Orakel der Moderne: das ZDF-Politbarometer

Die Meinungsumfrage ignoriert die Erststimmen

In diesen Tagen feierte man beim ZDF das 50-jährige Jubiläum seines Bestehens. Eines seiner „Markenprodukte“ ist das ZDF-Politbarometer. Es wird monatlich „abgelesen“ und gibt Auskunft über die sog. Sonntagsfrage: „Wie würden die Partei abschneiden, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“

Zwischen Erst- und Zweitstimme

Verlegte sich das Orakel der Antike auf Doppeldeutigkeiten, versucht die moderne Meinungsumfrage zu einer möglichst eindeutigen Vorhersage zu gelangen. Und in der Tat sind die jüngsten Prognosen des Politbarometers für die Bundestagswahl nur geringfügigen Schwankungen unterworfen. Schon vor dem Jahreswechsel 2012/13 zeichnete sich eine Patt-Situation ab: CDU und CSU erreichten als Partei etwa 40-Prozent der Stimmenanteile. Die FDP verfehlt die Fünf-Prozent-Hürde knapp. Die SPD blieb unter einem Anteil von 30 Prozent. Und die Grünen verharrten auf einem Niveau zwischen 13 und 15 Prozent aller auf die Parteien entfallenden Stimmenanteile.

Die klassischen Koalitionen aus Union und FDP oder SPD und Grünen würden also keine Mehrheit im Bundestag haben. Andere Konstellationen – Große Koalition, Dreierkoalition aus SPD, Grünen und der Linken oder Schwarz-Grün sind denkbar, werden aber von den Parteien, die sie bilden könnten, mit mehr oder weniger heftigem Nachdruck abgelehnt. Nun ist die Lust an der Anarchie in Deutschland weniger ausgeprägt als in Italien. Eine Große Koalition bildet daher immer noch die wahrscheinlichste Perspektive. – Doch es kann auch ganz anders kommen.

Zum Beispiel Niedersachsen

Die Wahlprognosen für die Landtagswahl in Niedersachsen v. 20.1.2013 wie für die Bundestagswahl v. 22.9.2013 wiesen verblüffende Ähnlichkeiten auf. Zwischen den klassischen Koalitionslagern entstand auch in Niedersachsen ein Patt. Auf keiner der beiden Seiten war eine Mehrheit in Sicht. Die CDU pendelte um 40 Prozent der Stimmenanteile, die FDP bleib unter der 5-Prozent-Hürde. Tatsächlich kam es aber ganz anders: Die CDU stürzte auf 36,0 Prozent ab. Die FDP schnellte dafür auf einen Anteil von 9,9 Prozent der Zweitstimmen hoch. – Niemand hatte das vorausgesagt!

Die Wähler wählen, wie sie wollen. Das dürfen sie und tun es auch. Insbesondere bei den Hochrechnungen am Wahlabend des 20.1.2013 kam es zu einem Debakel. Im Wahlstudio war niemand in der Lage, an Hand der bereits ausgezählten Wahlergebnisse die Zahl der Mandate für den Landtag in Hannover hochzurechnen und vorauszusagen. Die Hochrechnungen lagen weit neben der Wirklichkeit. Die Wahlforscher erlitten ihre schwerste Schlappe, seit es solche Hochrechnungen gibt. Das lag vor allem an den Wahlergebnissen in den 87 Wahlkreisen des Landes, also an den Erststimmen.

Es fehlt die Prognose für die Erststimmen

Aus den bitteren Erfahrungen in Niedersachsen, hat das ZDF-Politbarometer keine Lehren gezogen. Nach wie vor beschränkt sich die Sonntagsfrage allein auf den Stimmenanteil der Parteien, also auf die Zweitstimmen im Bund und ignoriert weiterhin die Erststimmen, also die Wahlergebnisse in den 299 Wahlkreisen des gesamten Wahlgebietes. Man kann aber nicht darüber hinweggehen: Auch im Bund wird mit zwei Stimmen gewählt, mit der Erststimme in 299 Wahlkreisen (Direktwahl) und mit der Zweitstimme in 16 Bundesländern (Listenwahl).

Zwei Stimmen sind immer auch zwei Wahlen. Doch das ZDF-Politbarometer nimmt darauf keine Rücksicht und ignoriert, dass es in Deutschland eine Doppelwahl gibt. In 13 von insgesamt 17 Bundestagswahlen ergab die Direktwahl mit den Erststimmen mehr Mandate als die Listenwahl mit den Zweitstimmen in 16 Bundesländern. Nur 4-mal kam es umgekehrt. Gibt es mehr Direktmandate als Listenplätze, spricht man von Überhangmandaten.

Nach neuem Wahlrecht werden Überhangmandate auch bei der Bundestagswahl ausgeglichen. Bei einem Patt kann es daher passieren, dass die Erststimmen den Ausschlag geben: Werden Überhänge ausgeglichen, fällt der Ausgleich den anderen Parteien in den Schoß und das kann sogar zu einem Machtwechsel führen. Genau das ist im Landtag von Niedersachsen passiert. Und natürlich kann sich das auch bei der Bundestagswahl am 22.9.2013 wiederholen. Wer glaubt, die Wahl am 22.9.2013 sei gelaufen und es werde zu einer Großen Koalition kommen, der kann also die gleiche Überraschung erleben wie in Niedersachsen.

 

Dieser Beitrag wurde unter Wahlrecht veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.