Größer als das Siebenfache
Als der Bundeswahlleiter das vorläufige Endergebnis der Wahl vom 22.9.2013 verkündet hatte, war man sprachlos. Zwar gab es nur 4 Überhangmandate, viel weniger als man erwartet hatte. Doch diese wurden „ausgeglichen“ – was auch immer das heißen soll – allerdings nicht durch vier, sondern durch 28 Ausgleichsmandate. Der Wahlleiter musste seine Berechnungen sogar noch einmal nachbessern und den nachgeschobenen Mandatsausgleich auf 29 Listenplätze anheben. Der Ausgleich überstieg den Überhang also um mehr als das Siebenfache! Und in das Berliner Parlament sind nicht 598, sondern 631 Volksvertreter eingezogen. Bundestagspräsident Norbert Lammert, MdB, eilte herbei und teilte der Öffentlichkeit mit, dass man sich einen viel zu großen „Schluck aus der Pulle“ genehmigt hatte. Schon in seiner Antrittsrede unmittelbar nach seiner Wiederwahl am 22.10.2013 verlangte er deshalb – ohne jede Schamfrist – eine Reform von der Reform des Wahlrechts, die nur wenige Monate zuvor unter seinem Vorsitz im Parlament beschlossen worden war.
Bei der 2009 vorangegangenen Wahl hatte es 24 Überhänge gegeben. Der Wahlleiter hatte in einer Musterrechnung ermittelt, dass der Ausgleich nach neuem Recht um 49 Ausgleichsmandate emporschnellen würde. Statt der regulär 598 Mitglieder hätten 671 Abgeordnete der Bundestag übervölkert. Inzwischen hat sich die Meinung durchgesetzt, dass im Bundestag schon jetzt mehr als genug Abgeordnete herumsitzen, nicht auszudenken, was passiert, wenn es 700, 750 oder noch mehr werden könnten. Aber Überhangmandate sind wie Primzahlen: Man weiß nicht wie viele es sein werden; man weiß nicht in welchem Bundesland sie auftreten; und man weiß nicht welche Partei davon betroffen ist. Prognosen dazu sind daher schwierig. Machen die Umfrageinstitute schon einen Bogen um Erststimmen, hüllen sie sich zu den Überhängen ganz in Schweigen.
Es gibt keine überzähligen Wahlkreise
Noch schwieriger wird alles, wenn man sich Klarheit darüber zu verschaffen sucht, was genau ein Überhang- und was ein Ausgleichsmandat ist. Denn es gibt insgesamt 299 Wahlkreise, keinen mehr und keinen weniger. Aus ihnen gehen 299 direkt gewählte Abgeordnete hervor, keiner mehr und keiner weniger. Überzählige Wahlkreise, in denen Abgeordnete gewählt worden sind, denen ihr Mandat gar nicht zusteht, das gibt es schlicht und einfach nicht. Auch hat der Bundeswahlleiter allen 299 direkt gewählten Abgeordneten mitgeteilt, dass sie ihr Mandat zu Recht bekleiden. Deshalb kann er nicht im gleichen Atemzug geltend machen, dass die Überhänge den Parteien in Wahrheit doch nicht zustünden und deshalb ausgeglichen werden müssten.
Man kann es drehen und wenden wie man will, für den Mandatsausgleich fehlt der Rechtsgrund. Das wiegt umso schwerer, wenn der Ausgleich den Überhang um mehr als das Siebenfache überragt. Gesetzt den Fall, die Überhänge wären tatsächlich unzulässig, müsste man sie untersagen. Und dann braucht man natürlich keinen Ausgleich mehr. Der „Schluck aus der Pulle“ war also nicht zu groß. Schlimmer noch, in der Flasche war kein Schnaps, sondern Methylalkohol. Und das ist pures Gift, das darf man überhaupt nicht trinken. Denn davon wird man blind.