Manipulationsmöglichkeiten des Wahlrechts: das Stimmensplitting

Überhangmandate gehören zum Erscheinungsbild der Bundestagswahl seit 1949. Das Verfassungsge­richt hatte schon 1957 kritisiert: „Gewiss, eröffnet das Institut der Überhangmandate Manipulations­möglichkeiten. Deren Verfassungsmäßigkeit müsste aber im Falle eines Missbrauchs angezweifelt werden. (BVerfGE 7, 66 (75)). Der Gesetzentwurf v. 15.9.2020 (BT-DruckS. 19/22504) lässt die Verfassungsfrage unberührt, will aber nach dem 1.1.2024 Zahl der 299 Wahlkreise auf 280 reduzieren. Zum Stichtag sollen also 19 direkt gewählte Abgeordnete den Bundestag verlassen. Lediglich 3 Über­hänge sollen zur nächsten Wahl vom Ausgleich freigestellt werden. Für 2017 hätte das bedeutet, dass es bei den 46 Überhängen bleibt, während der Ausgleich von 65 auf 62 Sitze sinkt. Ein Arbeitskreis soll bis 30. Juni 2023 weiter Vorschläge vorlegen. Aber Papier ist geduldig.

Hauptursache für die Überhangmandate ist das Stimmensplitting. Das verkennen die Fraktionen des Bundestages, das verkennt das Verfassungsgericht in Karlsruhe, das verkennt auch der Entwurf zur Reform des Wahlrechts v 15.9.22020. Bei der Bundestagswahl von 2017 haben 3,85 Mio. Wähler sich mit der Erststimme für einen bestimmen Wahlkreis-Bewerber entschieden, seiner Partei aber die Zweitstimme verweigert. Umgekehrt habe 2,08 Mio. Wähler ihre Zweitstimme für eine bestimmte Partei abgegeben, den von ihr aufgestellten Wahlkreis-Bewerber aber nicht mit der Erststimme ge­wählt. Und das genügte für 46 Überhänge und 65 Ausgleichsmandate.

Es gibt aber ein anschauliches Beispiel, wie sich der Wahlsieg durch Überhänge „ergaunern“ lässt: z.B. durch eine bundesweite Ausdehnung der CSU. Sie wollte 1972 und 1976 in ausgewählten Wahl­kreisen außerhalb Bayerns, in denen die CDU zuvor nicht erfolgreich war, allein für die Erststimmen kandidieren, auf die Listenwahl außerhalb Bayerns jedoch verzichten. Die CDU sollte in den ausge­suchten Ländern nur für die Zweitstimmen-Wahl antreten und ihre Wähler dazu aufrufen, mit den Erststimmen für einen Wahlkreis-Kandidaten der CSU zu stimmen. Dieses „Patentrezept“ hätte außer­halb Bayerns natürlich zu Überhängen geführt.

Der CDU-Vorsitzende, Helmut Kohl, lehnte eine solche Wahlabsprache kategorisch ab. Franz Josef Strauß schäumte vor Wut und wollte 1976 sogar die Fraktionsgemeinschaft im Bundestag aufkündi­gen. Die Ironie der Geschichte: Ein oder zwei CSU-Überhänge außerhalb Bayerns und Helmut Kohl wäre schon 1976 Kanzler geworden. Der Wahlsieg war damals zum Greifen nahe. Kohl griff aber nicht zu und widersetze sich einer bundesweiten Ausdehnung der CSU allein bei den Erststimmen! Solange das Verfassungsgericht das Stimmensplitting für zulässig erklärt und auch der Wahlgesetz­geber nicht einschreitet, kann man CDU und CSU aber keine Vorwürfe machen, wenn bei der nächsten Wahl nach dem Modell von Wildbad Kreuth „getrennt marschieren aber vereint schlagen“.

Überhangmandate sind ein Missbrauch der Gestaltungsformen des Wahlrechts. Die Fraktionen des Bundestages sind gut beraten, wenn sie in der 2. Lesung über die Reform des Wahlrechts diesen „Ma­nipuilationsmöglichkeiten“ den Garaus machen und das Stimmensplitting unterbinden. Ohne Splitting verlieren die großen Parteien die leidigen Überhänge und die kleinen Parteien die noch leidigeren Aus­gleichsmandate.

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