Überzähliges Ausgleichsmandat

Harbarth und das Wahlrechts-Wirrwarr

Nachdem Stephan Harbarth aus dem Bundestag ausgeschieden ist, hat die CDU in Baden-Württem­berg ein Direktmandat verloren. Am 30.11.2018 hat Prof. Harbarth das Berliner Parlament verlassen. Zuvor war er vom Bundestag zum Verfassungsrichter und vom Bundesrat zum Vizepräsident des Ver­fassungsgerichts bestimmt worden. Die Wahl hatte sich in die Länge gezogen, weil man sich über Monate hinweg nicht einig werden konnte. Die Richterwahl ging am Ende problemlos über die Bühne, nicht so der nachfolgende Wechsel im Deutschen Bundestag.

Das Direktmandat entfällt

Der CDU-Abgeordnete, Harbarth, war 2017 mit den Erststimmen in den Bundestag eingezogen, und zwar für den Wahlkreis Nr. 277 (Rhein-Neckar), der in Baden-Württemberg liegt. Für ihn rückte am 05.12.2018 aus der CDU-Landesliste Nina Warken nach, die gleichsam von der „Reservebank“ in den Bundestag einwechselte. Mit dem Austausch des Direktmandats durch einen Listenplatz wird nicht nur das Direktmandat vakant, es fällt auch ein Überhangmandat weg. Und das geschah unter Mitwirkung des ausgeschiedenen Abgeordneten und zum Verfassungsrichter gewählten Stephan Harbarth. Abgeordneten hin, Verfassungsrichter her, wenn die Zahl der Überhän­ge sinkt, muss natürlich auch die Zahl der Ausgleichsmandate entsprechend verringert werden. – Daran denkt jedoch niemand!

Bei der Bundestagswahl erlangte die CDU in Baden-Württemberg 96 Sitze, obwohl dem Land nur ein Kontingent von 76 Abgeordneten zusteht. Insgesamt kam es zu 11 Überhangmandaten – alle bei der CDU. Sie wurden ausgeglichen, aber nicht durch 11, sondern nur durch 9 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich ist also kleiner als der Überhang. Warum das so ist, erschließt sich den Wählern nicht. Das Landeskontingent wurde trotzdem um 20 Mandate überschritten. Es sitzen also 20 Baden-Württem­berger mehr im Bundestag als dem Lande überhaupt zustehen.

Das alles ist heftiger Kritik ausgesetzt und mit dem Wahleinspruch WP 193/17 von zahlreichen Wahl­berechtigten nach Art. 41 GG angefochten worden. Das Recht auf Wahlprüfung ist ein Grundrecht, das den Wählern niemand aus der Hand winden kann. Der Schriftsatz des Wahleinspruchs steht im Internet (http://www.manfredhettlage.de/wahleinspruch-wp-19317/ ). Das Verfahren schwebt und braucht hier nicht erneut thematisiert werden.

Die Sollzahl wird unterschritten

Ausgerechnet der Wechsel von Prof. Stephan Harbarth zum Bundesverfassungsgericht spielt nun den Beteiligten des Wahleinspruchs WP 193/17 ein neues Argument in die Hand: Nach dem Ausscheiden des neuen Verfassungsrichters aus dem Bundestag gibt es im Wahlkreis 277 (Rhein-Neckar) keinen direkt gewählten Abgeordneten mehr. Denn die Nachrückerin, Nina Warken, ist über die Landesliste der CDU, d.h. über die Zweitstimmen in den Bundestag eingezogen, also nicht mit den Erststimmen gewählt worden. Das Gesetz hält in § 1 BWahlG dagegen fest, dass im Bundestag 299 direkt gewählte Abgeordnete Sitz und Stimme haben. Diese Sollzahl wird nach den Ausscheiden von Harbarth unter­schritten. Sein Direktmandat bleibt vakant.

Das Verfassungsgericht hatte in der sog. Nachrücker-Entscheidung (BVerfG v. 26.2. 1998, BVerfGE 97, 317) die sog. Listennachfolge in Überhangmandate untersagt. Darüber hat sich der Gesetzgeber bei der Reform des Wahlrechts v. 3. Mai 2013 (BGBl I S. 1082) hinweggesetzt und stattdessen die Aus­gleichsmandate geschaffen. Wird ein Direktmandat vakant, sinkt die Zahl der Überhänge, nicht aber die Zahl der Ausgleichsmandate. Und das kann es nicht sein. Mindestens ein Abgeordneter aus Baden-Württemberg muss den Bundestag wieder verlassen. Der Präsident des Bundestags, Wolfgang Schäuble, hat im Berliner Parlament für Recht und Ordnung zu sorgen. Er muss den Ab­geordneten, der ein überzähliges Ausgleichmandat bekleidet, ermitteln lassen und nachhause schicken. Das tut Schäuble aber nicht.

Schon ein Jahr zuvor hat es einen ähnlichen Fall gegeben. Dr. Carola Reimann, (SPD) hatte im Wahl­kreis Nr. 050 (Braunschweig) den Sieg errungen. Sie legte am 21.11.2017 Ihr Direktmandat nieder, war also nicht länger als zwei Monate Mitglied des Bundestages. Ihr Wahlkreis blieb vakant, weil am 23.11. 2017 Marja Liisa Völlers nachrückte, die auf der Landesliste der SPD in Niedersachsen stand und noch nicht zum Zuge gekommen war. Zwar ist auch in diesem Fall ein Direktmandat durch einen Listenplatz ausgetauscht worden. Aber die SPD blieb in Niedersachsen ohne Überhangmandat. Es gibt in diesem Fall also gar keinen Ausgleich, dem man verkürzen könnte.

Nur die Spitze des Eisbergs

Wer den Überblick über diese hochkomplizierte Materie noch nicht verloren hat, der muss feststellen dass inzwischen also zwei Direktmandate vakant sind. Die Sollzahl der 299 direkt gewählten Abgeord­neten ist also schon um zwei Köpfe gesunken. Dadurch ist aber nur ein einem der beiden Fälle ein überzähliges Ausgleichsmandat entstanden. Der Fall Harbarth ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Wahlrechts-Wirrwarr ist viel größer als es scheint. Es geht nicht nur um das eine oder andere Ausgleichsmandat, das überzählig geworden ist. Es geht um die viel tiefer gehende Frage, ob das Er­gebnis der Wahl über den Kopf der Wähler hinweg durch 65 nachgeschobene Zusatzman­date überhaupt „ausgeglichen“ werden darf. Um gar nicht davon zu reden, dass ja nur 45 Überhänge bei der Bun­destagswahl 2017 entstanden sind, der Ausgleich also den Überhang zu allen Überfluss auch noch übersteigt. Und das ist „das Tüpfelchen auf dem i“, das in dem ganzen Tohuwabohu noch gefehlt hatte.

Das Volk tut seinen Willen in der unmittelbaren Wahl seiner Volksvertreter kund. Und niemand ist be­fugt über die Sperrklausel hinausgreifend noch einmal nachträglich in das Wahlergebnis einzugreifen, es erneut zu „verbessern“ oder irgendwie „auszugleichen“.

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