Personalisierte Verhältniswahl

Windschief wie der Turm von Pisa

Das duale Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme wird allgemein auch als „personali­sierte Verhältniswahl“ bezeichnet. Um das komplizierte Verfahren zu durchschauen, muss man sich die extrem asymmetrische Streuung der Direktmandate um den inten­dierten Idealwert vergegenwärtigen. Es gibt bundesweit 598 reguläre Listenplätze, aber nur 299 Wahlkreise. Dieses Verhältnis von Listenplätzen zu Direktmandaten sollte sich in etwa bei den Landesparteien der 16 Bundesländer widerspiegeln. So ist es aber nicht.

Hier klafft allerdings von vorneherein eine gewaltige Gerechtigkeits-Lücke. Niemand kann 598 Sitze durch eine vorgeschobene Direktwahl personifizieren, wenn es nur 299 Wahlkreise gibt. Die einen werden mit beiden Stimmen gewählt, die anderen nur mit einer. Außerdem unterscheiden sich die 16 Bundesländer ihrer Größe nach, und zwar beträchtlich. Das kleinste Bundesland ist Bremen. Auf den Stadtstaat entfallen 2 Wahl­kreise, er stellt aber 5 Abgeordnete. Zwei werden über die Wahlkreise und die Landes­liste gewählt. Drei weitere gelangen allein über die Landesliste in den Bundestag. Mehr als zwei Parteien können ihre Landeslisten in Bremen daher gar nicht personalisieren. Nordrhein-Westfahlen ist das größte Bundesland. Es ist in 64 Wahlkreise aufgeteilt, aber mit 128 Abgeordneten an der Summe aller Mitglieder des Bundestags beteiligt. Wie in Bremen gibt es auch in NRW nicht genug Wahlkreise. Von einer Wahl unter gleichen Bedingungen kann daher keine Rede sein.

Ströbele „allein auf weiter Flur“

Die Direktmandate sind keineswegs gleichmäßig auf die Landesparteien verteilt. Sie häufen sich vielmehr in allen 16 Ländern bei den großen, den sog. Volksparteien an während die kleinen Landesparteien nur selten oder gar keine Wahlkreis-Sieger stellen. So hat die FDP bei insgesamt 18 Wahlgängen 15mal keinen einzigen der insgesamt 299 Wahlkreise gewonnen. Bei den Grünen trug Hans-Christian Ströbele in seinem Berliner Wahlkreis „allein auf weiter Flur“ regelmäßig den Sieg davon. In den verbleibenden 298 Wahlkreisen der 15 sonstigen Bundesländer gehen aber auch die Grünen leer aus. Auf weiten Strecken findet also die personalisierten Verhältniswahl überhaupt nicht statt.

Es liegt deshalb auf der Hand, dass auch die sog. Überhangmandate nur bei den großen Parteien anfallen. Und in der Tat so ist es. Bei der letzten Bundestagswahl erlangte die CDU 191 Direktmandate (= 63,9 %) , die CSU 45 (= 15,0 %), die SPD 58 (= 19,5 %). Die Linken erzielten nur in 4 Wahlkreisen (= 1,3 %) und die Grünen nur einem einzigen (= 0,3 %) den Sieg. In vier Bundesländern (in Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und im Saarland) entstand 2013 jeweils ein Überhang – allesamt bei der jeweiligen Landes-CDU. Bei 18 Bundestagswahlen hat es noch nie einen Überhang bei einer anderen Partei ergeben als bei der CDU, der CSU und bei der SPD.

Keine überzähligen Wahlkreise

Überhangmandate sind wohlgemerkt keine überzähligen Direktmandate und schon gar nicht Mandate, die einem Wahlkreis-Sieger in Wahrheit gar nicht zustehen. Überhang­mandate können keinem konkreten Abgeordneten angelastet werden. Durch die Wahl entstehen keine überzähligen Wahlkreise mit unzulässig gewählten Abgeordneten. Die Zahl der Direktmandate bleibt von den Überhängen unberührt. Insgesamt gibt es 299 Wahlkreise und 299 direkt gewählte Abgeordnete, keinen mehr und keinen weniger. Ihnen hat der Bundeswahlleiter ohne Ausnahme bestätigt, dass sie ihr Mandat zu Recht bekleiden.

Es ist schwer nachvollziehbar, doch die Zahl der Sitze im Bundestag steigt nicht an, weil es zu viele Wahlkreise gibt. Sie steigt vielmehr an, weil ein Listenplatz von einer Landespartei errungen wurde, der es nicht gelang, auch das dazugehörende Direktman­dat zu erzielen. Bei der Landespartei mit dem Direktmandat fehlt also der Listenplatz. Das trifft zu, bedeutet aber nicht, dass die Wahl ungültig ist. Bei der Partei mit dem Listenplatz fehlt das dazugehörende Direktmandat des Landes. Aus der mit einander verbundenen Doppelstimme entstehen zwei von einander getrennte Stimmen. Die Zahl der Mandate steigt an, aber nicht auf der Seite der Direktmandate, sondern auf der Seite der Listenplätze.

Um das Maß voll zu machen ist der Erfolgswert der Erststimmen größer als der Erfolgs­wert der Zweitstimmen. Und das ist die Hauptursache für die Überhänge. Weil in den Wahlkreisen die relative Mehrheit genügt, kann man ein Direktmandat leichter errei­chen als einen Listenplatz. Und das ist der Grund, warum bei insgesamt 18 Bundestags­wahlen 14mal bei einer Landespartei mehr Direktmandate als Listenplätze entstanden sind, sich der fehlende Listenplatz verselbständigt hat und zu einer anderen Landes­partei abgewandert ist, der es nicht gelang, das dazugehörende Direktmandat zu erlan­gen. Es entsteht also ein zusätzlicher, aber systemwidriger Listenplatz, der durch die Erststimme hätte personalisiert werden sollen, aber nicht personalisiert worden ist.

Fakultatives Stimmensplitting

Zu allem Überfluss kommt hinzu, dass beide Stimmen im Verbund abgegeben werden können, aber nicht geschlossen abgegeben werden müssen. Die Wähler dürfen – jeden­falls nach herrschender Auffassung – mit der Erst- und der Zweitstimme die gleiche Par­tei begünstigen, können aber beide Stimmen auch von einander abtrennen und an verschieden Parteien vergeben. (Fakultatives Stimmensplitting) Und das wirkt gege­benenfalls wie ein Überhang-Beschleuniger. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass Über­hänge ohne Stimmensplitting möglich sind und auch vorkommen, weil der Erfolgswert beider Stimmen nicht gleich ist und man für ein Direktmandat weniger Stimmen braucht als für einen rechnerisch vergleichbar gemachten Listenplatz.

Insgesamt führt die personalisierte Verhältniswahl zu einer vollkommen asym­metrischen Personalisierung der Listenplätze durch die Direktmandate, die sich mit dem Grundsatz der gleichen Wahl einfach nicht vereinbaren lässt. Das duale Wahlverfahren, d. h. die Doppelwahl mit Erst-und Zweitstimme ist ein vollkommen windschiefes Gebilde – schiefer noch als der Turm von Pisa.

 

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