Der SPD-Politiker, Carsten Schneider, MdB, hält es (nach einem Bericht der NZZ v. 5.6.2020, (http://view.email.nzz.ch/?)) nicht für „schön, aber verfassungsrechtlich zulässig“, wenn direkt gewählte Abgeordnete dem Bundestag fernbleiben müssen, weil die Obergrenze von 690 Mitgliedern überschritten wurde. Der Autor der NZZ, Marc Felix Serraro, hat dagegen verfassungsrechtliche Bedenken. Die beim Verfassungsgericht in Karlsruhe seit dem 31. Mai 2019 anhängige Wahlprüfungs-Beschwerde (Aktenzeichen 2 BvC 37/19) geht darüber weit hinaus. Die Beschwerdeführer tragen fünf Gründe vor, warum das geltende Wahlrecht des Bundes, das in 19 Legislaturperioden 21 mal geändert wurde, vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben kann:
1. Das Grundgesetz verlangt in Art. 38 die unmittelbare Wahl aller 598 Abgeordneten. Tatsächlich können aber nur 299 Abgeordnete in 299 Wahlkreisen direkt gewählt werden. Der verbleibende Rest von 410 Mitgliedern des Bundestages wird nur mittelbar, also indirekt, über die Landeslisten der Parteien gewählt. Soll unbedingt mit zwei Stimmen gewählt werden, dann muss die Zahl der Wahlkreise auf 598 heraufgesetzt werden. Nur dann ist es überhaupt möglich, alle Abgeordneten mit beiden Stimmen zu wählen und die Verhältniswahl durch eine unmittelbare Wahl zu personifizieren. (Personalisierte Verhältniswahl.)
2. Das sog. „negative“ Stimmengewicht wurde vom Verfassungsgericht ohne Wenn und Aber untersagt. Es ist aber nicht verschwunden. Je weniger Zweitstimmen, umso mehr Überhänge und noch mehr Ausgleichsmandate: 2013 erlangte die CDU alle vier Überhänge und zugleich auch 13 der insgesamt 29 Ausgleichsmandate. 2017 fielen bei der SPD 3 Überhänge an. Ihr wurden nachträglich aber 19 der insgesamt 65 Ausgleichsmandate für nur 46 Überhänge zugesprochen. 2013 und 2017 war der Ausgleich sogar größer als der Überhang.
3. Das sog. Stimmensplitting ist ungesetzlich. Das Wahlgesetz verlangt in § 1 BWahlG eine „mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“. Das schließt die unverbundene, die getrennte, die gespaltene Abstimmung, also das Stimmensplitting, natürlich aus. Trotzdem gehört die gespaltene Abstimmung „contra legem“ zum üblichen Erscheinungsbild aller Wahlen seit 1953. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 konnte der Stimmzettel nur einmal gekennzeichnet werden. Deshalb gab es damals noch kein Stimmensplitting. Wohlgemerkt ist die gespaltene. Abstimmung die Hauptursache für die sog. Überhangmandate. Ohne Splitting keine oder fast keine Überhänge. – Das Stimmensplitting muss also zuerst weg!
4. Ausgleichsmandate sind besonders problematisch. Ausgleichssitze sind Zusatzsitze. Wahlen werden ausgezählt, niemals aber ausgeglichen. Wer das Wahlergebnis nach der Wahl über den Kopf der Wähler hinweg ausgleicht, der verfälscht es auch. Ausgleichsmandate sind daher grob verfassungswidrig: Mandate werden nicht von Wahlleitern errechnet, sie werden vom Volk gewählt!
5. Das Verfassungsgericht hat verlangt, „das für den Wähler kaum noch nachvollziehbare Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen“. (Vgl. BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 212, 266 (316)) – Damit ist der Gesetzgeber seit mehr als 10 Jahren im Verzug!