Spiegel-Online zur „Mehrheitswahl“

Langsam wird es Zeit, die Systemfrage zu stellen

In Fragen des Wahlrechts hatte „Tichys Einblick“ bisher die Meinungsführer­schaft. Sie wird ihm inzwischen aber vom „Spiegel“ streitig gemacht. Jedenfalls hat Dirk Kurbjuweit, stv. Spiegel-Chefredakteur, im „Mornig Briefing“ von Spiegel-Online zur Lage in den  Koalitionsverhandlungen eine Randbemer­kung ins Netz gestellt, die aufhorchen lässt.

„In dieser Woche wird es darum gehen, ob eine Große Koalition zustande kommt, und es begann schon am Wochenende mit der nächsten Runde an Gemaule. Man muss nicht, will nicht, will nur wenn …  Klingt vertraut. Der Unterschied zu den vergangenen Wochen ist allein, dass es nicht um Grüne gegen CSU gegen FDP gegen CDU geht, sondern um SPD gegen CDU/CSU. Die Parteien haben keine Lust aufeinander, aber das Wahlsystem macht die Zusammenarbeit der Parteien notwendig, zumal immer mehr Parteien im Bundestag sitzen, nun schon sieben. Im Moment sieht das nach ewiger Großer Koalition aus, mit nachlassender Freude aneinander, mit erstarkenden Rändern. Auch das Wahlrecht muss atmen, muss sich veränderten Zeiten anpassen können. Das Mehrheitswahlrecht würde es viel leichter machen, eine Regierung zu bilden. Es ist Zeit, ernsthaft darüber zu debattieren.“ (Quelle:  Dirk Kurbjuweit, stv. Spiegel-Chefredakteur, „Mornig Briefing“, Spiegel-Online, 27.11.2017,  http://www.spiegel.de/politik/deutschland/news-grosse-koalition-angela-merkel-martin-schulz-li-keqiang-breitscheidplatz-a-1180410.html )

Zwei Bemerkungen zur Debatte:

Erstens: „Mehrheitswahlrecht“?  Soll diese Wortwahl etwa heißen, dass in anderen Wahlsystemen die Mehrheit nicht zum Zuge kommt? Und das semantische Gegenstück: die „Verhältiswahl“? Diese Wortwahl  wird allein schon durch die rabiate Sperrklausel Lügen gestraft. Denn sie sorgt dafür, dass die Parteien eben gerade nicht im Verhältnis der von ihnen erlangten Zweitstimmen in das Parlament gelangen. Die einen scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde, die anderen beschlagnahmen die dadurch frei werdenden Sitze, die nach dem Willen der Wählern für eine eine andere Partei bestimmt waren. Die fälschlich sog. „Mehrheitswahl“, also die Direktwahl der Ábgeordneten in überschaubaren Wahlkreisen kommt ohne Sperrklausel aus! Würde eine Partei nur in einem einzigen Wahlkreis gewinnen, zöge sie schon in den Bundestag ein. Wer in keinem einzigen Wahlkreis gewinnen kann, der bleibt draußen. Ein sehr großzügiger Minderheitenschutz.

Zweitens: Das K.O.-System ist im Fußball anerkannt. Dass es bei der Direktwahl nur einen Sieger pro Wahlkreis gibt, ist bei den Politikern auf dem europäischen Kontinent jedoch sehr unbeliebt. Gewiss, mit einfacher Mehrheit kann man in der absoluten Mehrheit aller Wahlkreise viel einfacher den Sieg erringen und deshalb auch leichter eine Regierung bilden als unter der fälschlich sog. „Verhältniswahl“. Aber man kann auf diesem Wege auch leichter eine Regierung stürzen. Für den Wechsel baucht man ebenfalls nur die einfache Mehrheit – natürlich immer in mehr als der Hälfte aller Wahlkreise. Es herrscht also Waffengleichheit zwischen Regierung und Opposition.

 

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