Wählen ohne zu splitten

Das Corona-Virus zieht die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Alle anderen The­men wurden dadurch an den Rand gedrängt. Immerhin hat es am 29. Januar 2020 im Deutschen Bundestag eine „aktuelle Stunde“ zum Wahlrecht gegeben. Sie hat einmal mehr gezeigt, dass die Vorstellungen der einzelnen Fraktionen sehr weit auseinander liegen. Eine Einigung auf eine Reform des geltenden Wahlrechts ist dringlich, aber nicht in Sicht.

In diesem Zusammenhang ist auf zwei Punkte hinweisen, auf die sich die Fraktionen des Bundestages am Ende vielleicht verständigen könnten: a) das Stimmensplitting und b) die Ausgleichsmandate.

Zu a) Stimmensplitting

Die gespaltene Abstimmung mit Erst- und Zweitstimme ist die Hauptursache für die sog. „Überhänge“. Sie werden seit 2013 zu Gunsten der politischen Gegner sogar überproportional „ausgeglichen“, obwohl die davon begünstigten Fraktionen in den Wahlkreisen ja verloren haben. Für diese von Wahlkreis-Verlierern bei den Listen­plätzen zusätzlich erlangten „Bonusmandate“ gibt es keinen triftigen Rechtsgrund. Außerdem hat der Gesetzgeber auch diejenigen Direktmandate ausdrücklich akzep­tiert, die nicht von Listenplätzen gedeckt sind. (Vgl. § 6 Abs. 4 Satz 2 BWahlG.)

Bei der ersten Bundestagswahl im Jahre 1949 gab es noch kein Splitting. Der Stimm­zettel konnte nach dem Prinzip „one man one vote“ damals nur einmal gekennzeich­net werden.

Im Gesetz wird das Wahlverfahren als „eine mit der Personenwahl verbundene Ver­hältniswahl“ beschrieben. (Vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG) Das schließt die unverbun­dene, die gespaltene Abstimmung mit Erst- und Zweitstimme natürlich aus. Gleich­wohl gehört das Splitting zum festen Bestandteil aller Bundestagswahlen seit 1953. Das ist schon „de lege lata“ eine schwerwiegende Missachtung des geltenden Wahl­rechts. Das Stimmenplitting kann schon vor dem geltenden Gesetz also keinen Be­stand haben und darf nicht länger hingenommen werden.

Das Splitting ist neben anderen Ursachen, zu denen auch die Grundmandats-Klausel der Fünfprozent-Hürde zählt, der Hauptgrund, warum es 1949 nur zwei sog. „Über­hänge“ gab: eines in Bremen und ein zweites in Baden-Württemberg.

Also ohne Splitting nur sehr wenige oder gar keine Überhänge.

Zu b) Ausgleichsmandate

Ausgleichsmandate gibt es im Bund überhaupt erst seit 2013. Sie sind nicht die Lö­sung sondern – zusammen mit dem Splitting – das Kernstück des Problems. 2017 gab es 46 sogenannte „Überhänge“ und 65 Ausgleichsmandate. Man reibt sich die Augen, denn der Ausgleich ist größer als der Überhang. Es gibt also 19 Ausgleichs­mandate ohne Überhang. Das sprengt den Rahmen jeder Logik.

Außerdem ist niemand befugt, nach der Abstimmung das Wahlergebnis – warum auch immer – auszugleichen. Stimmen werden ausgezählt, niemals aber „ausgegli­chen“. Wer das Wahlergebnis nach der Abstimmung über den Kopf der Wähler hin­weg ausgleicht, der verfälscht es auch. Nachgeschobene Ausgleichsmandate können vor dem Grundgesetz also keinen Bestand haben.

Ohne Stimmensplitting würde das Wahlergebnis die Sollzahl von insgesamt 598 Abgeordneten gar nicht oder nur geringfügig überschreiten. Das Bundesverfassungs­gericht hat sogar eine Obergrenze von 15 Überhängen akzeptiert. (Vgl. BVerfG vom 25.7.2012 (BVerfGE  131, 316).) Diese „bequeme“ Obergrenze wird ohne Splitting vor­hersehbar nicht überschritten. Als Folge davon wird der Ausgleich obsolet.

Was wir wirklich brauchen, ist also ein Wahlrecht ohne Splitting – d.h. eine „mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“, wie sie das Wahlgesetz verlangt. Als Folge davon werden die Ausgleichsmandate überflüssig. Auch wenn das nur ein erster Schritt sein kann, muss man nur zur Ausgestaltung des Stimmzettels zurück­kehren, wie er 1949 in Gebrauch war, um wenigstens die maßlose Aufblähung des Bundestages zu beenden.

Das kann nur ein erster Schritt sein. In einem zweiten Schritt muss danach auch die unverkürzte Unmittelbarkeit der Wahl aller Abgeordneten hergestellt werden, wie sie das Grundgesetz ebenfalls anordnet. Wie das zu geschehen hat, das steht auf einem anderen Blatt.

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