Stimmensplitting in Thüringen

Der Schlüssel zur Macht?

Die Landtagswahlen in Thüringen folgen dem bekannten Prinzip der personalisierten Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstimme, das auch bei den Bundestageswahlen und in zahlreichen Landtagswahlen anderer Länder in Gebrauch ist. Trotzdem ist dieses System ein „unbekanntes Wesen“ geblieben. Denn allzu viele Wähler sind es nicht, die es bis in alle Ecken und Winkel hinein vollständig durchschauen. Das gilt auch für die Politiker. Denn Volksvertreter stammen aus dem Volk. Wie aus einer Umfrage von „infratest dimap“ vom März 2013 hervorgeht, weiß ungefähr die Hälfte der Wähler nicht darüber Bescheid, welche der beiden Stimmen für den Wahl­sieg der Parteien ausschlaggebend ist. Und nach komplizierteren Zusammen­hängen wie Überhang- und Ausgleichsmandaten, Stimmensplitting und negativem Stimmengewicht etc. ist in der Umfrage gar nicht gefragt worden.

Deshalb realisieren die meisten Politiker nicht, was es  bedeutet, dass die AfD als Partei in Thüringen 99.545 Landesstimmen, aber nur 20.833 Wahlkreis-Stimmen erhielt und deshalb ein Transfer von 68.712 Wahlkreis-Stimmen zu einer anderen Partei entstand. Vier von fünf Wählern der AfD haben ihre Wahlkreis-Stimme dem Kandidaten einer anderen Partei zukommen lassen oder sie gar nicht vergeben.

Tabelle I / Landtagswahl 2014 in Thüringen: Stimmensplitting

Partei Wahlkreis-stimmen Landes-stimmen Landes-stimmen-Transfer Wahlkreis-stimmen-Transfer
CDU 352.051 315.104    36.945
Linke 274.936 265.428      9.508
SPD 145.634 116.889    28.745
Grüne   56.189   53.407      2.782
AfD   20.833   99.545    68.712
FDP   23.555   23.359         196

(Quelle: Landeswahlleiter und eigene Berechnungen)

Man glaubt es kaum, aber bei der FDP gibt es sogar 196 Wähler, die dem Kandidaten der Partei ihre Wahlkreis-Stimme gaben, ihrer Partei aber die Landesstimme verweigerten. Das ist deshalb so erstaunlich, weil die FDP-Wähler sich keine realistischen Hoffnungen darauf machen konnten, in einem Wahlkreis den Sieg zu erringen. Sie hätten deshalb ihre Wahlkreis-Stimme abspalten und sogar geschlossen den Kandidaten des gewünschten Koalitionspartners aus den Reihen der CDU geben können, ohne einen einzigen Listenplatz zu verlieren. Aber genau das taten die FDP-Wähler nicht. Ihre 23.555 Wahlkreis-Stimmen landeten daher alle im Papierkorb und mit den 23.359 Landesstimmen blieb sie weit unter der 5-Prozet-Hürde.

Umgekehrt ist auch bei der CDU das Verhalten der Wähler von einer verblüffenden Unkenntnis der Möglichkeiten geprägt, der FDP als denkbarem Koalitionspartner unter die Arme zu greifen. 36.945 CDU-Wähler – also mehr als ein Zehntel – gaben dem CDU-Kandidaten die Wahlkreis-Stimme, verweigerte der Partei jedoch die Landesstimme. Und das kann nur bedeuten, dass mindestens 13.586 CDU-Splittingwähler ihre Landesstimme einer anderen Partei als der FDP zukommen ließen, also mit der Landesstimme entweder die AfD oder sogar die gegnerische Koalition unterstützt haben.

Da der Wahlsieg der Koalition aus Linken, SPD und Grünen mit einem knappen Vorsprung von nur einem Sitz errungen wurde, wäre er vielleicht sogar in beiden Fällen verhindert worden: sowohl wenn die CDU-Wähler ihre Stimmen gar nicht gesplittet, als auch wenn sie mit den 36.945 Splittingstimmen geschlossen die FDP unterstützt hätten. Soviel steht jedenfalls fest: Ohne Stimmensplitting hätte gegen die CDU auf keinen Fall eine Landesregierung gebildet werden können. Dessen war sich jedoch nur ein verschwindend geringer Bruchteil der Wähler – wie auch der Politiker – bewusst. Und das erklärt die offensichtliche Unentschlossenheit und den Mangel an Strategie bei der Abstimmung zur Landtagswahl vom 14.9.2014.

Tabelle II / Landtagswahl 2014 in Thüringen: Mandate

Partei Direkt-mandate Listenplätze Ausgleichs-mandate Endergebnis
CDU 34 *)  0 34
Linke   9 18 1 28
SPD   1 11 12
Grüne   0   6   6
AfD   0 10 1 11
Summe (ist) 44 45 **) 2 91
Summe (soll) 44 44 0 88

(Quelle: Bundeswahlleiter. *) Inklusive ein Direktmandat, für das es keinen Listenplatz gibt. **) Inklusive ein Listenplatz für den es kein Direktmandat gibt.

Der FDP fehlten 23.359 Landesstimmen, um die 5-Prozent-Hürde in Höhe von 47.086 Landesstimmen zu überwinden. Die CDU erlangte 33 Listenplätze und 34 Direktmandate. Kein einziger Abgeordneter der CDU kam allein über die Liste in den Landtag. Daraus folgt, dass die CDU geschlossen mit den Wahlkreis-Stimmen gewählt wurde, und die Zweitstimmen für sie überhaupt keine Rolle spielten. Sie hätte also die 23.727 Landesstimmen an die FDP „verleihen“ oder verschenken können, um ihr über die 5-Prozent-Hürde zu helfen, ohne dadurch ein einziges der 34 Direktmandat zu verlieren. Als Folge wären jedoch Ausgleichsmandate entstanden, die sich auf alle sonstigen Parteien im Verhältnis ihrer Parteienstärke verteilen. Und die AfD ist fast doppelt so stark wie die Grünen. Ob das bei der Verteilung der Ausgleichsamandate schon zu einem Machtwechsel in Thüringen geführt hätte, mag sein, soll hier offen bleiben.

Stellt man jedoch die Sache auf den Kopf, kommt es zu einer Überraschung: Die CDU hat 33 Listenplätze erreicht. Gibt sie zwei der 34 erzielten Direktmandate an die FDP ab, weil die CDU-Wähler in zwei Wahlkreisen die Erststimme splitten und den Wahlkreisbewerber der FDP wählen, ziehen beide FDP-Kandidaten in den Landtag ein. Überhänge entstehen keine, weil die FDP zwei Listenplätze errungen hat. Es fallen also zwei Ausgleichsmandate weg: Eines bei den Linken und eines bei der AfD. Im Landtag ergäbe sich ein Patt. Die Rechnung geht  jedoch auf, wenn die CDU 3 Direktmandate an die FDP abgibt. Gegen den Willen der CDU, die unabhängig von der Zahl der der schrumpfenden Direktmandate 33 Listenplätze erreicht, kann keine Landesregierung gebildet werden und die CDU nimmt am Ausgleich der Mandate  teil, wenn bei der FDP Überhänge entstehen. Mag sein, dass eine Mehrheit für eine Koalition deshalb nicht zustandekommt, weil die CDU sich nicht mit den Stimmen der AfD wählen lässt. Doch das muss man erst einmal machen, bevor ein solcher Fall eintritt

Stimmenverzicht auf Gegenseitigkeit

Wenn die CDU im Landtag von Erfurt alleine mit der PDP  eine Koalition bilden will, muss sie tiefer in die „Trickkiste“ des dualen Wahlsystems greifen und eine Wahlabsprache treffen, die zu einen Stimmenverzicht auf Gegenseitigkeit führt. Eine Strategie, die darauf abzielt, dass bei der FDP möglichst viele Überhänge entstehen. Zum einen weil die Landesstimmen bei der FDP abgespalten werden und zur CDU wandern, zum anderen weil im Gegenzug genug Wahlkreis-Stimmen von der CDU zur FDP abfließen und dort zu weiteren FDP-Direktmandate anwachsen. Wandern auf diesem Weg 2 Listenplätze von der FDP zur CDU und 7 oder mehr Direktmandate von der CDU zur FDP, dann ist zu erwarten, dass es schon durch den Mandatsausgleich zu einem Machtwechsel kommt, Denn bei der FDP entstehen Überhänge. Sie werden ausgeglichen, wovon die stärkste Partei am meinsten profitiert. – Und das ist die CDU!

Es kommt auf die Dosierung an, sagt Paracelsius. Je entschlossener man beim oranisierten Stimmensplitting vorgeht, umso sicherer der gemeinsame Wahlsieg. Ein Trick, den sich Machiavelli hätte ausdenken können? Eine empörende Schurkerei? Ein Missbrauch der Gestaltungsformen des dualen Wahlsystems mit Erst- und Zweitstimme? Eine unzulässige Manipulation der Wahl? Nein, keineswegs! Das geltende Wahlrecht hat sich nach der herrschenden Meinung bestens „bewährt“. Das kann man überall nachlesen. Niemand will daran etwas ändern! Und niemand muss päpstlicher sein als der Papst.

Was das Verfassungsgericht in Karlsruhe dazu schon gesagt hat, und was das Verfassungsrichter des Landes dazu noch sagen werden, falls sie dazu angerufen werden, das steht auf einem anderen Blatt. Soviel ist jedenfalls klar, die Wähler dürfen nicht mit weniger Stimmen mehr Mandate herausschinden. Es darf also kein Vorteil daraus entstehen, dass eine Partei nicht mit beiden, sondern nur mit einer von beiden Stimmen gewählt wird. (Negatives Stimmengewicht) Dem sind die Verfassungsrichter in Karlsruhe mit ihrer Entschiedung v. 3.7.2008 (BVerfGE 121, 266) und vom 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) in gefestigter Rechtsprechung schon zweimal entgegengetreten. Und das werden sie auch ein drittes Mal tun. Das aber nur dann, wenn sie dazu angerufen werden. – Denn wo kein Kläger, da kein Richter.

 

 

 

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