NACHBESETZUNG VAKANTER WAHLKREISE

Der Amtsschimmel wiehert …

… wenn die Zweitstimme zur Erststimme gemacht wird

Überall auf der Welt findet in einem vakanten Wahlkreis eine Nachwahl statt, nur in Deutsch­land nicht. Der Amtsschimmel will es so. Ronald Profalla (CDU) hat den Wahlkreis 112 (Kleve) mit 48,5 Prozent der Erststimmen gewonnen, Annette Schavan (CDU) mit 52,1 Pro­zent im Wahlkreis 291, Ulm, noch etwas besser abgeschnitten – beides Wahlergebnisse nahe an der absoluten Mehrheit der Erststimmen oder sogar darüber. Seit Profalla zur Deutschen Bahn wechselte und Schavan Botschafterin im Vatikan werden wollte, gibt es in beiden Wahlkreisen keinen direkt gewählten Abgeordneten mehr. Denn nach § 48 BWahlG rückt ein Bewerber aus der Landesliste der Partei nach, der noch nicht zum Zuge gekommen ist. In­zwischen sind 19 Abgeordnete aus dem Bundestag ausgeschieden. Die meisten von ihnen waren mit der Erststimme in das Parlament eingezogen, also in einem der 299 Wahlkreise direkt gewählt worden und wurden dann durch einen Listenbewerber ersetzt. So kommt es, dass im Bundestag Anfang Juni 2016 nicht 299 sondern nur mehr 285 direkt gewählte Volks­vertreter Sitz und Stimme haben und der verbleibende Rest von 346 Abgeordneten allein über eine der Landeslisten in das Parlament eingezogen ist. Im Laufe einer Legislaturperiode tritt also bei den Direktmandaten ein gewisser Schwund ein, der mit § 1 Abs 2 BWahlG unver­einbar ist.

Die in § 48 BWahG geregelte Listennachfolge hat eine bewegte Geschichte. Das Bundes­verfassungsgericht hat nämlich mit Urteil vom 26.2.1998 (BVerfGE 97, 317) entschieden: Werden Wahlkreise einer Landespartei mit Überhangmandat vakant, dürfe kein Kandidat von der Reservebank der Landesliste nachrücken. Für den zu judizierenden Spezialfall fehle eine gesetzliche Regelung und solange sie fehle bleibe der Wahlkreis unbesetzt. Die Verfassungs­hüter deuteten damals an, die Zweitstimmen würden das nicht hergeben, die Liste daher gar nicht so weit ziehen. Richter sollen aber keine Andeutungen machen sondern entscheiden. Grund genug die richterliche Zurückhaltung aufzugeben und durch Urteil zu erzwingen, dass man aus den Zweitstimmen keine Erststimmen machen kann, so dass vakante Wahlkreise deshalb immer und in jedem Fall durch Nachwahl neu zu besetzen sind.

Nichts ist beständiger als das Provisorium

Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Wahlkreis-Bewerber werden mit den Erststimmen, Kandi­daten für die Landeslisten der Parteien mit den Zweitstimmen gewählt. Beides darf man nicht vermengen. Wer mit den Erststimmen in den Bundestag gelangt ist, kann grundsätzlich nicht durch jemand ersetzt werden, der mit der Zweitstimme gewählt wurde. Bei einer Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme kann es keinen Wechsel von der Mehrheitswahl in die Verhält­niswahl geben. Das wäre ein Bruch im dualen Wahlsystem mit zwei Stimmen. Diesen Bruch hat das Verfassungsgericht aber nicht grundsätzlich, sondern nur im Fall von Überhängen gerügt und damit für Verwirrung gesorgt.

Nach dem Urteil v. 26.9.1998 sind zehn Jahre ins Land gegangen. Passiert ist in dieser Zeit nichts. Doch als in Karlsruhe ein weiteres Verfahren anhängig war, nämlich die Entscheidung zum negativen Stimmengewicht (BVerfG vom 3.7.2008, BVerfGE 121, 266), wollte man sich nicht dabei erwischen lassen, dass man so lange müßig geblieben war. Also lief der um 10 Jahre gealterte Amtsschimmel erneut über die Bühne des Zeitgeschehens, und die vorüber­gehende Übergangsregelung des Verfassungsgerichts wurde gleichsam über Nacht zum dau­erhaften Gesetz erhoben: Solange es Überhangmandate gibt, kommt es deshalb nicht zu einer Nachbesetzung aus der Landesliste. Der Wahlkreis bleibt leer, der Überhang fällt weg. (Ab­schmelzungsregelung) – Nichts ist beständiger als ein Provisorium.

Dieser gesetzgeberische Schildbürgerstreich wird perfekt, wenn man weiß, dass es “Über­hangmandate” eigentlich nicht gibt. Es werden genau so viele Abgeordnete direkt gewählt wie Wahlkreise vorhanden sind, keiner mehr und keiner weniger. Es gibt 299 Wahlkreise und 299 direkt gewählt Abgeordnete unter den regulär 598 Mitgliedern des Bundestags. Es kann also keine unzulässige Überzahl an Direktmandaten geben. Niemand kann zu Recht behaup­ten, es seien mit den Erststimmen zu viele Direktkandidaten gewählt worden, denen ihr Mandat in Wahrheit gar nicht zusteht. Zwar fehlen im Fall der „Überhangmandate“ bei einer Landespartei die in der personalisierten Verhältniswahl dazugehörenden Listenplätze. Das trifft zu. Aber die fehlenden Listenplätze lösen sich nicht in Luft auf, sondern werden von anderen Parteien des Landes errungen, denen es nicht gelang, die entsprechenden Direkt­mandate zu erzielen. Bei Überhangmandaten werden demnach mehr Listenplätze an die Lan­desparteien verteilt als dem Land zustehen. – Aber das nur nebenbei.

Zurück zu der in § 48 BWahlG getroffenen Nachfolgeregelung. Leerstehende Wahlkreise, was für eine „Rechtsfigur“? Was fangen die Wähler schon mit einem leeren Wahlkreis an? Sie haben doch keinen Anspruch auf ein vakantes Wahlgebiet, sondern auf einen direkt ge­wählten Abgeordneten. Es kam daher, was kommen musste: Der Gesetzgeber „bugsierte“ den Amtsschimmel erneut über die Bühne des Geschehens und machte mit der Reform des Wahlrechts v. 13.5.2013 (BGBl I S. 2180) alles wieder rückgängig. Scheidet ein direkt ge­wählter Abgeordneter aus dem Bundestag aus, wird weiterhin nicht nachgewählt. Stattdessen wird der vakante Sitz nach § 48 BWahlG n.F. so wie früher – auch im Fall von Überhängen! – mit einem Bewerber aus der Landesliste der Partei nachbesetzt, für die der Ausgeschiedene angetreten ist. Es rückt also ohne jede Ausnahme wieder ein Listenbewerber von der Reser­vebank nach. Ob die in der Wahl entstandenen Zweitstimmen die zusätzlichen Listenplätze überhaupt hergeben, danach fragt niemand.

Der Ausgleich muss neu berechnet werden

Bei der Listennachfolge für ausgeschiedene Wahlkreis-Gewinner kommt es jedoch zu einer weiteren Überraschung. Wird ein Direktmandat bei einer Landespartei mit Überhang vakant, verkleinert das (von den Verfassungsrichtern verworfene, doch vom Gesetzgeber wieder ein­geführte) Nachrücker-Verfahren die „Überhänge“, und zwar durch Vermehrung der Listen­plätze: Ihre Zahl steigt, die Differenz zwischen Direktmandaten und Listenplätzen sinkt. Als Folge davon muss natürlich auch der Mandatsausgleich neu berechnet werden. Weniger Über­hänge – weniger Ausgleichsmandate. Katherina Reiche (CDU) ist am 4. September 2015 aus dem Bundestag ausgeschieden. Ihr Wahlkreis Nr. 061 (Postdam / Potsdam-Mittelmark II / Teltow-Fläming II) liegt in Brandenburg. Aus der Landesliste der CDU konnte „mangels Masse“ aber kein Nachrücker aufgeboten werden, denn auf der „Reservebank“ saß niemand mehr, der hätte nachrücken können. Für diesen Fall hat der Gesetzgeber vorgesorgt. In § 48 Abs 1 Satz 4 BWahlG wird angeordnet: „Ist die Liste erschöpft, so bleibt der Sitz unbesetzt.“ Statt 631 hat der Bundestag also nur noch 630 Mitglieder.

Aber selbst dann, wenn jemand hätte nachrücken können, weil aus der Landesliste noch ein Bewerber verfügbar gewesen wäre, der noch nicht zum Zuge kam, würde ja ein Direktmandat durch einen Listenplatz ausgetauscht und schon deshalb das in Brandenburg bei der CDU ent­standene Überhangmandat wegfallen. So oder so würde also die Zahl der Sitze im Bundestag auf insgesamt 630 zurückgehen. Wird der Überhang kleiner, muss natürlich auch der Aus­gleich anteilig rückgängig gemacht werden. Denn der Ausgleich von insgesamt 29 Sitzen überstieg den Überhang von 4 Mandaten, die im Saarland, in Thüringen, Sachsen-Anhalt und eben auch in Brandenburg entstanden sind, bekanntlich um mehr das Siebenfache. Fällt einer von diesen 4 Überhängen weg, hat das zur Folge, dass 7 Abgeordnete mit Ausgleichsmandat den Bundestag wieder verlassen müssen. – Aber daran denkt natürlich niemand.

Sitzen also zu viele Abgeordnete im Bundestag? Der Präsident des Bundestags ist verdutzt. Und der Bundeswahlleiter kratzt sich am Kopf. Doch der Wahlleiter ist unschuldig, denn er hat das neue Wahlgesetz ja nicht gemacht. Er stellt fest, wer von welcher Partei ein Aus­gleichsmandat erhält, also muss er auch feststellen, wer von welcher Partei sein Ausgleichs­mandat wieder „an den Nagel“ zu hängen hat. – Das tut der Wahlleiter aber nicht und wird vom Bundestagspräsident dazu auch gar nicht aufgefordert. Rechnet man nach, übersteigt der Ausgleich von 29 Listenplätzen den um ein Mandat verminderten Überhang jetzt um mehr als das Neunfache. Der Überhang sinkt, der Ausgleich steigt. Sinnwidriger geht es nicht.

Schützenkönig der Wahlrechtskritiker

Ausschlaggebend kommt aber noch etwas sehr Wichtiges hinzu: Die beiden Wahlprüfungs-Beschwerden (AktenZ. 2 BvC 64/14 und 2 BvC 67/14) stellen nämlich darauf ab, dass alle 29 Ausgleichsmandate das Wahlergebnis nachträglich abändern und ein solcher Eingriff in die Souveränität des Wahlvolkes grob verfassungswidrig ist. Nicht-gewählte Abgeordnete, die lediglich ein Ausgleichsmandat bekleiden, das nachgeschoben wurde nachdem die Wahl­lokale schon geschlossen waren, um den leidigen Überhang zu kompensieren, sie können nicht durch Abstimmung des Wahlvolkes legitimiert sein und haben im Bundetags nichts ver­loren. Deshalb müssen nicht nur sieben sondern alle 29 Träger von Ausgleichsmandaten den Bundestag verlassen.

Der bekannte Wahlrechts-Experte, Hans Meyer aus Berlin, trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er von einem „verwirrenden Zweistimmensystem“ spricht. (Vgl. DÖV 2015, 700 (202, Sp. 2). Hans Herbert von Arnim aus Speyer, auch er ist ein ausgewiesener Kenner der Ma­terie, schlägt in die gleiche Kerbe und bezeichnet die Abstimmung mit Erst- und Zweitstimme mehrfach als „aberwitziges Wahlsystem“. (Vgl. Volksparteien ohne Volk, 2. Aufl, 2009, Stn: 59, 103 u. 139.) Selbst der Bundestagspräsident, Norbert Lammert, MdB, kritisierte das Ver­fahren zur Wahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages rundheraus als „abstrus“. (Vgl. „Welt am Sonntag“ v. 2.8.2015: „Der deutsche Volkskongress“.)

Damit schoss kein Geringerer als der Bundestagspräsident den Vogel ab, den der Bundestag mit seiner Hilfe großgezogen hat. So wurde er auch Präsident im Schützen­verein der Wahlrechtskritiker.

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