Wahlrecht in Schleswig-Holstein

Wenn der Wähler nicht das letzte Wort hat

Rechtsgeschichtlich sind die Ausgleichsmandate in den Ländern entstanden. Erst viel später, nämlich mit dem 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz vom 3. Mai 2013 (BGBl I S. 1082) sind sie auch für den Bund übernommen worden – und zwar ohne Rücksicht darauf, dass das Landesverfassungs-Gericht in Schleswig-Holstein mit Urteil vom 30.8. 2010 (vgl. NordÖR 19/2010, S. 389 und S.401) schon verworfen hatte. Denn das höchste Gericht des Landes hatte den Wahlgesetzgeber dazu verurteilt, ein Landeswahlrecht zu schaffen, das „die Entstehung von Überhang- und ihnen folgend von Ausgleichsmanda­ten so weit wie möglich verhindert“.

Das Verfassungsgericht in Kiel betrachtet das duale Wahlverfahren mit Erst- und Zweit­stimme „als ein verbundenes und einheitliches Wahlsystem“ und erteilt dem Stimmen­splitting damit eine klare Absage. Denn das Verfahren schließt „ein die Grundsätze der Mehrheits- und der Verhältniswahl nebeneinander stellendes Grabensystem aus“, heißt es in den Leitsätzen der Urteilsbegründung. Auch dürfe das Landeswahl-Gesetz „die Regelgröße von 69 Abgeordneten möglichst nicht überschreiten“.

Das Urteil wurde ausgehebelt

Die Reaktion des Landtags brachte jedoch eine große Überraschung. Er änderte nicht nur das Landeswahl-Gesetz, wie das die Verfassungsrichter in Kiel das verlangt hatten. Völlig überraschend hebelten die Abgeordneten das Urteil aus und änderten auch die Landesverfassung. Sie ordnete ursprünglich an: Der Landtag besteht „aus 69 Abgeordneten“. Nach der Verfassungs­änderung heißt es jetzt: Der Landtag besteht „aus mindestens 69 Abgeordneten“. Ein Landtag mit unbestimmter Größe führt jedoch zu einer schwerwiegenden Konsequenz: Wenn die Wähler nicht genau wissen konnten, wie viele Abgeordnete sie gewählt haben, konnten sie auch nicht genau wissen, wen sie gewählt haben.

Ausgleichsmandate entstehen durch einen nachträglichen Eingriff in das Wahlergebnis. Sind die Stimmen ausgezählt, wird festgestellt, ob Überhänge entstanden und wie sie auszugleichen sind. Bei den nachgeschobenen Ausgleichsmandaten fehlt daher die Entscheidung der Stimmbürger, wer von welcher Partei ein Ausgleichsmandat erhält und wer nicht. Und das verstößt unverkennbar gegen den Grundsatz der unmittelbaren Wahl. Von der Fünf-Prozent-Hürde abgesehen ist niemand befugt, das Wahlergebnis nachträglich abzuändern. Wenn Listenplätze nachgeschoben werden, muss auch deren Wahl nachgeschoben werden. Doch daran denkt niemand.

Eingriff in das Wahlergebnis

Das Volk muss eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Das hält das Grundgesetz in Art. 38 GG nicht nur für den Bund, sondern in Art 28 GG ausdrücklich auch für die Bundesländer fest. Das Wahlrecht muss im Bezug auf die Wahlrechtsgrundsätze in Bund und Land gleichartig sein. (Homogenitätsgrundsatz) Für die klassischen Wahlrechtsgrundsätze gibt es also eine Verfassungsgarantie für die Republik insgesamt, die Bundesländer ein­geschlossen.

Gestützt auf Art. 28 Grundgesetz kann demnach das Verfassungsgericht in Karlsruhe die in Kiel beschlossene Verfassungsänderung verwerfen und das außer Kraft gesetzte Ur­teil v. 30.8.2010 wiederherstellen. Die Richter können den Bund dazu verpflichten, dafür Sorge zu tragen, dass die Ausformung des Wahlrechts in den Ländern, also auch in Schleswig-Holstein hinreichend homogen ist. (Vgl. Art. 28 Abs. 3 GG.) Volksvertreter werden gewählt, nicht ernannt. Sie können also nicht durch staatliche Instanzen in ihr Mandat obrigkeitlich eingesetzt werden, wie das bei den Ausgleichsmandaten der Fall ist. Daher kann keine Partei außerhalb der Wahl – von wem und aus welchen Gründen auch immer – einen nachgeschobenen Bonus an Mandaten erhalten.

Die Gesamtheit der Wähler hat das letzte Wort. Das Wahlvolk ist der Souverän. Es allein entscheidet selbst, unmittelbar und vor allem auch frei, wer in den Bundestag und in die Landtage einzieht und wer nicht. Die Verfassungsgarantie der Wahlrechtsgrundsätze gilt im gesamten Staatsgebiet. Für die Länder gibt es keine Ausnahmen. Wer nicht in un­mittelbarer und freier Abstimmung von den Stimmbürgern gewählt wurde, kann kein Volksvertreter sein. Eine nachträgliche Abänderung der Wahlergebnisse durch Aus­gleichsmandate ist grob verfassungswidrig.

 

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