Ist das deutsche Wahlsystem das beste weltweit?
Der typisch deutsche Mischmasch aus Personen- und Parteienwahl hält der Wahlrechts-Politologe Dieter Nohlen – sogar noch in der 6. Auflage seines Buches: „Wahlrecht und Parteiensystem“ (S. 351) – für ein „Modell-Wahlsystem“, das man in alle Welt exportieren sollte. Dem stehen die zahlreichen Urteile des Verfassungsgerichts entgegen, in denen dieser vermeintliche „Exportschlager“ wegen seiner schwerwiegenden Mängel und Missstände wie negative Stimmenmacht, Überhangmandate, leer stehende Wahlkreise, Stimmensplitting, „Koalitionen von Wahlverlierern“ etc. verworfen wurde. Nach dem Urteil v. 25.7.2012 gab es zweitweise überhaupt kein gültiges Wahlrecht in Deutschland, das Nohlen hätte „liefern“ können.
Haben Sie das gewusst?
In den bisher 18 Legislaturperioden seit 1949 hat das heute geltende 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz – wie der Name schon sagt – mehr Nachbesserungen erfahren als es Legislaturperioden gab! Das 19. Wahlgesetz ist sogar zweimal aus dem gleichen Grund verworfen worden. Andere Gründe kamen noch hinzu. Das deutsche Wahlrecht gleicht also einem „Wackelpudding“ mehr als einem Gesetz.
Das Prinzip der Direktwahl in Wahlkreisen ist dagegen im Vereinigten Königreich von Großbritannien – urkundlich nachweisbar! – seit 1429 dauerhaft in Gebrauch. Im Mai 2011 hat es sogar eine Volksabstimmung gegeben, bei der sich eine große Mehrheit dafür entschieden hat, am klassischen Prinzip; „one man one vote“ – pro Kopf eine Stimme – weiter festzuhalten.
Haben Sie das gewusst?
Im Bundesgebiet gibt es 299 Wahlkreise, der Bundestag hat aber 598 Sitze. Die Hälfte der Abgeordneten kommt also nicht über die Wahlkreise in das Parlament, sondern über die Landeslisten. Diese beiden Wege sind keineswegs gleich, sondern grundverschieden. Die sog. „personalisierte“ Verhältniswahl ist von vorne herein nur eine halbe Sache, und von einer gleichen Wahl, wie sie das Grundgesetz verlangt, kann keine Rede sein.
Haben Sie das gewusst?
In 18 Bundestagswahlen seit 1949 war die Zahl der Mandate aus den Erst- und aus den Zweitstimmen nicht ein einziges Mal genau gleich groß. 14-mal kam es zu Überhängen der Erst- über die Zweitstimmen-Mandate. Nur 4-mal war es umgekehrt, und es trat der erwünschte „Normalfall“ ein. Zwei Stimmen sind aber zwei Wahlen. Und weil die Spielregeln in beiden Wahlen nicht die gleichen sind, kommt es so oder so zu Mandatsdifferenzen aus beiden Wahlen! Überhang- bzw. „Unterhangmandate“ gehören also zum System!
Haben Sie das gewusst?
Bei einem Überhangmandat kommt die Landesliste nicht mehr zum Zug. Denn alle Abgeordneten der Landespartei wurden ja in den Wahlkreisen des Bundeslandes gewählt. Die Zweitstimme ist also dort für die betroffene Landespartei entbehrlich. Die Wähler einer großen Landespartei brauchen die Zweitstimme gar nicht zu „verleihen“, sie können sie an eine kleine Partei, mit der eine Koalition gebildet werden soll, sogar komplett verschenken, ohne dass sich die Zahl der Direktmandate bei der großen Partei verändert. Der Wahlsieg ist dann nur mehr eine Frage der Dosierung.
Ähnlich wie beim sog. „Grabensystem“ würde nämlich die große Landespartei kompett nach den Grundsätzen der Direktwahl allein mit den Erststimmen und die kleine „durch die Bank“ nach den Grundsätzen der Verhältniswahl nur mit den Zweitstimmen gewählt werden. Und daraus ergeben sich für beide Parteien zusammen doppelt so viele Mandate als ohne ein solches Stimmensplitting. Einschränkend haben die Verfassungsrichter in Karlsruhe mit Urteil vom 25.7.2012 jedoch klar gemacht, dass sie mehr als 15 Überhänge auf keinen Fall länger akzeptieren. Man darf es also nicht übertreiben. 2013 hätten zwei zusätzliche Listenplätze der FDP schon genügt, um die 5-Prozen-Hürde zu überwinden. Im Saarland gibt es z.B. nur vier Wahlkreise. Dort gäbe es also keinerlei Risiko. Denn mehr als 4 Überhänge sind dort gar nicht möglich.
Haben Sie das gewusst?
Wie auch immer hat die FDP bei insgesamt 18 Bundestagswahlen 15-mal kein einziges Direktmandat gewonnen. In Wahrheit spielt für die Liberalen also die Erststimme 15-mal überhaupt keine Rolle. Von einer „personalisierten“ Verhältniswahl kann hier auf weite Strecken keine Rede sein. Die Wähler der kleinen Parteien, die nur selten, meist aber überhaupt keine Wahlkreise gewinnen, können ihrerseits die Erststimme total verschenken, um die Direktmandate der großen Partei in die Höhe zu treiben, mit der eine Koalition gebildet werden soll. Und clevere Wähler tun das mit dem größten Vergnügen. Zweitstimmen-Verzicht bei den großen und Erststimmen-Verzicht bei den kleinen Parteien? Stimmenverzicht auf Gegenseitigkeit? Bei der großen Partei sammeln sich alle Erststimmen der Wähler zweier Parteien, bei der kleinen alle Zweitstimmen von ihnen? – „Das also ist des Pudels Kern. Der Casus macht mich lachen.“
Haben Sie das gewusst?
CDU und CSU hatten 2009 zusammen 24 Überhänge erzielt, zwei direkt gewählte Abgeordnete der Union haben den Bundestag vorzeitig verlassen. Blieben 22 Überhänge. Ende der 17. Legislaturperiode wirkten also 7 Abgeordnete im Deutschen Bundestag an der Willensbildung im Parlament mit, die in den Augen des Verfassungsgericht dort nichts verloren hatten. Das Gericht hatte mit Urteil v. 25.7.2012 ausdrücklich gesagt, die Schonfrist für die Beseitigung des Missstandes wäre bereits am 30. Juni 2011 abgelaufen und nach Fristablauf gäbe es kein Pardon mehr. – Natürlich dachte selbst im Traum niemand daran, damit ernst zu machen.
Haben Sie das gewusst?
In Nordrhein-Westfalen gibt es 128 Wahlkreise. Die SPD erlangte bei den letzten Landtagswahlen 23 Überhänge. Wenn im Bund bei 299 Wahlkreisen 15 Überhänge zulässig sind, wie viele sind es dann bei 128 Wahlkreisen im Land? Die Dreisatz-Rechnung wird in der Grundschule gelehrt, und das Ergebnis ist klar: In NRW sind 6,5 Überhänge zulässig. Halbe Abgeordnete gibt es nicht. Also sind nur 6 Überhänge zulässig. Im Mai 2013 sind aber 23 Überhänge entstanden, also 17 mehr als zulässig. Daher müssen 17 direkt gewählten Abgeordnete der SPD den Landtag in Düsseldorf wieder verlassen. Ein Ausgleich in gleicher Höhe kommt nicht in Betracht. Wenn überhaupt, dann könnten allenfalls nur 6 zulässige Überhangmandate ausgeglichen werden.
Haben Sie das gewusst?
In Baden-Württemberg gibt es nur 70 Wahlkreise. Am 27. März 2011 erlangte die CDU 9 Überhänge. Wendet man den Maßstab des Verfassungsgerichts an, weil das Bundesrecht Vorrang vor dem Landesrecht hat – Art. 31 Grundgesetz: „Bundesrecht bricht Landesrecht“ – dann folgt aus dem Dreisatz für Baden-Württemberg: 299 Wahlkreise zu 15 Überhänge im Bund, das ergibt für 70 Wahlkreise in Baden-Württemberg 3,5 Überhänge im Land. Halbe Abgeordnete gibt es nicht. Ergo sind in Baden-Württemberg nur 3 Überhänge zulässig. Die CDU hat aber 9 erlangt, 3 kann sie behalten, 6 Abgeordnete müssen den Stuttgarter Landtag wieder verlassen. Natürlich tun sie es nicht.
Haben Sie das gewusst?
Sowohl in NRW als auch in Baden-Württemberg werden – ohne jede Rücksicht auf die vom Verfassungsgericht gezogene Obergrenze alle Überhänge ausgeglichen – auch die unzulässigen! In NRW gibt es sogar noch eine Besonderheit. Die 23 Überhänge, von denen nur 6 zulässig sind, wurden durch 33 Ausgleichsmandate ausgeglichen. Schwer zu glauben, aber der unzulässige Ausgleich ist noch größer als der unzulässige Überhang.
Haben Sie das gewusst?
Für Ausgleichsmandate gibt es überhaupt keine vom Wähler gekennzeichnete Stimmzettel. Eine unmittelbare Wahlhandlung des Wahlvolkes, die sich auf den Ausgleich bezieht, fehlt. Wähler sind ja keine Hellseher. Sie können in der Wahl gar nicht wissen, wie viele Überhänge entstehen. Wie sollen sie diese durch Kennzeichnung eines Stimmzettels ausgleichen? Der Überhang wird erst offenbar, wenn die Stimmzettel abgegeben und die Stimmen ausgezählt sind. Folglich kann der Wahlausgleich nicht auf den unmittelbaren Willen der Wähler zurückgeführt werden. Wahlen sind endgültig. Nach der Wahl ist niemand befugt, das Ergebnis der Wahl auszugleichen.
Nach abendländischem Demokratieverständnis entscheidet das Wahlvolk selbst, allein und frei, wer zum Volksvertreter gewählt wurde und wer nicht. Der Wahlgesetzgeber ist nicht befugt, sich über den ehernen Grundsatz der unmittelbaren Wahl hinwegzusetzen, als gäbe es den Art. 38 Grundgesetz überhaupt nicht. Und in der Verfassung kann man schwarz auf weiß nachlesen: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden (…) gewählt.“ So sieht es auch das Verfassungsgericht. Vgl. BVerfG v. 26.2.1998, BVerfGE 97, 317, (323 u 326).
In Art. 38 GG steht nicht, dass in die Wahlentscheidung irgend jemand im Nachhinein „ausgleichend“ eingreifen darf. Abgeordnete mit Ausgleichsmandat – sprich gewillkürtem Extra-Mandat – werden weder in allgemeiner, noch in unmittelbarer, noch in freier, noch in gleicher oder in geheimer Wahl gewählt. In Wahrheit werden sie überhaupt nicht gewählt. Sie werden nach der Wahl an den Wählern vorbei in das Parlament gemogelt. Man kann es daher drehen und wenden wie man will, Ausgleichsmandate sind grob verfassungswidrig!
Haben Sie das gewusst?
Fällt der Ausgleich, dann hat Grün-Rot im Landtag von Stuttgart und Rot-Grün im Landtag von Hannover keine Mehrheit mehr. Dann kommt es dort zu einem Machtwechsel zu Gunsten der CDU in Koalition mit der FDP, vorausgesetzt CDU oder FDP setzen sich durch. Denn dieser Machtwechsel muss vor dem Verfassungsgericht des Landes mit harten Bandagen erkämpft werden. Und das scheuen CDU und FDP „wie der Teufel das Weihwasser“.
Haben Sie das gewusst?
Das Verfassungsgericht hat das sog. „negative“ Stimmengewicht verworfen, und zwar zweimal nacheinander. Es dürfe nicht sein, dass mit fallender Zahl an Stimmen eine steigende Zahl an Mandaten erlangt werden könne, ganz egal wie viele Überhangmandate entstanden sind. Zwischen Stimmen und Mandaten dürfe niemals eine negative Korrelation entstehen, so das Gericht in seiner Presseerklärung v. 25.7.2012. Doch wie kann es dazu überhaupt kommen? Sehr einfach. Schuld ist das sog. Stimmensplitting. Ohne Stimmensplitting mag es weiterhin Überhangmandate geben, aber kein „negatives“ Stimmengewicht. Sind beide Stimmen an einander gekoppelt, kann eine Landespartei nicht mit weniger Stimmen für ihre Liste mehr Überhangmandate in den Wahlkreisen des Landes „herausschinden“ und umgekehrt.
Bleibt umgekehrt das Stimmensplitting bestehen, bleibt auch das „negative“ Stimmengewicht. Durch Erststimmen-Verzicht können die Wähler der kleinen Parteien, die ja gar keine Direktmandate erlangen und die Erststimme deshalb gar nicht brauchen, bei großen Partei einen Mandatsüberhang erzeugen und tun das auch. Im Gegenzug erhalten die Parteien ohne Überhang einen Mandatsausgleich. Der Erststimmen-Verzicht bei den kleinen Parteien kann also zu einem Mandatsgewinn bei den großen führen und umgekehrt. Genau diese Wahlmanipulation wollte die Verfassungsrichter in Karlsruhe unterbinden. Es fällt daher nicht besonders schwer, es vorauszusagen: Der Fall wird ein drittes Mal in Karlsruhe landen.
Haben Sie das gewusst?
Nach § 1 BWahlG werden die Abgeordneten nach den Grundsätzen „einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ gewählt. Beide Stimmen sind also im Verbund miteinander zu Gunsten der gleichen Partei abzugegen („personalisierte“ Verhältniswahl). Im schroffen Gegensatz dazu werden Erst- und Zweitstimmen – contra legem – auch unverbunden auf verschiedene Parteien verteilt (Stimmensplitting). Die unverbundene Stimmabgabe steht aber nicht nur im Widerspruch zu dem Prinzip der „personalisierten“ Verhältniswahl, sondern auch zum Wortlaut von § 1 BWahlG. Das Stimmensplitting ist mit dem Bundeswahlgesetz unvereinbar, gehört aber zum normalen Erscheinungsbild der Wahlen.
Haben Sie gewusst …
… dass man in einer Doppelwahl mit zwei Stimmen beide auch gegeneinander richten kann, also mit der einen Stimme für, mit der anderen gegen die Regierung stimmen und die Opposition wählen kann? Und das erinnert an den Witz vom „Ende der Fahnenstange“.
Nun, Sie wussten das nicht. Dann wissen Sie es jetzt.