Der Gesetzentwurf v. 15.9.2020, BT-Drucks.19/22504
Der Gesetzgeber „hält am Wahlsystem der personalisierte Verhältniswahl fest“. Die Abstimmung mit Erst- und Zweitstimmen bleibt in Grundsatz erhalten (BT-DruckS 19/22505, S. 1). „Auch an der 2013 eingeführten Sitzzahlerhöhung zum Ausgleich von Überhängen wird festgehalten“ (aaO, S. 5). „Die Zahl der Wahlkreise wird mit Wirkung vom 1. Januar 2024 von 299 auf 280 reduziert“ (aaO. S. 1).
„Mit dem Ausgleich (wird) erst nach dem dritten Überhang begonnen“ (aaO. S. 1). „Durch die Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern“ will der Gesetzgeber einem weiteren Aufwuchs der Mandate entgegenwirken (aaO. S. 1). „Beim Deutschen Bundestag wird eine Reformkommission eingesetzt“. Sie soll bis zum 30. Juni 2023 Vorschläge ausarbeiten: zum Wahlrecht ab 16 Jahren; zur Dauer der Legislaturperiode; zur Modernisierung der Parlamentsarbeit; und zur gleichberechtigten Repräsentanz von Männern und Frauen auf den Landeslisten der Parteien.
Einwendungen
Bei einem Ausgleich ab dem dritten Überhang wäre es nach der Bundestagswahl von 2017 weiterhin bei 46 Überhängen geblieben. Statt 65 wären aber nur 62 Ausgleichsmandate entstanden. Zu Recht wurde das in der Aussprache über den Gesetzentwurf, die am 18.9.2020 im Bundestag stattfand, als völlig unzureichend kritisiert. Der Gesetzgeber hat gesprochen heraus kam eine lächerliche Maus.
Die Zahl der Wahlkreise soll mit Wirkung vom 1. Januar 2024 von 299 auf 280 abgesenkt werden. Zum Stichtag müssen also 19 Abgeordnete mit Direktmandat den Bundestag verlassen. Ein besonders hässlicher Missgriff, der in der zweiten Lesung unbedingt korrigiert werden muss.
Eine Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern ist und bleibt eine Willkürmaßnahme, die vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben kann, weil dadurch der Wählerwille gebeugt wird.
Es gibt 598 reguläre Mitglieder des Bundestages, aber nur 299 Wahlkreise, aus denen nur 299 Direktmandate hervorgehen können. Die personalisierte Verhältniswahl bleibt also auf halbem Wege stehen. Gleiches Recht für alle: Entweder werden alle Abgeordneten mit zwei Stimmen gewählt oder keiner. Die Zahl der Wahlkreise und der Mitglieder des Bundestages muss deckungsgleich sein. Sie ist es aber nicht.
Wer mit zwei Stimmen wählt, kann man mit der Erststimme die Zweitstimme über den Haufen werfen und umgekehrt. Um das zu verhindern, sieht das Gesetz in § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG nach wie vor eine Abstimmung „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ vor. Die Verbundabstimmung schließt die getrennte, die gespaltene, die unverbundene Wahl mit beiden Stimmen „de lege lata“ aus. Trotzdem gehört das Stimmensplitting zum Erscheinungsbild aller Bundestagswahlen seit 1953 – ein Geburtsfehler des deutschen Wahlrechts.
Das Stimmensplitting ist die Mutter der Überhänge. Wird es wirksam unterbunden und stimmt die Zahl der Wahlkreise mit der Zahl der 598 Mitglieder des Bundestages übereinstimmen, wären alle Erststimmen durch Zweitstimmen abgedeckt. Das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate wäre dann gelöst. Doch davon ist der Gesetzentwurf v. 15.9.2020 weit entfernt.
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