Die sog. „Sonntagsfrage“ lässt die Erststimme unbeachtet und begnügt sich mit der halben Wahrheit
„Welcher Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ So lautet die sog. „Sonntagsfrage“, die um so spannender wird, je näher der Tag heranrückt, an dem sie zu entscheiden ist. Das ZDF-Politbarometer – ein „Markenprodukt“ des Zweiten Deutschen Fernsehens – wird von der Forschungsgruppe Wahlen allmonatlich abgelesen. An Hand einer repräsentativen Stichprobe versuchen die Meinungsforscher das Wahlergebnis vorauszusagen. Das wird nur noch zweimal geschehen, dann ist der alles entscheidende Wahlsonntag da: der 22. September 2013.
Eine einzelne Stichprobe wäre wohl zu riskant, um daraus eine verlässliche Prognose abzuleiten. Aus den Monat für Monat ermittelten Zahlen kann man jedoch einen Trend ablesen: CDU und CSU pendeln bei den allmonatlichen Sonntagsfragen seit Ende 2012 um die 40 Prozent-Grenze der Wählerstimmen. Die SPD bleibt unter der Marke von 30-Prozent. 13 bis 15 Prozent der Befragten geben an, dass sie die Grünen wählen würden. Die Linken können mit mehr als 5 Prozent der Wählerstimmen rechnen. Dagegen bleibt die FDP bei der Umfrage unter 5 Prozent und würde nicht mehr in den Bundestag einziehen. Im Juli hat die Union allerdings zwei Prozentpunkte verloren und die FDP einen davon gewonnen. Die neu gegründeten „Alternative für Deutschland“, AfD, wäre hochgerechnet zum zweiten Mal mit nur 3 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert.
Der Trend ist stabil
Die Ergebnisse der Sonntagsfrage sind keineswegs volatil, wie man in der Börsensprache sagen würde. Vielmehr ist der Trend überraschend beständig. So beständig, dass eine Fortsetzung der bisherigen Koalition aus den Schwesterparteien der Union und der FDP eher unwahrscheinlich erscheint. Auch der Fraktionsvorsitzende der beiden Unionsparteien, Volker Kauder, räumt ein, dass der Koalition im Moment noch ein oder zwei Prozent fehlen. Für eine Ampel aus SPD Grünen und Linken reicht es ebenfalls es nicht.
Bleibt nur die Große Koalition oder eine Koalition zwischen den beiden Unionsparteien und den Grünen. Das ist das Szenario nur wenige Wochen vor der Wahl, das im Trend Monat für Monat bestätigt wird. Doch wie trügerisch Wahlprognosen sind, konnte man bei Landtagswahlen am 20. Januar 2013 in Niedersachsen beobachten. Vier verschiedene Meinungsforscher ermittelten im Dezember 2012 bei der Sonntagsfrage – die ja allein auf die Zweitstimmen abzielt – für die Bildung einer Koalitionsregierung im Landtag von Hannover übereinstimmend folgende Vorhersage: Die CDU pendelte um die 40-Prozent-Marke. Die SPD erreichte bei den Zweitstimmen etwa 33 Prozent. Die Grünen schwankten zwischen 12 und 15 Prozent. Die FDP konnte in Niedersachsen zuletzt im September 2012 die 5-Prozent-Hürde nehmen, danach nicht mehr. Die Linke lag in etwa auf der Höhe der FDP. Die Piraten ebenfalls.
Ein kurzer Blick zurück auf die vorangegangene Landtagswahl in Niedersachsen im Jahre 2008: Damals kam die CDU auf 42,5 Prozent, die FDP auf 8,2 Prozent der Zweitstimmen. Die Sollzahl für ein Koalition mit der FDP war damit erreicht. Die SPD erlangte 2008 dagegen nur 30,3 Prozent, die Grünen 8,0 Prozent der Zweitstimmen. Die Linke kam auf 7,1 Prozent. So konnte 2008 auch eine Dreier- oder „Ampel-Koalition“ nicht zustande kommen, durch die gegen den Willen der stärksten politischen Kraft im Lande hätte regiert werden können.
Da die Landtagswahl vom 20. Januar 2013 in Niedersachsen die letzte große Wahlentscheidung vor der Bundestagswahl am 22.9.2013 war, galt sie als Testwahl. Um so größer war die Überraschung, dass entgegen allen Wahlprognosen die CDU bei den Zweitstimmen auf 36,0 Prozent abstürzte und die FDP auf 9,5 Prozent hochschnellte. Damit hatte niemand gerechnet. Die SPD wurde mit einem Stimmenanteil von 32,6 und die Grünen mit 13,7 Prozent gewählt. Unter dem Strich wurde das Lager Schwarz-Gelb mit 46,5 Prozent sogar noch etwas besser gewählt als das Lager Rot-Grün, das nur 46,3 Prozent der Zweitstimmen erlangen konnte. Und trotzdem stellte Rot-Grün am Ende die Landesregierung. – … weil sie bei den Zeitstimmen einen Hauch schlechter abgeschnitten hat? Das kann doch nicht sein?
Die Erklärung liegt in der Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme und dem Ausgleich bei den Zweitstimmen für den Fall von Überhangmandaten bei den Erststimmen. Kurzum können Ausgleichsmandate zu einem Machtwechsel führen. Und genau das ist in Niedersachsen geschehen. Die CDU erlangte mit den Erststimmen ein Mandat mehr als mit den Zweitstimmen, und ohne das entstandene Ausgleichsmandat, das der SPD in den Schoß fiel, wäre eine andere Regierung im Amt. Nun, das Wahlsystem will es so, und damit muss man leben.
Die Erststimmen können zum Machtwechsel führen
Aber zurück zu den Wahlprognosen für den Bund. Das Politbarometer untersucht in der Sonntagsfrage die Stimmen, die für die Parteien abgegeben werden, also die Zweitstimmen. Nun gibt es aber auch die Erststimmen. Damit wird über die Kandidaten in 299 Wahlkreisen entschieden. Es kann also passieren, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielt als sie dort Listenplätze erlangen konnte: und das sind die sog. Überhangmandate. 16 Bundesländer gibt es. Und bei der Bundestagswahl 2009 entstanden in acht Bundesländern 24 Überhänge bei der Union, 3 davon bei der CSU in Bayern.
Und diese Mandatsüberhänge werden 2013 nach dem neuen Wahlrecht zu Gunsten der anderen Parteien bei ihren Listenplätzen – also bei den Zweitstimmen – ausgeglichen, und zwar ohne dass sie dafür eine einzige zusätzliche Zweitstimme aufbringen müssen. Ausgeglichen wird zu allem Überfluss auch der Länderproporz. Um so überraschender ist es, dass die Erststimmen im ZDF-Politbarometer keine Berücksichtigung finden. Die Wahlforscher ignorieren die Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme und prognostizieren nur das Zweitstimmen-Ergebnis.
Die Erststimmen ist aber für eine politische Überraschung gut. Durch den Mandatsausgleich kann es sogar zu einem Machtwechsel kommen, wie das bei der Landtagswahl in Niedersachsen ja zu beobachten war. Wollen sich die Wahlforscher nicht mit der halben Wahrheit begnügen, müssen sie in ihrer Umfragen auch die Erststimmen einschließen. Und dann wird es natürlich kompliziert. Denn man muss jetzt auch das Ergebnis der Direktwahl in 299 Wahlkreisen voraussagen, für 16 Bundesländer die möglichen Überhänge der Direktmandate gegenüber den Listenplätzen im Lande einschätzen und dann noch den Ausgleich unter den Parteien und Ländern berechnen.
Will man feststellen, inwieweit das Erststimmen-Ergebnis das Zweitstimmen-Ergebnis in den Bundesländern partiell überlagert, kommt die schlichte Sonntagsfrage allein nach der Zweitstimme nicht in Betracht. Bei den Hochrechnungen am Wahlabend geht es natürlich um beide Stimmen. Am diesjährigen Wahlabend des 20. Januars kam es in Niedersachsen deshalb zu einem Debakel. Im Wahlstudio war niemand dazu im Stande, an Hand der bereits ausgezählten Wahllokale die Zahl der Mandate für den Landtag in Hannover vorauszusagen. Die Hochrechnungen lagen weit neben der Wirklichkeit. Die Wahlforscher erlitten ihre schwerste Schlappe, seit es solche Hochrechnungen gibt. Das lag vor allem an den schwierigen Prognosen für die 87 Wahlkreisen des Landes, also an den Erststimmen.
„Vorhersagen sind schwierig, besonders wenn es um die Zukunft geht“: Ein alter Witz, den man den Statistikern gerne an die Fersen heftet. Ist es schon schwer genug, das Wahlergebnis vorauszusagen, wenn die Wähler nur mit einer Stimme wählen, wird die Vorhersage eben doppelt so schwierig, wenn sie es mit zwei Stimmen tun. Die Erststimmen können in den Bundesländern mehr Mandate erbringen als die Zweitstimmen, und zwar ohne dass die Zahl der 299 Wahlkreise im Bund ansteigt. Das wird dann – in doppelter Hinsicht unter den Parteien und nach Ländern – ausgeglichen und kann sogar zu einem Machtwechsel führen.
Bei den monatlichen Umfragen könnte man darüber vielleicht noch hinwegsehen, bei den Hochrechnungen am Wahlabend geht das nicht. Spitzenpolitiker, die sich an Hand solcher Hochrechnungen als Sieger feiern oder als Verlierer bedauern lassen müssen, sind daher gut beraten, wenn sie sich vor den Fernsehkameras zurückhalten, bis das vorläufige amtliche Endergebnis vorliegt.
Wenn die Wahlforschung zum Orakel wird
Die Wähler sind nicht gezwungen, beide Stimmen der gleichen Partei zu geben. Beim sog. Stimmensplitting ist das gerade nicht der Fall. Und die gespaltene Stimmabgabe entzieht sich schon deshalb der Wahlforschung, weil in dem für die Sonntagsfrage repräsentativ ausgesuchten Wählerkreis danach gar nicht gefragt wird. Die Sonntagsfrage muss also für beide Stimmen gestellt werden. Sie muss insbesondere auch die Folgen der sog. „Leihstimmen“ erfassen. Es muss also klar werden, wie viele unter den repräsentativ ausgewählten Befragen ihre Stimme splitten, also „ihrer“ Partei zwar die Erststimme geben, die Zweitstimme aber ganz verweigern oder an eine andere Partei „verleihen“ wollen oder umgekehrt „ihrer“ Partei die Zweitstimme geben, aber die Erststimme verweigern.
Setzt man den Fall, alle Wähler von CDU und CSU würden „ihre“ Partei nur mit der Erststimme wählen und die Zweitstimme an die FDP „ausleihen“, während umgekehrt sämtliche FDP-Wähler „ihrer“ Partei nur die Zweitstimme zukommen lassen und die Erststimme geschlossen an die beiden Unionsparteien verschenken, dann wäre der Koalition der Wahlsieg sicher. Der im Bund neu eingeführte Wahlausgleich ändert daran nichts. Bei CDU und CSU würde der Überhang zwar zu 100 Prozent ausgeglichen, die FDP würde aber von Ausgleich zusätzlich profitieren. Und das würde schon genügen.
Die Verwirrung wird perfekt, wenn man der Sache auf den Grund geht. Wie soll ein Wahlforscher den Anteil derjenigen Wähler ausfindig machen, die offenbar mehr Abgeordnete direkt gewählt haben als sie wählen dürfen? Was hat man von einem Wahlsystem zu halten, bei dem mehr Abgeordnete in das Parlament einziehen als zulässig ist, obwohl die Zahl der 299 Wahlkreis ja gar nicht ansteigt? Durch Überhangmandate entstehen ja nicht mehr Wahlkreise. Die Zahl der vorgegebenen Wahlkreise bleibt unberührt. Und wie soll man den Anteil derjenigen Wähler ausfindig machen, die für den Ausgleich der Überhänge gestimmt haben. Es ist doch nicht zu übersehen. dass die Ausgleichsmandate zustande kommen, ohne dass dabei auch die Zahl der Zweitstimmen steigt. Das wäre doch nur dann der Fall, wenn über den Ausgleich durch eine echte Nachwahl entschieden würde. Das ist aber gerade nicht der Fall.
In dieser Situation darf man sich dann schon fragen, ob es die Wahlforschung ist, die zum Orakel gerät, oder ob es das Wahlsystem ist, das einen schlichten Schaden hat. Und in der Tat sind zwei Stimmen immer auch zwei Wahlen. Und diese sind von Natur aus nicht deckungsgleich. Es ist seit langem bekannt, dass die Direktwahl zu einem anderen Wahlergebnis führt als die Listenwahl. Und wenn man mit zwei Stimmen wählt, kann man mit der einen die Regierung wählen und mit der anderen abwählen. Eine Doppelwahl mit zwei Stimmen folgt also von vorne herein einem verfehlten Denkansatz. Weil man beide Stimmen auch gegen einander richten kann, verliert die Wahlentscheidung ihre Eindeutigkeit. Es gibt aber Dinge, die vertragen keine Zweideutigkeit. Das Eheversprechen im Standesamt und die Wahlentscheidung gehören beide dazu.