Bundeswahlgesetz – BWahlG

Erdrückende Mängelliste

Das geltende Wahlrechts-Änderungsgesetz ist das 22. seiner Art in nur 18 Bundestagswahlen. Es gibt also mehr Änderungen als Legislaturperioden. Die Wähler stimmen nicht mit einer, sondern mit zwei Stimmen ab. Man kann also beide Stimmen auch gegeneinander richten.

  1. Das BWahlG ist durchsetzt von zahlreichen Irrtümern und Widersprüchen auf engstem Raum. Das gilt insbesondere für den neu gefassten § 6 BWahlG, der im Schrifttum als „legis­latorisches Monster“ bezeichnet wird. (Vgl. Meyer. DÖV 2015, 700.)  Man denke nur an die aus der Luft gegriffenen Ergänzungsmandate nach § 6 Abs. 7 BWahlG und den abwegigen Zweitstimmen-Abzug nach § 6 Abs. 1 BWahlG. Zur missratenen Rechtstechnik trägt u.a. bei, dass die Ausnahmen der allgemeinen Regel oftmals vorangestellt werden und dass sich in den sieben Absätzen der Vorschrift 25 Verwei­sungen auf andere Gesetzesstellen befinden. Ein Rekord an Unübersichtlichkeit, den man kaum überbieten kann.
  1. Die Sperrklausel ist 2013 „außer Kontrolle“ geraten: Bei der Bundestagswahl sind 15,7 % der Zweitstimmen an der Sperrklausel gescheitet. Das hat es in dieser Größenordnung noch nie gegeben. http://www.bpb.de/politik/wahlen/bundestagswahlen/175680/die-fuenfprozenthuerde (dort Tabelle 3). In Mandaten gerechnet sind davon 93 der 598 Plätze in Bundestag betroffen. Mehr als jeder sechste Abgeordnete sitzt also auf einem Platz, den die Wähler einer anderen Partei zukommen lassen wollten.
  1. „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ (Vgl. BVerfG v. 26.2.1998, BVerfGE 97, 317 (323)) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/1998/02/cs19980226_2bvc002896.html Gleichwohl gelangt mindestens die Hälfte der Parlamentarier nach wie vor allein über die Landeslisten der Parteien in den Deutschen Bundestag, aus denen die Wähler keine personelle Auwahl treffen können.
  1. Die 2013 neu eingeführten Landeskontingente wurden nicht eingehalten. https://www.bundeswahlleiter.de/de/aktuelle_mitteilungen/downloads/20131009_Erl_Sitzzuteilung.pdf Dem Saarland stehen z.B. 7 Abgeordnete zu. Tatsächlich sitzen aber 9 Saarländer im Bundestag. Der Freistaat Bayern darf 92 Abgeordnete in das Berliner Parlament wählen. Tatsächlich sind dort aber nur 91 Bayern anzutreffen, weil dem Land ein negatives Ausgleichsmandat angelastet wurde.
  1. Das negative Stimmengewicht trat 2013 deutlicher in Erscheinung als je zuvor. Bei der Wahl sind 4 sog. Überhängen in vier Bundesländern entstanden, alle bei einer Landespartei der CDU. Diese wurden 2013 erstmalig auch im Bund ausgeglichen, aber nicht durch 4, son­dern durch 29 Ausgleichsmandate. Davon gingen 13 an die CDU, 10 an die SPD, 4 an die Linken und 2 an die Grünen. Damit wurde die CDU als alleinige Verursacherpartei der Über­hänge zugleich auch zum größten Ausgleichsprofiteur und das verletzt das zweimalige Verbot negativer Stimmengewichte in: BVerfG v. 3.7.2008 (BVerfGE 121, 266) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2008/07/cs20080703_2bvc000107.html und BVerfG v. 25.7.20012 (BVerfGE 131, 316)  https://www.bundesverfassungsgericht.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Entscheidungensuche_Formular.html?gts=5403124_list%253Ddate_dt%252Basc&gtp=5403124_list%253D19&facettedYear=2012&language_=de .
  1. Obwohl die gespaltene Abstimmung ungesetzlich ist, gehört das Stimmensplitting „contra legem“ zum üblichen Erscheinungsbild jeder Bundestagswahl, ausgenommen die erste im Jahre 1949. Gemäß § 1 BWahlG ist die Abstimmung „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ durchzuführen. Das schließt die unverbundene, die gespaltene Abstimmung, also das sog. Stimmensplitting „de lege lata“ aus. – Doch nie­mand kümmert sich darum.
  1. Durch die 2013 auch im Bund neu eingeführten Ausgleichsmandate wird das Wahlergeb­nis verfälscht. Sie sind deshalb grob verfassungswidrig. Grundsätzlich muss über alle Manda­te abgestimmt werden, auch über die 29 Ausgleichsmandate, die 2013 entstanden sind. Werden zusätzliche Mandate nachge­schoben, muss auch die Abstimmung darüber nachgeschoben werden. Eine solche Nachwahl hat es aber nicht gegeben.
  1. Ungefähr die Hälfte der gewöhnlich anzutreffenden Wähler kann schon den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme nicht hinreichend durchschauen, um von Überhang- und Ausgleichsmandaten oder negativen Stimmengewichten gar nicht zu sprechen. (H. Gothe, Infratest dimap, April 2013: http: //www.infratest-dimap.de/fileadmin/_migrated/content_up­loads/1303_Kennt­nisErstZweitstimme_01.pdf) Dem geltenden Wahlrecht fehlt daher die unerlässliche Normenklarheit und Verständlichkeit, die das BVerfG in seiner Entscheidung v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266 (316) verlangt hat. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2008/07/cs20080703_2bvc000107.html
  1. Wahlen sind in ihrem Kern „Personenauswahl-Entscheidungen“. Vgl. Strelen/Schreiber, BWahlG, 2013, Einf., Rdnr 4. Parteien können selbst und als solche nicht Mitglied des Bun­destags und der Landtage werden, also auch nicht zum Gegenstand der Wahl gemacht wer­den. Daher steht die Personenwahl dem Grundgesetz viel näher als die Parteienwahl. Eine bloße Parteienwahl schließt das ohnhin schon aus. (Siehe oben Ziff 3.)

Würde man von der personalisierten Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstimme ablassen und zur klassischen Personenwahl mit nur einer Stimme wechseln, wäre der ganze Spuk auf einen Schlag verschwunden: keine Überhänge, keine negativen Stimmengewichte, kein Mandatsausgleich, keine vakanten Wahlkreise, keine nachträglichen Eingriffe in das Wahlergebnis weder durch Ergänzungsmandate (nach § 6 Abs. 7 BWahlG) noch durch Zweitstimmen-Abzug (nach § 6 Abs. 1 BWahlG) oder durch Sperrklauseln etc. etc.

Die Personenwahl in überschaubaren Wahlkreisen folgt dem klassischen Prinzip: „one man one vote“. Dieses Verfahren ist leicht verständlich. Es führt nur selten zu Koalitionen, in denen kleine oder kleinste Parteien über eine undemokratische Sperrminorität verfügen. Vor allem aber kommt das System ohne Sperr­klausel aus, worin kleine Parteien nur dann einen Vorteil erkennen, wenn sie daran gescheitert sind.

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