Zwölf Thesen zur Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme
Das Wahlrecht findet sich in einem Dilemma zwischen Macht und Wechsel. Es soll die beste aller möglichen Regierungen dauerhaft ins Amt bringen. Sie soll aber jederzeit durch eine noch bessere Regierung austauschbar sein. Die Starken sollen herrschen, die Schwachen nicht übergangen werden: also Mehrheit entscheidet, Minderheit regiert. Die Suche nach dem berühmten „Stein der Weisen“ löst dieses Dilemma nicht. Nil perfectum sub sole. Es gibt nichts Vollkommenes unter der Sonne. Ob man will oder nicht, muss man das hinnehmen. Summum jus summa iniuria. Das perfekte Wahlrechtecht, wird zur perfekten Anarchie, in der es keine Macht für niemand gibt.
1.
Die Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimmen soll eigentlich die Nachteile die sowohl der Personenwahl in Wahlkreisen als auch der Parteienwahl mit Landeslisten anhaften, durch eine geschickte Kombination auf beiden Seiten abmildern. Doch dabei gerät man vom Regen in die Traufe. Denn es kommt zu noch größeren Ungereimtheiten und Widersprüchen: z.B. die Überhangmandate. Überhangmandate entstehen, wenn die Wähler in den Bundesländern mit den Zweitstimmen w e n i g e r Abgeordnete wählen als mit den Erststimmen und deshalb die Überhangpartei des Überhanglandes in Wahrheit nicht über die Zweitstimmen-Wahl, sondern über die Erststimmen-Wahl ins Parlament einzieht. Über die Erststimmen-Wahl gelangen somit Abgeordnete in das Parlament, die nach der ausschlaggebenden Zweitstimmen-Wahl nicht abstimmungsberechtigt sein können – eine Aporie!
2.
Der Mandatsüberhang sprengt nicht nur das Grundprinzip der Verhältniswahl, das nach § 1 BWahlG bei der Sitzverteilung im Parlament den Ausschlag geben soll. Er sprengt auch die Landeskontingente, die 2011 neu in das 19. Wahlrechts-Änderungsgesetz eingeführt wurden. Dies gilt aber immer nur für die Überhangpartei im Überhangland, die sonstigen Parteien ohne Mandatsüberhänge bleiben unberührt.
3.
Eine der Ursachen für den Überhang aller Erst- über sämtliche Zweitstimmen-Mandate ist das Stimmensplitting, das mit dem Wortlaut von § 1 BWahlG unvereinbar ist. Dort wird gefordert, dass Erst- und Zweitstimme miteinander v e r b u n d e n sind, also immer der gleichen Partei zukommen. Und das schließt die u n v e r b u n d e n e Abgabe von Erst- und Zweitstimme aus.
Beim Stimmensplitting ist genau das der Fall: Hier werden die Erststimmen für einen Wahlkreis-Kandidaten abgegeben, mit den Zweitstimmen aber eine andere, eine Konkurrenz-Partei angekreuzt, auf die man den Erststimmen-Bewerber gar nicht anrechnen kann.
Diese weit verbreitete, gleichwohl ungesetzliche Verfahrensweise, die auch als „Duldung der Bigamie“ im Wahlrecht kritisiert wurde, (Vgl. Hettlage, www.publicus-boorberg.de, Ausg. 2010.2.) ist die alleinige Ursache der negativen Stimmenmacht. Ohne Splitting gäbe es das Paradoxon nicht, dass man mit w e n i g e r Zweitstimmen in einem Bundesland einen Mandatsüberhang bei den Erststimmen produzieren und dann im bundesweiten Länder- oder Reststimmen-Ausgleich ein zusätzliches Zweitstimmen-Mandat „herausschinden“ kann.
4.
Aus gutem Grund gab es bei der ersten Bundestagswahl 1949 nur einen Stimmzettel, der nur einmal gekennzeichnet werden konnte. Das Stimmensplitting war daher ausgeschlossen. Zu einer negativen Stimmenmacht konnte es also gar nicht kommen. Der Stimmzettel wurde aber zweimal ausge- zählt. Zum einen wurden die Sieger in den Wahlkreis ermittelt, zum anderen wurde das Verhältnis der auf die Parteien entfallenden Stimmen erfasst, das auch damals schon für die Sitzverteilung im Parlament maßgebend war. – Und obwohl es gar kein Stimmensplitting gab, entstanden schon 1949 trotzdem zwei Überhangmandate, was auch heute noch ein schwer lösbares Rätsel bleibt.
5.
Überhangmandate treten aber auch bei den Landtagswahlen, z.B. in Baden-Württemberg auf, wo wie im Bund 1949 nur mit einem Stimmzettel gewählt wird, der nur einmal gekennzeichnet werden kann, aber zweimal auszählt wird: zum einem um den Sieger im Wahlkreis zu ermitteln, zum anderen um das Stimmenverhältnis der Parteien im Land zu erfassen und auf die vier Regierungsbezirke zu verteilen. Bei diesen Landtagswahlen treten regelmäßig Überhangmandate auf, die allerdings anders als im Bund durch Ausgleichsmandate kompensiert werden.
6.
Ausgleichsmandate können erst nach der Wahl vergeben werden, wenn klar geworden ist, wie viele Überhangmandate auszugleichen sind. Sie gehen daher nicht auf den unmittelbaren Willen der Wähler zurück, den sie in der Wahlhandlung auf ihren Stimmzetteln zum Ausdruck gebracht haben. Für Ausgleichsmandate gibt es überhaupt keine Stimmzettel. Und das kann es nicht sein. Sie sind daher mit dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl, wie er in Art. 38 GG niedergelegt ist, unvereinbar. Der nachträgliche, nicht vom Wähler selbst und unmittelbar vorgenommene Mandatsausgleich ist also grob verfassungswidrig.
7.
Anders als der Mandatsausgleich ist der Mandatsüberhang ein Kind der Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme, geht also sehr wohl und immer auf den unmittelbaren Willen der Wähler zurück. Würde man nach dem klassischen Prinzip „one man one vote“ nur mit einer Stimme wählen, könnte es zu Überhangmandaten gar nicht kommen, und die negative Stimmenmacht wäre ebenfalls von der Bildfläche verschwunden.
Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Die Erststimmen gelten Personen, die in Wahlkreisen gewählt werden. Die Zweitstimmen gelten Parteien, die sich mit ihren Listen in den Grenzen der jeweiligen Länder zur Wahl stellen. Beide Wahlsysteme sind grundverschieden und lassen sich nicht zu einer einzigen, in sich schlüssig Wahlentscheidung zusammenfügen.
8.
Es ist seit langem bekannt, dass die Personen- oder Direktwahl zu einer anderen Sitzverteilung im Parlament führt als die Parteien- oder Verhältniswahl. Weil für den Sieg in Wahlkreisen die relative Mehrheit genügt, und diese um so leichter errungen werden kann, je mehr Kandidaten gegeneinander antreten, ist damit zu rechnen, dass die Erststimmen-Wahl mehr Mandate erbringt als die Zweit-stimmen-Wahl. Jedenfalls war das in den bisher 17 Bundestagswahlen 13-mal zu beobachten; seit der Bundestagswahl von 1980 tendenziell sogar in deutlich zunehmendem Ausmaß. Es stand also im Bilde gesprochen auf 17 Kindergeburtstagen 13-mal w e n i g e r Apfelkuchen zur Verfügung als gleichgroße Kuchenstücke gebraucht wurden, denn es gab zu viele Kinder. Die Mutter gab daher einigen Kindern einfach Streuselkuchen-Stücke. Aber Kinder sind eigensinnig und es entstand Streit, denn Apfel- und Steueselkuchen sind nicht das Gleiche.
9.
Entstehen aus der Erststimmen-Wahl eines Landes mehr Mandate als aus der maßgebenden Zweit-stimmen-Wahl Sitze zur Verfügung stehen, dann gilt für die Überhangpartei die Personen- oder Direktwahl. Die Zahl der Sitze im Parlament entspricht dann der Zahl der gewonnen Wahlkreise, und zwar unabhängig davon, wie viele Zweitstimmen diese Partei im Überhangland erhalten hat. Für die restliche Parteien des Überhanglandes bleibt es bei der Parteien- oder Verhältniswahl. Das aber ist mit dem Grundsatz der gleichen Wahl, wie er in Art. 38 niedergelegt ist, unvereinbar. Die Parteien gelangen auf grundverschiedenen, mit einander nicht vergleichbaren Wegen in das Parlament. Aus der Sicht der Verfassung ist das zu verwerfen. (Vgl. Hettlage, ZPR 2011, S. 1 ff.)
10.
Bekanntlich gingen die Zweitstimmen der Überhangparteien vor der Reform von 2011 nicht voll- ständig unter, sondern wurden beim Länderausgleich, der 2011 abgeschafft wurde, mitgezählt. Sie entwickelten so die paradoxe „negative Stimmenmacht“, dass weniger Z w e i t s t i m m e n zu Überhangmandaten bei den E r s t s t i m m e n führen und auf diese Weise in einem anderen Bundesland ein zusätzliches Zweitstimmen-Mandat entstehen kann. Bei der neu eingeführten länderübergreifenden Reststimmen-Verwertung werden die Zweitstimmen von Überhangparteien neuerdings wieder mitgezählt. Für Überhangparteien steht die Reststimmen-Verwertung also erneut unter Verdikt der „negativen Stimmenmacht“.
Wie man weiß, kann die CSU nur in Bayern und nur von Bayern gewählt werden. Die Wahlkreis-Bewerber dieser Partei errangen 2009 mit insgesamt 48,5 Prozent der Erststimmen in allen 45 verfügbaren Wahlkreisen des Freistaates den Sieg und zogen mit 45 Abgeordneten geschlossen in den Bundestag ein. Und mehr als alle Wahlkreise kann man nicht gewinnen.
Als Partei erreichte die CSU aber nur einen Anteil von 42,5 Prozent der Zweitstimmen und das ergab 42 Mandate. Dieses Zweitstimmen-Ergebnis blieb für die Sitzverteilung ohne Bedeutung. Denn die Partei wäre auch dann mit 45 direkt gewählten Abgeordneten in das Parlament eingezogen, wenn sie keine einzige Zweitstimme erlangt hätte.
Schon allein weil eine Reststimmen-Verwertung bei einer Regionalpartei nicht in Betracht kommt, können die wohlerworbenen Zweitstimmen der CSU auf Bundesebene nirgends zugerechnet werden. Die Zweitstimmen haben also für die CSU als Überhangpartei weder irgendeine positive noch irgendeine negative Stimmenmacht. – Sie fallen einfach unter den Tisch – und das obwohl die Wähler sie ohne jeden Zweifel der CSU zukommen lassen wollten!
11.
Das Verfassungsgericht in Schleswig-Holstein hat den gordischen Knoten mit dem Schwert der Justitia durchtrennt, sowohl die Überhang- als auch die Ausgleichsmandate verworfen und Neuwahl unter einem novellierten Wahlrecht angeordnet, im dem sichergestellt ist, dass die Regelzahl der 69 Sitze im Landtag nicht überschritten wird. (Vgl. LVerfG Schleswig-Holstein v. 30.8.2010 Az. 3/09 und 1/10.) Und das ist ja das Ende der Doppelwahl mit gleichberechtigter Erst- und Zweitstimme. Es bleibt also nur die Wahl mit einer Stimme übrig, die sich auf die Personenwahl in Wahlkreisen oder die Parteienwahl mit Landeslisten richten kann.
Darüber zu entscheiden ist Sache des Gesetzgebers. Wenn er dennoch am dualen Wahlsystem festhalten will, um so die Nachteile beider Verfahrensweisen durch Kombination abzumildern, kann er sich für die Direktwahl des Staatschefs entscheiden – mit Stichwahl, falls die absolute Mehrheit verfehlt wird – und die Proportionalwahl bei den Parteien zum Einsatz bringen. Freilich kann dann der Fall eintreten, dass der Staatschef im Parlament mit einer Oppositionspartei und sogar mit einem Oppositionskabinett konfrontiert wird, was die Franzosen als „Kohabitation“ bezeichnen, aber nicht als etwas übertrieben Negatives betrachten.
12.
Bei der Doppelwahl aus Erst- und Zweitstimmen wird zusammengefügt, was nicht zusammengehört. Das duale Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme ist in seinen vielfältigen Zwecksetzungen völlig überfrachtet. Wer auf der Suche nach dem besten aller Wahlsysteme dem Grundsatz folgt: „one man, two votes“, der muss Ungereimtheiten und Widersprüche in Kauf nehmen, schon weil beide Stimmen auch als Gegenstimmen zueinander eingesetzt werden können.
Zwar gibt es das Mehrstimmen-Wahlrecht auf der Ebene der Kommunen. Dort gibt es aber keine Wahlkreise. Alle Gemeinde- oder Stadträte werden in der ganzen Gemeinde oder der ganzen Stadt gewählt. Auf größere Wahlgebiete ist das nicht übertragbar. Schon in den Großstädten wird die hohe Zahl der Stimmen und die daraus folgende Größe der Wahlzettel grenzwertig. Davon abgesehen bleibt es vollkommen abwegig, Einzelpersonen auf Bundesebene zur Wahl zu stellen. So ist ja schon das derzeitige Multistimmen-Doppelwahlrecht bei den Landtagswahlen in Bremen und Hamburg hochproblematisch, zumal dort Personen- und Parteienwahl noch hinzukommen, es also zusätzlich zwei Stimmrechtstypen gibt, was den Wahlen in den Kommunen fremd ist. Die synkretistischen Landtagswahlen in Bremen und Hamburg gleichen einem „Eier-legenden-Woll-Milch-Schwein- im-Karpfenteich“.
Das Wesen der Wahl besteht in der Auswahl. In Großbritannien könnte man keinem Wähler klar machen, welchen Sinn es haben soll, Labour und Konservative gleichzeitig zu wählen. Wer den Wählern zwei Stimmzettel in der Hand gibt, holt sich den Teufel ins Haus.