentar zur Bundestagswahl auf Ablehnung stößt. (Vgl. Strelen in: Schreiber, BWahlG 2017, Einführung, Rdnr. 16.) Allein für einen Stimmkreis in einem der sieben Regierungsbe­zirke kann man sich als parteiloser Bürgerkandidat überhaupt nicht bewerben. Wahlvorschläge sind grundsätzlich zusammen mit den Listen in den Regierungsbezirken aufzustellen. (Vgl. § 26 LWahlG). Nominierung erfolgt immer im Zusammenhang mit den Listen aus sieben Regierungsbezirken.

Sonstige, parteiähnlich organisierte Gruppierungen werden zwar anerkannt und müssen für ihre Wahl­vorschläge z. B. im größten Regierungsbezirk Oberbayern aber 2000 Stützunterschriften beibringen, in anderen Regierungsbezirken, die viel kleiner sind als Oberbayern, entsprechend weniger. Parteien, die im Landtag bereits vertreten waren, sind davon befreit. Im Ergebnis wird in Stimmkreisen gewählt, aber für ganze Regierungsbezirke nominiert. Oberbayern ist der größte der sieben Regierungsbezirke. Dieser Bezirk weicht seiner Größe nach um mehr als 25 Prozent von den anderen ab. Da die Zahl der Stützunterschriften in Oberbayern viel größer ist als in den sechs anderen, wäre unweigerlich auch die Kandidatur in Oberbayern viel „ernsthafter“ als anderswo. – Das kann es nicht sein.

Das alles mag für politische Parteien und parteiähnlich organisierte Gruppierungen eine „verbesserte“ Verhältniswahl sein, für parteiunabhängige Stimmkreisbewerber ist es das nicht. Ihnen wird im Ergeb­nis die einfache Kandidatur allein für einen der 91 Stimmkreise verwehrt. Die bayerischen Land­tagswahlen sind also nicht allgemein. Die Parteien und parteiähnlich organisierten Gruppierungen sind klar im Vorteil. Und der Landtag will, unterstützt vom ByVerfGH, dass es so bleibt. Konkret wurde die Souveränität des Volkes zur Souveränität der Parteien und parteiähnlich organisierten Gruppie­rungen verkürzt. Das in Art. 28 GG garantierte Recht der allgemeinen Wahl wird durch das Nominie­rungsmonopol der Parteien und parteiähnlich organisierten Gruppierungen in seinem Kern verletzt. Die einfachrechtliche Anordnung in § 22 LWahlG: „Wählbar ist jede stimmberechtigte Person“ bleibt ein frommer Wunsch.

Zu Ziff 2:

Wie die Wahl zum Deutschen Bundestag ist auch die Wahl zum Bayerischen Landtag eine sog. „Gra­benwahl“, und zwar zwischen 91 Abgeordneten, die mit der Erststimme im Stimmkreis gewählt wer­den und 89 Mitgliedern des Landtags, die mit der Zweitstimme über die Listen der Parteien oder parteiähnlich organisierten Wählergruppierungen in den sieben Regierungsbezirken in den Landtag gelangen. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof nimmt in seiner Entscheidung v. 28.10.2019 nicht zur Kenntnis, dass beide Verfahrensweisen grundverschieden sind und sich mit dem in Art. 28 GG garantierten Grundsatz der gleichen Wahl nicht in Einklang zu bringen lassen.

Im Schrifttum steht der frühere Verfassungsrichter, Ernst Gottfried Mahrenholz, dem Grabensystem kritisch gegenüber. In einer Festschrift für seinen früheren Richterkollegen, Winfried Hassemer, (2010, S. 111 ff) hat er einen Beitrag veröffentlicht, der unter dem Titel: „Bigamie im Wahlrecht? Zweifel am Grabensystem“ erschienen ist. Darin rügt der Autor, das Bunesverfassungsgericht habe sich nicht wirklich mit der grundrechtlichen Bewertung des Grabensystems auseinandergesetzt, obwohl es auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung erheblichen Zweifeln ausgesetzt war. Ohne die Fundstelle im Schrifttum überzustrapazieren, bleibt bestehen: Die Grabenwahl ist eine Doppelwahl aus zwei unterschiedlichen Bestandteilen und kann deshalb als solche nicht gleich sein. Auch kommt das Landesverfassungsgericht von Schleswig-Holstein zu dem Ergebnis: Die personalisierte Verhältniswahl „schließt als verbundenes und einheitliches Wahlsystem ein die Grundsätze der Mehr­heits- und der Verhältniswahl nebeneinander stellendes Grabensystem aus“. (LVerfG Schleswig-Hol­stein v. 30.8.2010, NordÖR 19/2010, S. 389 und 401; oder JZ 2011, 254 ff und 261 ff.)

Im Gegensatz zu dem LVerfG v. Schleswig-Holstein hat der ByVerfGH keinerlei Zweifel am „Gra­benssytem“ wie es im Freistaat Bayern praktiziert wird. Die Landtagswahl v. 14.10.2018 führte zu 205 Abgeordneten. Das sind 25 Mandate mehr als normal. Davon wurden 91 Mitglieder des Landtags nach dem Verfahren des klassischen „Westminster-Modells“ in 91 Stimmkreisen gewählt, wie es in den bri­tischen Urkunden schon seit 1429 nachweisbar sein soll. Dieses Verfahren, das auch als Direktwahl bezeichnet wird, erfüllt insoweit die Bedingungen der unmittelbaren Wahl und ist nicht zu beanstan­den. Es verbleibt aber ein Rest von 125 weiteren Abgeordneten. Darunter 89 die lediglich mit der Zweitstimme in den Landtag gelangen. Erschwerend kommen 10 durch Wahl entstandene sog. „Überhänge“ hinzu – was immer man darunter genau zu verstehen hat – und 15 „Ausgleichsmandate“, die den Wählern nach der Abstimmung oktroyiert werden. – Alles grundverschiedene Wege in den Landtag.

Von einer gleichen Wahl kann insbesondere auf der Seite des passiven Wahlrechts überhaupt keine Rede sein. In den Augen des ByVerfGH bleibt das unbeanstandet. Im Gegenteil betont der ByVerfGH im zweiten Leitsatz seiner Entscheidung v. 28.10.2019 fälschlich, auch die beiden spezifischen Son­derformen der „Überhang- und Ausgleichsmandate seien „mit dem Grundsatz der gleichen Wahl vereinbar“. Es liegt daher auf der Hand, das in Art. 28 GG vorrangig niedergelegte Homogenitätsprin­zip anzuwenden, die Grabenwahl bayerischer Ausprägung, einschließlich der 10 „Überhang-„ und 15 Ausgleichsmandate, zu verwerfen und Art. 14 der bayerischen Verfassung nach den Vorgaben des Art. 28 GG entsprechend zu korrigieren. Die bayerische Grabenwahl kann vor dem grundrechtlich ge­schützten Gleichheitsprinzip keinen Bestand haben.

Der klassische Grundsatz: „one man one vote“ – pro Kopf eine Stimme – ist aus der Geschichte der Demokratie nicht wegzudenken. Man muss die gleiche Wahlentscheidung nicht zweimal treffen. Zwei Stimmen pro Kopf sind überflüssig. Zwei Stimmen sind immer auch zwei Wahlen, die sich nicht zu einer Wahl verschmelzen lassen, sondern zwangsläufig wie durch einen Graben von einander getrennt bleiben. Nach dem Grundsatz der gleichen Wahl müssen alle Abgeordneten auf dem gleichen Weg in das Parlament gelangen. Das war bei der bayerischen Landtagswahl v. 14.10.2018, die unübersehbar von der Grabenwahl geprägt ist, nicht der Fall. Dem ByVerfGH ist daher durch das BVerfG aufzuerle­gen, den Missstand zu beenden.

Zu Ziff 3:

Die gespaltene Abstimmung mit Erst- und Zweitstimme – das sog. Stimmensplitting – ist bei der Bun­destagswahl durch § 1 Abs. (1) Satz 2 BWahlG ausgeschlossen. Diese einfachrechtliche Vorschrift verlangt eine verbundene Wahl mit Erst- und Zweistimmen. Und das schließt die unverbundene –Doppelwahl natürlich aus. Im bayerischen Landeswahlgesetz fehlt eine vergleichbare Vorschrift. Tat­sächlich wird sowohl die Bundestags- als auch die bayerische Landtagswahl in weiten Teilen vom Stimmensplitting geprägt.

Bei der Bundestagswahl von 2017 verweigerten 3.856.078 Erststimmen-Wähler der Partei des ört­lichen Wahlkreis-Bewerbers „contra legem“ die Zweitstimme. Umgekehrt gaben 2.082.794 Zwei­tstimmen-Wähler, dem örtlichen Kandidaten der gewählten Partei „contra legem“ nicht die Erst­stim­me. Bei der Wahl entstanden bekanntlich 46 Überhänge und 65 Ausgleichsmandate. (Zum Rechenweg vgl. BWahlG Gegenkommentar, 2.Aufl. 2018, Anhang S. 110.) Bei der bayerischen Landtagswahl vom 14.10.2018 verweigerten 112.682 Erststimmen-Wähler der Partei des örtlichen Kandidaten die Zweitstimme. (Erststimmenüberhang) Umgekehrt gaben 65.608 Zweitstimmen-Wähler, dem örtlichen Kandidaten der gewählten Partei nicht die Erststimme. (Zweitstimmenüberhang) Das Splitting bei den im Landtag nicht vertretenen Parteien blieb in der Rechnung unberücksichtigt, kommt also noch hin­zu. Bekanntlich entstanden 2018 in Bayern so 10 „Überhänge“ und 15 Ausgleichsmandate. (Zum Re­chenweg vgl. Anhang III zu diesem Schriftsatz.) Das BVerfG hat schon sehr früh die „Manipula­tionsmöglichkeiten“ des Stimmensplittings missbilligt. Vgl. BVerfG 7, 66 (75).

Gestützt auf BVerfGE 95 335 (367) und BVerfGE 131, 316 (371) geht der ByVerfGH anders als der einfache Wahlgesetzgeber des Bundes davon aus, die gespaltene Abstimmung rechtfertige sich „durch den im Demokratieprinzip wurzelnden Repräsentationsgedanken“. Gleichzeitig räumt der ByVerfGH ein – und zwar erstmalig in einer höchstrichterlichen Entscheidung – dass die Zulassung des Stimmen­splittings „wesentlich zum Entstehen von Überhangmandaten beiträgt“. (aaO, Ziff. 47, unter B 2 a) Zwischen beidem besteht ein für lange Zeit verkannter, ursächlicher Zusammenhang. Und das berührt natürlich die mit dem Splitting untrennbar verbundene Verfassungsfrage der sog. „Überhang-“ und sich anschließenden Ausgleichsmandate.

Würden im Bund alle 299 Direktmandate nur mit der Erststimme und nicht zugleich auch mit der Zweitstimme gewählt, käme es zu 299 „Überhängen“ und zusätzlich zu mindestens 299 Ausgleichs­mandaten. Erschwerend bleibt dabei unberücksichtigt, dass der Ausgleich den Überhang regelmäßig übersteigt. Für Bayern ergibt sich ein vergleichbares Bild. Werden hier über alle 91 Direktmandate nur mit der Erststimme und nicht zugleich auch mit der Zweitstimme abgestimmt, dann entstehen 91 „Überhänge“ und noch einmal mindestens 91 zusätzlich Ausgleichsmandate. Der Bayerische Landtag hätte nicht 180 sondern mindestens 362 Mitglieder – und bei überproportionalen Ausgleich im Ver­hältnis von 10 : 15 noch einmal 45 mehr! Es darf ernsthaft bezweifelt werden, ob der Bayerische Verfassungsgeber das überhaupt ermöglichen wollte.

Das Stimmensplitting ist in sich sinnwidrig, verfassungsrechtlich daher höchst zweifelhaft und muss – jedenfalls „de lege ferende“ weg. Die Willenserklärung der Wähler muss klar und eindeutig sein. Ohne Splitting würden die „Überhänge“ entweder ganz verschwinden oder wenigstens unter die Ober­grenze einer halben Fraktionsstärke zurückgedrängt werden, die vom BVerfG v. 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) gezogen wurde. Die derzeit kleinste Fraktion hat in Bayern 11 Mitglieder. Das ergibt für Bayern ungefähr 5,5 zulässige Überhänge. Durch die Marginalisierung der Überhänge bei den großen werden die Ausgleichsmandate bei den kleineren Parteien obsolet, und der Landtag erreicht von selbst seine Normalgröße von 180 Volksvertretern oder nähert sich ihr zumindest stark an. Ein solcher Kompromiss ist zwar keine „Patentlösung“, aber sinnvoll und hinreichend ausgewogen. Er würde den verfassungsrechtlichen Streit über die Zulässigkeit der „Überhang-“ und Ausgleichsmandate zumin­dest die Spitze nehmen oder ihn sogar ganz überflüssig machen. Gewiss, einige wenige „Überhänge“ – vielleicht vier oder fünf – die nur gelegentlich vorkommen und zulässig sind und deshalb nicht aus­geglichen werden, sind nicht schön. Sie lassen sich aber verkraften.

Zu Ziff 4:

„Überhangmandate“ heißen nur so, tatsächlich sind es keine konkreten Mandate. Und schon gar nicht sind es irgendwelche Direktmandate, die einem unmittelbar gewählten Abgeordneten in Wahrheit gar nicht zustehen, wie landauf landab zu Unrecht behauptet wird. Überhangmandate sind Unterschieds­zahlen also Differenzen. Das verkennt auch der ByVerfGH. Würde man nur mit einer Stimme wählen, würde es gar keine Unterschiedszahlen geben. Das liegt in der Natur der Sache. Der sog. Überhang ist also ein Proprium des dualen Wahlsystems mit Erst- und Zweitstimme in allen seinen z. T. sehr ver­schiedenen einfachrechtlichen Ausprägungen, die es in 13 der insgesamt 16 Bundesländer gibt. Im Saarland, Bremen und Hamburg gibt es keine personalisierte Verhältniswahl.

Die Verfassung des Freistaates Bayern (BV) gibt ein bestimmtes Wahlsystem vor. In Art. 14 Abs. (1) BV heißt es: „Die Abgeordneten werden (…) in Wahlkreisen und Stimmkreisen nach einem verbes­serten Verhältniswahlrecht gewählt.“ Diese Verfassungsnorm ist rechtstechnisch von zweifelhafter Normenklarheit und Verständlichkeit. Sie weicht vom gewohnten Sprachgebrauch ab. Denn hier wer­den die sieben Regierungsbezirke sehr irreführend als „Wahlkreise“ bezeichnet. Der Verfassungsnorm der „verbesserten Verhältniswahl“ fehlt es vor allem aber an der erforderlichen Bestimmtheit. Die „verbesserte Verhältniswahl“ ist von den Sätzen 2 bis 6 der Verfassungsnorm abgesehen ein unbe­stimmter Rechtsbegriff geblieben, der begrifflich an „das gute-Kita-Gesetz“ erinnert.

Ausschlaggebend ist allerdings die Anordnung in Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV: „Durch Überhang- und Ausgleichsmandate (…) kann die Zahl der Abgeordneten nach Art. 13 Abs. 1 überschritten werden.“ Die sog. „Überhang-„ und Ausgleichsmandate sind in Bayern also verfassungsrechtlich geschützte Tatbestände nicht mehr näher bestimmter Art. Das ist unbestritten. Streitig ist, inwieweit sie mit dem in Art. 28 GG normierten Homogenitätsprinzip vereinbar sind. Denn einen grundrechtlichen Schutz für „Überhang-“ und Ausgleichsmandate gibt es darin nicht.

Deshalb hilft alles nichts. Man muss die Streitfrage allein unter den Prämissen der fünf Wahlrechts­grundsätze prüfen, wie sie in Art. 28 GG vorrangig niedergelegt sind. Denn Bundesrecht bricht Lan­desrecht. Die verkannte Rechtsnatur der sog. „Überhänge“ spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle. Denn die Zahl der Direktmandate ist endgültig und kann weder im Bund noch in Bayern überschritten werden. Im Bund gibt es 299 Wahlkreise, in Bayern gibt es 91 „Stimmkreise“. Begrifflich gibt es zwischen beidem keinen Unterschied. Irgendwelche zusätzlichen „Überhänge“ gibt es auf der Seite der Direktwahl nicht. Überhänge können demnach von der bloßen Logik her keine Direktmandate sein.

(Vgl. im Schrifttum Hans Meyer, „Zukunft des Bundeswahlrechts“, 2010, S. 44; Manfred Hettlage, „Die verkannte Rechtsnatur der Überhangmandate“, Europolis 2018, (PDF-Datei), https://www.europolis-online.org/wp-content/uploads/2018/06/BeitrReNatur_Hettlage.pdf (In gedruckter Fassung zugänglich im Taschenbuch: „One man one vote – Pro Kopf eine Stimme“, 2018. S.17 ff).

Und in der Tat entstehen Überhänge im Sinne einer Differenz in erster Linie durch das Splitting. Die verbundene Zwillingswahl für 91 Abgeordnete wird durch eine unverbundene Wahl mit zwei Stimmen ersetzt. Die Zweitstimme wird von der Erststimme abgespalten. Wenn man also von „Überhängen“ reden will, was ein verwirrender Sprachgebrauch ist, dann sind sie auf der Seite der Zweitstimmen zu suchen, weil es sie auf der Seite der Erststimmen nicht geben kann. Bei der gespaltenen Abstimmung wird ein und derselbe Abgeordnete nicht zweimal gewählt, wie es die zu personalisierende Verhältniswahl verlangt. Stattdessen wird über zwei verschiedene Abgeordnete jeweils einmal abgestimmt: Über den einen nur mit der Erststimme über den anderen allein mit der systemwidrig abgespaltenen Zweitstimme. Das eigentliche Skandalon ist also die abgespaltene Zweitstimme, die zur Vermehrung der Listenplätze führt.

Diese Auffassung wird im Schrifttum von Hans Meyer (aaO, 2010, S. 44) vertreten und sehr klar auch von Ralph Backhaus (Marburg Law Review, 1/2015, S. 18 ff (20 u. 22)) geteilt: „Überhangmandate sind (…) keine Direktmandate sondern Listenmandate.“ Zuvor hatte die unterlegene Seite auf der Richterbank im Fall der berühmten Vier-zu-Vier-Grundsatzentscheidung (BVerfG von 10.4.1997, BVerfGE 95, 335 (380)) in die gleiche Kerbe geschlagen. Das ByVerfG mit seiner Entscheidung v. 28.10.2019 hat sich auf die Gegenseite der vier obsiegenden Richter gestellt und geht fälschlich davon aus, die sog. „Überhänge“ seien zusätzliche Direktmandate, ihre Zahl sei nicht endgültig vorgegeben, könne also überschritten werden, obwohl es in Bayern nur 91 Stimmkreise gibt und deshalb mehr als 91 Direktmandate ausgeschlossen sind.

Wegen dieser Verkennung des zugrunde liegenden Sachverhalts durch den ByVerfGH kann der Rechtsstreit kein Ende finden und flammt bei allen Wahlen mit „Überhang-“ und Ausgleichsmandaten erneut auf. An der Vereinbarkeit der bayerischen Verfassungsnorm des Art. 14 Abs. (1) Satz 6 BV mit dem Homogenitätsprinzip des Art. 28 GG hat der ByVerfGH keinen Zweifel und sieht deshalb auch keine Veranlassung, den Fall unter den Voraussetzungen des Art. 100 Abs. (1) und (3) GG dem Bun­desverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen. Dadurch sehen sich die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht verletzt, dass ihnen die Wahrung der fünf Wahlrechtsgrundsätze im Bund und in den Ländern gleichermaßen garantiert.

Zu Ziff 5:

Abgeordnete werden grundsätzlich gewählt und zwar in allgemeiner, unmittelbarer freier, gleicher und geheimer Abstimmung. Für den Bund folgt das aus Art. 38 GG und für die Länder aus Art. 28 GG. Nachgeschobene Ausgleichsmandate sind offensichtlich grob verfassungswidrig. Ihnen fehlt die un­mittelbare demokratische Legitimation. Sog. „Überhangmandate“ – auch im Sinne von Differenzen zwischen Direktmandaten und Listenplätzen innerhalb der einzelnen Regierungsbezirke – können überhaupt erst festgestellt werden, wenn die Stimmen ausgezählt sind. Der Mandatsausgleich kann also erst dann erfolgen, wenn die Wahllokale schon geschlossen sind und keine allgemeine, unmittel­bare, freie, gleiche und geheime Wahlentscheidung mehr nachgeschoben werden kann. Ihnen fehlt die demokratische Legitimation.

Vgl. zum Schrifttum: „Die Figur des nicht-gewählten Abgeordneten im deutschen Wahlrecht“, Europolis v. 26.2.2018 (PDF-Datei) https://www.europolis-online.org/allgemein/legitimitaet-gegen-legalitaet-ist-der-deutsche-bundestag-demokratisch-legitimiert/.

Zu den sog. „Überhangmandaten“ wie sie der Landeswahlgesetzgeber und der ByVerfGH im Auge hat, heißt es in dem für den gewöhnlichen Wähler völlig unverständlichen § 44 Abs. (2) LWahlG dem Sinn nach, dass entstehende „Überhänge“ den Parteien oder parteiähnlichen Gruppierungen ver­bleiben. Das Landeswahlgesetz wiederholt damit die Verfassungsnorm des Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV und formt sie weiter aus. Aus der Sicht des einfachen Wahlgesetzgebers wie aus der Sicht des bayeri­schen Verfassungsgebers sind „Überhänge“ im Sinne von überzähligen Direktmandaten zulässig. Und das hat eine schwerwiegende Folge. Denn durch die verfassungsrechtliche und einfachrechtliche Aner­kennung der „Überhänge“ durch den Gesetzgeber fällt der Rechtsgrund für die Ausgleichsmandate weg.

Bei dem Rechtsstreit geht es aber genau und vor allem um die Frage der Zulässigkeit von 10 „Über­hängen“, die sowohl der bayerische Verfassungsgeber als auch der einfache Landeswahlgesetzgeber anerkennen, und um die Zulässigkeit der 15 Ausgleichsmandate, für die es aber keinen wirklichen Rechtsgrund gibt. Es verletzt außerdem jede Logik, wenn der Ausgleich größer ist als der Überhang. Wie auch immer ist grundsätzlich niemand befugt, das Wahlergebnis über die Sperrklausel hinaus zum zweiten Mal nach der Wahl irgendwie zu verändern, zu verbessern oder auszugleichen. Wer das Wahlergebnis ausgleicht, der verfälscht es auch. Wahlen werden ausgezählt, niemals aber ausgegli­chen.

Im Sinne einer eher nebensächlichen Arabeske bleibt ganz am Ende darauf hinzuweisen, dass die sog. Direktwahl mit nur einer Stimme ganz ohne Sperrklausel auskommt. Nur in Bayern nicht. Dort wer­den einer an der Fünf-Prozent-Hürde gescheiterten Partei auch die Direktmandate abgesprochen. An die Stelle der Erstplatzierten treten die zweitplatzierten Bewerber, obwohl sie weniger Stimmen er­rungen haben. Auch das gehört zu den demokratischen Errungenschaften der „verbesserten Verhältnis­wahl“.

Ergebnis der Begründung

Parteilose Bürgerkandidaten können in Bayern nicht allein für die Erststimme kandidieren.

Eine „Grabenwahl“ aus zwei Stimmen mit unterschiedlichem Wahlgebiet und auch von unterschiedli­cher Mächtigkeit kann zwangsläufig nicht gleich sein.

Durch die gespaltene Abstimmung verliert der Wählerwille seine Bestimmtheit und es entstehen sog. „Überhangmandate“.

Die 10 bayerischen „Überhangmandate“ sind keine unzulässigen Direktmandate, sondern einfach­rechtlich akzeptierte Unterschiedszahlen, die zu Unrecht „ausgeglichen“ werden.

Die 15 bayerischen Abgeordneten, die lediglich ein Ausgleichsmandat bekleiden, das dem Wahlvolk nach der Abstimmung oktroyiert wurde, sind keine gesetzlichen Abgeordneten.

Aus den vorgenannten Gründen sehen sich die sechs Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 28 GG im Sinne des § 93 a Abs. (2) Satz 2 b) BVerfGG besonders schwerwiegend verletzt. Wegen der allgemeinen Bedeutung und der besonders schwerwiegenden Nachteile, die sie erleiden, bitten sie das Bundesverfassungsgericht höflich, aber mit Nachdruck um rasche Entscheidung über den gestellten Antrag.

München, den 12. November 2019

Gezeichnet von 1.) Dr. Hettlage, Manfred (Gruppenbevollmächtigter) 2.) Dr. Offergeld-Hettlage, Ursula; 3.) Kampka, Joachim; 4.) Dr. Mertel, Robert; 5.) von Braunmühl, Gero;; 6.) Köhler, Thomas.

Verzeichnis der Anlagen

Anlage I   Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes v. 28.10.2019 im Wortlaut;  und  Presseerklärung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes v. 28.10.2019

Anlage II   Wahlprüfungs-Beschwerde (Vf. 74-III-18) im Wortlaut.

Anlage III   Tabelle; Missachtung der personalisierten Verhältniswahl, Splittingwähler bei der bayerischen Landtagswahl 2018

 

 

 

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