Wer das Wahlrecht des Bundes reformieren und dabei die typisch deutsche Doppelwahl mit zwei Stimmen soweit wie möglich erhalten will, muss die ausgetretenen „Trampelpfade“ verlassen und einen ebenso schlüssigen wie zielführenden Vorschlag vorlegen, der sich für eine parteiübergreifende Gesetzgebung eignet wie folgt:
1.) Die Praxis der gespaltene Abstimmung mit Erst- und Zweitstimme (Stimmensplitting) ist zu unterbinden.
2.) Die Zahl aller 299 Direktmandate, die es z.Z. gibt, ist auf die Gesamtzahl der 598 regulären Mitglieder des Bundestages anzuheben.
3.) Der Wortlaut des Bundeswahlrechts ist mit mehr Normenklarheit und Verständlichkeit neu zu fassen.
Begründung
Die Reform des Bundeswahlrechts (BWahlG) zur Bundestagswahl von 2013 bzw. 2017 hat zu einer untragbaren Aufblähung des Bundestages geführt. 2013 gab es 4 Überhänge. Sie wurden durch 29 nachgeschobene Aufstockungsmandate „ausgeglichen“. Der Ausgleich überstieg den Überhang um mehr als das Siebenfache. Bei der Bundestagswahl von 2017 entstanden sogar 46 Überhänge diesmal aber „nur“ 65 Ausgleichsmandate. Statt 598 hat der Bundestag 709 Mitglieder, 111 mehr als normal! Um diesen Missstand zu beenden haben alle Bundestagsfraktionen Änderungsvorschläge unterbreitet, von denen jedoch keiner beschlossen wurde.
Zu Ziff. 1
Die Praxis der gespaltenen Abstimmung mit Erst- und Zweitstimme ist zu unterbinden.
Der Grundsatz „one man one vote“ ist mit der Geschichte der Demokratie eng verbunden. In Staaten, in denen nur mit einer Stimme gewählt wird, gibt es weder Überhang- noch Ausgleichsmandate. Das typisch deutsche Verfahren ist aber die Wahl mit zwei Stimmen, den Erst- und den Zweitstimmen. Werden alle Abgeordneten zugleich mit beiden Stimmen gewählt, wie das bei der ersten Bundestagswahl 1949 der Fall war, fallen die Überhänge nicht ins Gewicht oder verschwinden sogar ganz. Nur wenn die Wähler mit der Erststimme anders abstimmen als mit der Zweitstimme, weil sie mit beiden Stimmen getrennt abstimmen können, kommt es zu den leidigen Überhängen, die aber erst seit 2013 auch im Bund durch nachgeschobene Aufstockungsmandate „egalisiert“ werden. Die Hauptursache für die Überhänge ist also die getrennte, die gespaltene Abstimmung, d.h. das sog. Stimmensplitting. Ohne Splitting keine oder fast keine Überhänge.
In § 1 Abs. 1 Satz 2 ordnet das BWahlG „eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“ an. Das schließt die unverbundene, die getrennte, die gespaltene Abstimmung natürlich aus. Das Stimmensplitting ist also schon „de lege lata“ ungesetzlich, aber niemand kümmert sich darum. 2017 gaben etwa 3,85 Mio. Wähler ihre Erststimme einem Wahlkreisbewerber, wählten seine Partei aber nicht mit der Zweitstimme. Umgekehrt stimmten 2,08 Mio. Wähler mit der Zweitstimme für die Landesliste einer Partei, wählten aber den von ihr aufgestellten Wahlkreisbewerber nicht mit der Erststimme. Das genügte – wie schon gesagt – bereits für 46 Überhänge und 65 Ausgleichsmandate.
Wenn wir mit dem gleichen Stimmzettel wählen, wie er 1949 in Gebrauch war und im Internet leicht zugänglich ist, wenn also Erst- und Zweitstimme nicht von einander getrennt werden können, sondern im Verbund abgegeben werden müssen, wäre das Problem der Überhänge praktisch vom Tisch und für Ausgleichsmandate gäbe es keinen Bedarf.
Zu 2.)
Die Zahl aller 299 Direktmandate, die es z. Z. gibt, ist auf die Gesamtzahl der 598 regulären Mitglieder des Bundestages anzuheben.
Das Bundeswahlgesetz folgt der Idee einer „personalisierten“ Verhältniswahl: Die Zweitstimme soll durch die Erststimme personalisiert werden. Der Bundestag besteht regulär aber aus 598 Mitgliedern. Es gibt z.Z. aber nur 299 Direktmandate. Es können also nicht alle Abgeordneten mit beiden Stimmen gewählt werden. Dazu ist die Zahl der 299 Wahlkreise viel zu klein. Würden alle Wähler mit der Erststimme anders wählen als mit der Zweitstimme, käme es maximal zu 299 Überhängen.
Um alle Abgeordneten ohne Splitting lückenlos mit beiden Stimmen wählen zu können, muss die Zahl der Direktmandate und der Listenplätze deckungsgleich sein. Das verlangt auch der Grundsatz der gleichen Wahl. Dieser Grundsatz lässt es nicht zu, nur 299 Abgeordnete direkt zu wählen, über den verbleibenden Rest aber indirekt, allein mit der Zweitstimme zu entscheiden.
Zu 3.)
Der Wortlaut des Bundeswahlgesetzes ist mit mehr Normemklarheit und Verständlichkeit neu zu fassen.
Grundsätzlich ist sicherzustellen, dass die gewöhnlich anzutreffenden Wähler das Ergebnis ihrer Wahlentscheidung mit zwei Stimmen hinreichend durchschauen. Kein Geringerer als der frühere Bundestagspräsident, Norbert Lammert, hatte schon beklagt, es seien überhaupt nur wenig Abgeordnete in der Lage, die Sitzverteilung im Bundestag „unfallfrei“ zu erklären.
Abschließend muss klar sein, dass die Wähler das letzte Wort haben. Haben sie es nicht, dann haben sie auch nicht das entscheidende Wort. Wer das Wahlergebnis ausgleicht, nachdem Überhänge festgestellt wurden, der verfälscht es auch. Wird den Überhängen der Garaus gemacht, verlieren die Ausgleichsmandate ihre Bedeutung, und man braucht sich darüber den Kopf nicht weiter zu zerbrechen.